Viele waren entsetzt über die Bilder aus Stuttgart am Wochenende. Doch einigen Menschen bricht darüber das Herz ein bisschen mehr als anderen...
Heinz Reinboth hat den Großteil seines Lebens mit dem Engagement für ebenjene Einkaufsstraße verbracht, in der kürzlich mehrere Schaufenster eingeschlagen wurden. Im August wird er 90 Jahre alt und sprach mit watson nun über die Krawalle in seiner Herzensstadt. "Es macht mich traurig", sagt er.
1962 zieht der gebürtige Hannoveraner mit seiner Frau "zu den Schwaben", wie er sagt. Bald eröffnen sie auf der Königsstraße ein Geschäft für Damenmode: "Die ganz exquisiten Sachen." Damals sei die Straße noch eine andere gewesen. Die meisten Läden waren inhabergeführt, es gab kaum größere Ketten. Um einen gemeinsamen Arbeitskodex zu haben und eine stärkere Stimme in der Stadt, gründet Reinboth 1977 die Interessensgemeinschaft Königsstraße.
"Zum Beispiel habe ich es immer wichtig gefunden, dass die Stadt die Anbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterstützt, damit auch jeder Stuttgarter leicht in die Innenstadt kommt und bei uns flanieren kann." Sein bürgerschaftliches Engagement bringt ihm mehrere Auszeichnungen ein, doch das Gesicht der Einkaufsstraße ändert sich schleichend: Große Filialen machen auf, der kleine Einzelhandel kommt ins Schleudern.
"Ich erinnere mich noch, wie etepetete man früher sagte: 'Nee, ich kaufe nicht bei C&A oder Kaufland.' Doch nach und nach mussten die kleinen Läden weichen", erzählt er. Auch er selbst schließt seinen Laden in den 80er-Jahren, bleibt der Königsstraße aber treu, dem "großen Graben", wie er sie nennt.
Heute prägen große Einkaufszentren und Marken die Stuttgarter Innenstadt. Dazwischen sitzen junge Menschen, die "die Zeit totschlagen", so Reinboth. Schon früher habe es natürlich mal Ärger gegeben. "Es menschelt eben überall." Doch was am Wochenende eskalierte, kannte er so nicht. "Ich bin sehr traurig. Einfach, weil ich davon ausgehe, dass die jungen Menschen, die da ausflippen, ihre Zukunft durch solche Aktionen negativ beeinflussen", sagt er.
Für einen Mann, der immer in Bewegung war, sich selbstständig machte, Briefe an Ämter schrieb und bei Bürgertreffs dabei war, um die Stadt zu einem schöneren Ort zu machen, ist das völlig unverständlich.
Er glaubt, dass der Blick in die USA und die Auseinandersetzungen dort den Tätern Inspiration waren. "Den Youngstern fehlt es an Bewusstsein, um so etwas einzuordnen. Und sie haben keine Verbindung mehr zu Ämtern oder der Polizei, nur noch Skepsis." Perspektivlos herumhängende Jugendliche in Einkaufsstraßen seien "Erscheinungen, die man in allen Städten findet. Wenn Menschen in einer gewissen Armut leben, wird man diese Bilder sehen."
Verhindert werden hätte so eine Eskalation nicht, glaubt er. Reinboth hält den Polizeiapparat in Stuttgart für funktionierend. "Die streben Ordnung an und machen das eigentlich gut." Das Elternhaus der Täter, sagt er, das kann den Unterschied ausmachen. "Da werden die Weichen gestellt." Selbst hat er keine Kinder.
Dass in Stuttgart Läden eingeschmissen wurden und die Einzelhändler den Dreck aufräumen müssen, ist "einfach traurig für die Menschen, die hart arbeiten", findet er.
Vielleicht sei aber nicht nur der Respekt vor den Ämtern auf der Strecke geblieben, sondern auch der vom Wert des Einzelhandels. "Die Filialisierung hat zu einem Identitätsverlust geführt", sagt Reinboth uns. "Der Kunde hat zum Händler einfach keinen Bezug mehr. Online-Handel und große Ketten haben das ersetzt."
Trotz allem möchte er nicht, dass seine Stadt als Problem wahrgenommen wird. "Wohnen und Leben kann man in Stuttgart gut", sagt er. Den Stuttgarter Krawallen solle man nicht zu viel Gewicht geben, am Ende sei das alles temporär.
Inzwischen sitzt Reinboth im Rollstuhl und kann nicht mehr viel raus, seine Ehefrau starb im April dieses Jahres. Aber er freut sich auf seinen Geburtstag und engagiert sich weiter, wo er nur kann. "Ich muss nach mehreren Schlaganfällen jetzt viel liegen", sagt er. "Aber mein Kopf ist klar."