Pflegenotstand. Ein Wort, das in aller Munde ist – und das nicht erst, seitdem Jens Spahn Gesundheitsminister ist. Doch die Forderungen nach einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen, nach mehr Anerkennung und einer attraktiveren Bezahlung von Pflegekräften werden immer lauter.
Stefan Heyde ist gelernter Krankenpfleger, arbeitet auch in der Altenpflege. Er setzt sich seit Jahren für eine Reform der Pflege ein und hat die Protestaktion "Pflegekräfte in Not gestartet".
Wir haben mit ihm über den Zustand der Kranken- und Altenpflege gesprochen:
watson: Wie war der Zustand der Pflege, als Sie vor 13 Jahren angefangen haben?
Stefan Heyde: Der war schon während meiner Ausbildung schlecht und seitdem hat sich
die Pflege stetig verändert – und das immer mehr zum Negativen. Zu Beginn meiner
Ausbildung habe ich in der Schule beigebracht bekommen, dass ich für die Grundpflege
eines Patienten im Krankenhaus zwei Stunden Zeit habe. Das ist allerdings inklusive der Vor- und Nachbereitung. Für die eigentliche Pflege des Patienten bleibt davon theoretisch noch gut eine Stunde über.
In der Praxis war schnell klar, dass das bei 20 Patienten, die ich zu betreuen hatte, nicht möglich
ist.
Und wie hat sich der Zustand im Laufe der Zeit verändert?
Im Krankenhaus ist es so, dass wir immer weniger Zeit für die Patienten haben und das Personal über die Jahre auch immer stärker abgebaut wurde. Wenn ich mir meinen Kurs anschaue, dann sind die wenigsten von denen, die mit mir damals den Abschluss gemacht haben, noch in der Pflege. Es gibt einige, die sitzen lieber in einem Supermarkt an der Kasse, als weiter in der
Pflege zu arbeiten. Einige Kollegen haben sogar noch einmal eine andere
Ausbildung gemacht.
Sie arbeiten auch in Seniorenheimen. Wie erleben Sie die Situation dort?
Dort ist es noch extremer. In der Altenpflege gibt es weniger Fachkräfte. Altenpfleger werden immer häufiger durch ungelernte Helfer ersetzt. Hinzu kommt, dass die Heime noch öfter als Krankenhäuser zunehmend darauf ausgerichtet sind, Gewinn zu erzielen. Das wird erreicht, indem
die Größe eines Wohnbereichs in einem Heim bis zum Maximum ausgereizt wird – das sind
dann 30 bis 40 Bewohner im Schnitt.
Nachts ist das ein besonders großes
Problem: Es kommt nicht selten vor, dass eine Fachkraft und ein Helfer 120 Bewohner betreuen müssen. Die Fachkraft hat dann die Aufsicht über den
Helfer und muss die Menschen im Auge behalten.
Ist das nur nachts so oder auch tagsüber?
Nachts ist es besonders schlimm. Aber ich kenne auch Häuser, in denen im Frühdienst oder im Spätdienst nur eine Fachkraft da ist – bei über 100
Bewohnern. Oder es gibt gar keinen Spätdienst, weil Fachkräfte zu teuer sind
und dann macht der Frühdienst einen doppelten Dienst.
Wo fehlt die Zeit konkret?
Es gibt eine Pflegeplanung. Das sind Expertenleitlinien, die auf dem
Sozialgesetzbuch basieren. Darin ist alles aufgeschrieben, was die Pflege
machen soll, von Toilettengängen über Mobilisierung bis hin zu
Prophylaxen.
Abgesehen vom Zeit- und vom Fachkräfteproblem. Welche Probleme gibt es in der Pflege noch?
Ich selbst war irgendwann kurz vorm Ausstieg aus dem Beruf. Damals habe ich
beschlossen, dass sich etwas ändern muss. Zunächst habe ich deshalb eine Petition gestartet.
Das hat aber nicht gereicht, also habe ich die Protestaktion "Pflegekräfte in Not" geschaffen.
Viele haben auch Probleme mit Fehlern, die aufgrund des Zeitmangels passieren. Ich merke auch, dass es nicht nur mir so geht, sondern, dass vor allem in der Altenpflege immer mehr Fachkräfte abwandern, weil die Arbeitsbedingungen immer schlechter werden.
Gesundheitsminister Jens Spahn hat angekündigt, 13.000 neue Stellen in
der Altenpflege zu schaffen. Was sagen Sie dazu?
Auf alle Einrichtungen herunter gerechnet ist das nicht einmal eine
Kraft pro Haus. Das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Ich kann mich
auch hinstellen und sagen, dass ich eine Millionen neue Pflegekräfte haben will.
Eine Zahl ist schnell genannt.
Wie stehen Sie generell zu Jens Spahn und seinen (angedachten)
Änderungen?
Was er macht, ist ein ein bisschen Aktionismus. Vorher hatten wir ja
Herrn Gröhe und er hat das Thema Gesundheit und Pflege ausgesessen. Jens Spahn
ist als Gesundheitsminister wenigstens greifbar und dadurch auch
angreifbar. Er stellt sich auch zumindest ab und an der Kritik. Ich finde seine Ansätze aber falsch. Das Problem liegt
im Gesundheitssystem selbst.
Was heißt das?
Das Gesundheitssystem, das wir jetzt haben, hat sich seit Mitte der
90er immer stärker privatisiert. Der Gedanke, dass Gesundheit und Pflege
wirtschaftlich sein und alles damit auf einen Gewinn hinauslaufen muss, war in meinen
Augen ein Knackpunkt. Seitdem nehmen die privaten Investoren zu und die schauen sich an, was sich finanziell lohnt.
Das betrifft im Krankenhaus zum Beispiel
Fachstationen, die geschlossen werden, weil nicht alle Betten über einen
bestimmten Zeitraum belegt sind. Oder eben die komplette Betreuung rund um
Operationen. Ein privates Krankenhaus operiert zwar eine Hüfte bei einem
älteren Menschen, aber mit der OP ist alles abgeschlossen. Die Nachsorge –
also, wie er wieder mobil wird etwa – bleibt da auf der Strecke. Für die
langfristige Pflege muss der Patient dann in ein öffentliches Krankenhaus.
Wie wirkt sich die Privatisierung in den Seniorenheimen aus?
Die fitten Omas, die fröhlich um den Maibaum tanzen, die gibt es nur in den Werbevideos der Träger. Denn Fakt ist:
Dadurch spielt man schwach gegen schwächer aus. Sprich die Bewohner und ihre Angehörigen auf der einen Seite, die schon mehr zahlen, und die Pflegekräfte auf der anderen Seite, die trotzdem nicht zwingend mehr Zeit für den Patienten haben. Ein System, das dann zu Klagen von Seiten der Angehörigen führt, ganz nach dem Motto: "Er hat doch schon die höchste Pflegestufe und ihr kümmert euch trotzdem nicht drum."
Das ganze System ist wie ein rissiger Ballon mit ganz vielen Löchern und
wir kleben seit Jahren immer nur Pflaster drauf, flicken die Löcher aber nicht.
Im zweiten Teil des Interviews sprechen wir mit Pfleger Stefan Heyde über Lösungsvorschläge und die geplante Reform der Ausbildung. Teil 2 des Gesprächs könnt ihr in den kommenden Tagen auf watson.de lesen.