New York war vor ein paar Wochen noch der Hotspot des Corona-Geschehens in den USA. Inzwischen hat sich die Lage dort wieder beruhigt. Brennpunkt sind mittlerweile andere Regionen, besonders im Süden der USA.
Nils Hennig erlebte die Epidemie in New York mit 20.000 Toten an vorderster Front. Der deutsch-amerikanische Arzt ist am Mount-Sinai-Krankenhaus tätig. Im Interview mit watson berichtet der Experte für Infektionskrankheiten von der aktuellen Lage in New York, beurteilt das Krisenmanagement der Trump-Regierung und erklärt, warum Deutschland sich die aktuellen Lockerungen zwar leisten kann, aber dennoch weiter auf der Hut bleiben sollte.
watson: Vor ein paar Wochen war New York noch der Corona-Hotspot in den USA. Das hat sich jetzt geändert, richtig?
Nils Hennig: Ja, allerdings. Die Lage in New York verbessert sich schon seit einiger Zeit. Die Hotspots sind jetzt im Südosten und Südwesten, in Florida, Arizona, Texas und Südkalifornien.
Das heißt, Sie können jetzt wieder normaler arbeiten?
Die Lage in unserem Krankenhaus ist sehr viel besser. Die erste Aprilhälfte hatten wir über 2000 Corona-Patienten. Damals behandelten wir eigentlich nur noch Corona-Patienten. Mittlerweile haben wir knapp unter 50 Corona-Patienten und fahren die normalen Krankenhaus-Leistungen wieder hoch. Jetzt sehen wir hauptsächlich wieder andere Patienten, nicht mehr nur Corona-Erkrankte. Wir konnten die zusätzlichen Betten abbauen, die auf unseren Fluren, in der Eingangshalle und in unserer Cafeteria standen. Dieser Notstand ist zum Glück beendet. Wir beginnen auch langsam wieder mit Nicht-Corona-Forschung.
Sie haben die Lage also wieder im Griff?
Da muss man natürlich immer sehr vorsichtig sein. Wir haben immer noch Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Viele Patienten, die wir vorher persönlich gesehen haben, behandeln wir jetzt mit Telemedizin. Aber wir haben in den letzten Monaten viel gelernt und wären auch auf eine zweite Welle besser vorbereitet.
Wie konnte das Virus in New York erfolgreich bekämpft werden?
Mit dem Wort 'erfolgreich' wäre ich sehr vorsichtig. Über 20.000 Tote in New York City würde ich nicht als Erfolg bezeichnen. Das war und ist großes menschliches Leiden und Trauer. Was aber letztlich doch, wenn auch spät, gegriffen hat, waren wohl die folgenden Maßnahmen: Dass die Geschäfte geschlossen waren, dass die Leute zu Hause bleiben mussten, dass die Schulen geschlossen wurden, dass im Grunde das gesamte wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben zum Erliegen kam. Dass die Leute ihre Kontakte beschränkt haben und wenn sie rausgegangen sind, dies nur mit Maske taten.
Diesen Lockdown gab es ja auch in den Staaten, die jetzt so stark betroffen sind.
Teilweise. Aber wenn diese Maßnahmen zu früh wieder aufgehoben werden, dann steigen die Zahlen. Man kann diese Maßnahmen lockern, wenn die Fallzahlen und Krankenhausneuaufnahmen nachhaltig über einen längeren Zeitraum zurückgehen, man die Lage im Griff hat und mögliche neue Infektionsketten zurückverfolgen kann. Aber in Florida und Arizona wurde der Lockdown aufgehoben, bevor das der Fall war. Es ist kein Wunder, dass die Infektionszahlen im Süden der USA so hochschnellen.
Haben Sie Kontakt zu Ärzten in den besonders betroffenen Bundesstaaten?
Ja, ich höre zum Beispiel von Kollegen aus Houston, Texas. Die Kollegen durchleben jetzt ähnliches, was uns vor Monaten widerfuhr, so hört es sich zumindest an. Dort sind die Krankenhäuser und Intensivstationen bald am Rande ihrer Kapazitäten angelangt. Die Covid-19 Patientenzahlen steigen weiter.
Die Zahl der Schwerstkranken und die Todesfallrate sind allerdings noch relativ niedrig. In New York haben wir aber gesehen, dass die Todesfälle den Infektionszahlen mindestens zwei Wochen oder auch sogar mehr hinterherhinken. Ich befürchte, das wird im Südosten und anderen Teilen des Landes ähnlich sein: Dort gibt es jetzt hohe Infektionszahlen, die hohen Todeszahlen stehen aber noch bevor.
Wie beurteilen Sie das Krisenmanagement in den USA insgesamt?
Die USA haben im Kampf gegen Corona zwei riesige Probleme. Das eine ist, dass zurzeit ein Wahljahr ist. Und das andere, dass das Gesundheitssystem in Amerika einfach arg fragmentiert ist. Jeder Bundesstaat und sogar jedes Krankenhaus war auf sich allein gestellt.
Was heißt das genau?
Im Grunde waren die Krankenhäuser im Wettkampf um die notwendigen Bestände an Masken, Schutzkleidung und Beatmungsgeräten. Das wurde nicht zentral koordiniert. Das hat natürlich leider dazu beigetragen, dass in Gegenden, in denen ärmere Leute wohnen und die Krankenhäuser weniger Geld haben, diese Einrichtungen weniger Ressourcen hatten.
Es besteht also ein Konkurrenzkampf?
Einige Krankenhäuser wie Mount Sinai, wo ich arbeite, hatten wohlhabende Aufsichtsratsmitglieder und Spender, die geholfen haben, dass wir auch auf dem Höhepunkt der Pandemie in New York meist alle nötigen Materialien hatten. So konnten wir Patienten versorgen und das Personal schützen.
Das Glück hat aber nicht jeder. Zudem stehen nicht nur die Krankenhäuser gegeneinander, auch jeder einzelne Bundesstaat macht das etwas anders. Ein Bundesstaat verordnet wegen der gesundheitlichen Notlage einen Lockdown, ein anderer aus politischen Gründen aber nicht. In einigen Bundesstaaten müssen in der Öffentlichkeit Masken getragen werden, in anderen, wieder aus politischen Gründen, aber nicht.
Das erschwert die Virus-Bekämpfung sicherlich.
Wenn es nicht einen gut durchdachten, zentral koordinierten Ansatz der Epidemie-Bekämpfung gibt, werden über Zeit die Erfolge, die es in Teilen des Landes gab, wieder rückgängig gemacht. Der Süden der USA brennt mit neuen Infektionszahlen, aber andere Regionen machen wieder auf. Das kann meiner Meinung nach nicht gutgehen. Ein Grund dafür ist das für einige Bevölkerungsgruppen unzulängliche Sozialsystem.
Menschen ohne Arbeitslosenversicherung und Ersparnissen fehlt die Lebensgrundlage, wenn sie nicht das Haus verlassen und arbeiten. Zudem sind da die Tagelöhner, mit Jobs, für die man das Haus verlassen muss. Die haben keine Arbeitslosenversicherung. Man kann ihnen zwar sagen, ihr dürft nicht rausgehen und arbeiten, aber sie müssen ja trotzdem rausgehen und Geld zum Überleben für sich und ihre Familien verdienen. Ein Lockdown muss man sich leisten können. Das trägt natürlich auch dazu bei, dass die Epidemie weitergeht.
Und der Wahlkampf spielt auch eine Rolle, meinen Sie?
Sicher. Viele Entscheidungen werden nicht gefällt, weil sie gesundheitspolitisch am meisten Sinn machen, sondern weil sie zum Wahlkampf passen. Da Trump für seine Wiederwahl die Wirtschaft rasch wieder ankurbeln möchte, wird sie eben hochgefahren, trotz steigender Todeszahlen. In Oklahoma hat die Regierungspartei bei einer Wahlkampf-Veranstaltung die Sticker von den Sitzen entfernen lassen, die zu Social Distancing aufgefordert haben: Damit die Leute enger beisammensitzen und es im Fernsehen besser aussieht. Trump hat monatelang keine Maske getragen, eine Regierung hat natürlich auch Vorbildfunktion. Und die wurde überhaupt nicht erfüllt. Das ist auch ein Grund, warum wir in den USA die Pandemie derzeit nicht in den Griff bekommen.
Wie schätzen Sie die Arbeit von Anthony Fauci ein, quasi dem amerikanischen Drosten?
Der kann einem leidtun. Ich halte ihn für kompetent. Er versucht in einer unmöglichen Regierung trotzdem das Richtige zu machen. Die Leute, die unbequeme Wahrheiten sagen, werden unter der jetzigen Regierung ja leider zu häufig gefeuert. So versucht Fauci eine Gratwanderung zu machen. Persönlich denke ich, es ist zu wenig, wenn der Präsident am Rednerpult steht und gefährlichen medizinischen Schwachsinn erzählt, nur dahinterzustehen und Grimassen zu ziehen. Da muss man auch mal klar widersprechen und Unwahrheiten beim Namen nennen.
Hat er denn eine Wahl?
Fauci versucht gleichzeitig Trump zu beschwichtigen und das Land ehrlich über das Coronavirus zu informieren. Ich verstehe sein Dilemma. Aber ich denke, dass man als Verantwortlicher mehr machen muss. Andererseits darf man aber auch nicht vergessen: Er ist ja nicht mal der Chef des Centers for Disease Control and Prevention (CDC). Eigentlich wäre es ja die Aufgabe von Robert Redfield, dem Direktor des CDC oder von Jerome Adams dem United States Surgeon General (operativer Leiter des US Public Health Services, Anm.) zu sagen, was falsch ist und was richtig. Aber von denen hört man wenig.
Woran liegt das?
Das ist leider die Folge davon, dass Trump Ja-Sager um sich geschart hat. Fauci ist da anders und macht meiner Meinung nach schon die beste Figur. Ich würde mir wünschen, dass er noch mehr den Mund aufmacht, aber ich kann verstehen, dass er denkt, wenn er das tut, wird er gefeuert – und dann ist gar niemand mehr da.
In Deutschland machte die Meldung, dass die Trump-Regierung fast alle Bestände des Medikaments Remdesivir aufgekauft hat, Schlagzeilen. Wie schätzen Sie diesen Wirkstoff ein?
Bei uns im Krankenhaus haben wir an der Forschungsstudie teilgenommen und setzen bei der Behandlung von Patienten Remdesivir ein. Im Grunde haben wir dabei gesehen, dass es die Krankheitsdauer verkürzt, die Leute erholen sich schneller. Es ist aber nicht klar, ob es die Überlebenschancen erhöht.
Und wie beurteilen Sie das Vorgehen der US-Regierung?
Wenn irgendwann Impfstoffe verfügbar sind und ein einzelnes Land den gesamten Bestand aufkauft, wäre das schlimm. Es zeigt eben, dass die Trump-Regierung bereit ist, andere Länder zu überbieten. Ich denke, auch das hat mit der Wahl im November zu tun. Er möchte seinen Wählern zeigen, ich bin für euch da. Ich kaufe alle Medikamente für uns auf – "America First". Letztlich will er damit davon ablenken, dass er andere Sachen nicht gemacht hat.
In Deutschland denken viele inzwischen, die Pandemie sei vorbei, andere fürchten sich vor einer zweiten Welle. Was denken Sie über die Lage hier?
Erstmal muss man bei Corona immer sagen: Man weiß es nicht. Es gibt einfach zu viele Sachen, die noch nicht bekannt sind. Dann muss man sagen, dass Deutschland die Situation besser im Griff hat, was daran liegt, dass das Gesundheitssystem nicht so fragmentiert ist und die Kapazitäten besser sind.
Also sind die Lockerungen gerechtfertigt?
Man kann verstehen, dass das Land jetzt wieder geöffnet wird und die niedrigen Fallzahlen rechtfertigen das auch. Es gibt zwar immer mal wieder Ausbrüche wie bei Tönnies, aber solange man darauf reagieren, Infektionsketten zurückverfolgen, Infizierte isolieren und Kontakte in Quarantäne schicken kann, dann geht das. Man muss eben die Kapazitäten und den gesundheitspolitischen Willen dazu haben. Allerdings wäre es fahrlässig, sich nicht auf eine zweite Welle vorzubereiten. Am Mount Sinai Krankenhaus tun wir das. Zur Vorsicht rate ich vor allem beim Zusammensein von vielen Menschen auf engem Raum, gerade in Clubs und Discotheken.
Was beunruhigt Sie noch?
Allgemein sorge ich mich vor allem um die Folgen für Länder mit schwächeren Gesundheitssystemen und um Bevölkerungsgruppen, die ohnehin in einem prekären Umfeld leben – wie Obdachlose, Menschen in Flüchtlingslagern oder von Konflikten betroffene Bevölkerungsgruppen.
Und als Kinderarzt macht mir eine Beobachtung besonders Sorgen: Wir sehen bei einigen Kindern, die sich infiziert haben, nach überstandener Erkrankung Symptome wie Bauchschmerzen, niedrigen Blutdruck, Herzmuskelentzündung und Lungenödem. Vereinzelt mussten junge Patienten für einige Zeit an eine Herzlungenmaschine. Es gibt auch Todesfälle.
Was könnte dahinter stecken?
Es sieht wie eine Überreaktion des Immunsystems auf eine überstandene Corona-Infektion aus. Es ist eine Erkrankung, die wir noch nicht ganz genau verstehen, aber wir müssen uns wohl auf steigende Fallzahlen vorbereiten.