Die alleinerziehende Vierfach-Mutter, die die Stütze für falsche Nägel ausgibt oder der faule Frührentner, der lieber in Flachbildschirme investiert, auf der Couch sitzt, Kaffee aus viel zu großen Kannen pumpt und mit vergilbten Fingerspitzen Zigaretten dreht.
Mit derartigen Klischees über Hartz-IV-Empfänger kann Bettina Timm nichts anfangen. TV-Formate, die solche Bilder zeichnen, schürten Hass, sagt sie. "Hartzer sind Untermenschen" sei die Botschaft dahinter.
Bettina Timm ist anders hineingeraten. In das System Hartz IV.
Die 60-Jährige hat viele Jahre in einer Fotoredaktion gearbeitet. In dieser Zeit verdient sie gut, arbeitet sich hoch, Sechs-Tage-Wochen sind die Regel, sagt sie. Dann sei ihr Lebensgefährte überraschend verstorben. Sie braucht einen Tapetenwechsel, kündigt und geht zwei Jahre in die USA. Von dort zieht sie weiter nach Hongkong und verdient ihr Geld als Übersetzerin. Nach zehn Jahren kehrt sie nach Deutschland zurück, fängt in einem Verlag an. Timm hat keine Kinder, sie will Karriere machen, frei sein, unabhängig, von Mann und Familie.
Dann werden ihre Eltern krank. Sie kündigt ihren Job und pflegt sie über zehn Jahre. Als die Eltern sterben, ist Bettina Timm bereits 50 Jahre alt. "Das hat meine letzte Kraft gekostet", sagt sie. Einen Job findet sie danach nicht. Sie lebt zunächst von Ersparnissen. Doch irgendwann sind auch die aufgebraucht. Timm hat mehrere Hörstürze, braucht Hörgeräte, ist zu 50 Prozent schwerbehindert. Und muss sich eingestehen: "Ich brauchte jetzt Hilfe."
2009 beantragt sie dann zum ersten Mal Hartz IV. Dabei habe sie immer gearbeitet und sich nie etwas zu Schulden kommen lassen, sagt sie. "Trotzdem bin ich in Hartz IV."
Und sie bekommt Ärger mit dem Amt.
Das erste Mal im November 2018. Timm ist gerade umgezogen. In eine neue Wohnung in der Lüneburger Heide. In ihrer alten Wohnung sei sie von Hausbewohnern gemobbt worden, sagt sie.
Sie informiert das Jobcenter bereits im September, schreibt einen sehr ausführlichen Brief, in dem sie die für sie unerträgliche Wohnsituation und ihre Seelenlage schildert.
Unterdessen wird sie selbst aktiv, geht auf Wohnungssuche, bekommt die Zusage für eine kleine 40-Quadratmeter-Wohnung, organisiert und bezahlt den Umzug und ist heilfroh, in ihrer Situation überhaupt etwas gefunden zu haben.
Kaum eingezogen, bekommt sie plötzlich kein Geld mehr für die Miete vom Amt. Dafür aber einen Brief. Das Jobcenter lehnt den Umzug ab.
Die Begründung: Mobbing sei schlicht kein Umzugsgrund.
Außerdem sei der neue Wohnraum nicht angemessen. Das Amt rechnet vor: Der Miethöchstsatz in der Gemeinde für eine Person liege bei 434 Euro. Die neue Wohnung allerdings koste monatlich 385 Euro zuzüglich Heizkosten in Höhe von 80 Euro.
31 Euro zu viel also.
Dabei hat sich Timm, was die Quadratmeterzahl betrifft, sogar noch verkleinert. Die Folge: Im November und Dezember bekommt sie kein Geld für die Miete. Timm hat schlaflose Nächte, verbringt die Monate in "Not und Angst", wie sie sagt. Das Geld für die Miete leiht sie sich schließlich von Freunden.
Nach unzähligen Anträgen werden die Zahlungen erst im Januar 2019 wieder aufgenommen – rückwirkend. Aber der Schock sitzt tief und bleibt. Timm fühlt sich ohnmächtig, ausgeliefert. Eine solche Situation will sie nie mehr erleben. "Die produzieren Obdachlose", sagt sie.
Sie hört von "Sanktionsfrei". Ein Berliner Verein, der Hartz-IV-Kürzungen ausgleicht. Er springt ein, wenn der Staat Hartz-IV-Empfängern Gelder streicht. Er hilft, wenn der Staat die Hilfe verweigert. Hartz Plus nennt Helena Steinhaus von "Sanktionsfrei" das Konzept. Ein Update für Hartz IV. 250 Menschen bekommen die Ausgleichzahlung, die sich aus Spenden finanziert. Drei Jahre lang.
Außerdem hilft der Verein Betroffenen mit Rat und juristischen Mitteln gegen Sanktionen vorzugehen. 90 Prozent der Einsprüche seien nach eigenen Angaben erfolgreich, sagt Steinhaus.
Die Initiative versteht sich als politische Kampagne. Ziel sei es nicht, die Fürsorgepflicht des Staates zu übernehmen und dauerhaft Sanktionen auszugleichen. Es gehe darum, darauf hinzuweisen, dass der Staat mit seinen Sanktionierungspraktiken eben jener Pflicht nicht nachkomme, sagt Steinhaus. Und dass hinter der Sanktionsidee ein falsches Menschenbild stehe: man allein mit Druck Menschen motivieren könne.
"Sanktionsfrei" sieht das anders und hat eine Studie in Auftrag gegeben. Rainer Wieland vom Wuppertaler Institut für Unternehmensforschung will herausfinden, was eine sanktionsfreie Grundsicherung mit der Gesundheit, mit sozialen Beziehungen und mit der Arbeitssituation der Menschen macht. Neben den potentiellen 250 Hartz-Plus-Empfängern gibt es eine Kontrollgruppe von ebenfalls 250 Menschen, die das "klassische" Hartz IV beziehen, im Falle einer Sanktionierung also keinen Ausgleich erhalten. Die 500 Probanden wurden per Zufallsverfahren ausgewählt.
Eine dieser Probanden ist Bettina Timm. Sie hat Glück, wird gelost und gehört zu den 250 Menschen, die drei Jahre vor Sanktionen geschützt werden.
Im Sommer 2019 dann bekommt sie wieder Post vom Jobcenter. Betreff: "Vorläufige Einstellung der Zahlungen." Begründung: Timm habe eine Arbeit aufgenommen und könne ihren Lebensunterhalt aus eigenem Einkommen sichern. Der Brief endet mit: "Dieses Schreiben wurde maschinell erstellt und ist auch ohne Unterschrift wirksam."
"Da bin ich aus allen Wolken gefallen", sagt Timm. "Ich hatte doch gar keine Arbeit." Sie glaubt, dass sie jemand verleumden wolle. Dass die Zahlungen offenbar aufgrund eines Verdachts eingestellt werden, schockiert sie. "Die hätten doch mal recherchieren oder mich anhören können."
Sofort wendet sich Timm an "Sanktionsfrei". Sie wird beraten, innerhalb von zwei Tagen wird ihr Geld überwiesen. Obwohl Bettina Timm offiziell gar nicht sanktioniert wird. Nach dem sich das Team um Helena Steinhaus einschaltet, samt einem Anwalt, der eine einstweilige Verfügung aufsetzt, hat Timm nach einer Woche die Zusage vom Jobcenter, dass es die Zahlungen wieder aufnimmt.
"Ich weiß nicht, was ich machen würde, wenn sich Sanktionsfrei nicht dahintergeklemmt hätte", sagt sie. Der Verein überbrückt. Timm zahlt das Geld später zurück.
Aufgrund des doppelten Bodens durch Hartz Plus ist Timm heute gelassener, sagt sie. Drei Jahre ohne Angst. Dann läuft die Absicherung aus. Was danach kommt, daran will sie heute nicht denken. Für den Moment sei dieser Schutz eine unglaubliche Erleichterung.
So könne man Menschen nicht motivieren. "Die Deutschen sind so stolz auf ihr Sozialsystem. Ich finde es auf Deutsch gesagt zum Kotzen." In den vergangenen Jahren habe sie viele negative Erfahrungen gemacht. "Ich bin ein gebranntes Kind", sagt sie. Auf dem Amt sei man bloß eine Nummer. Mal wird sie zu einer Jobmesse geschickt. Und fragt sich, was sie da in ihrem Alter soll, außer Kugelschreiber mitzunehmen. Mal wird sie in eine Maßnahme für Ü-50-Jährige gesteckt. Alle tatkräftig, alle motiviert, alle hätten keinen Job bekommen.
Zwar glaube sie schon, dass man Unterschiede machen muss, zwischen denen, die nicht arbeiten wollen und jenen, die nicht können. "Aber was keiner verdient hat, ist diese Gängelei. Das Herabsetzen von Menschen. Dieses Entmündigen und Bevormunden durch Ämter ist doch irre."
Als junge Frau hätte sie sich nie vorstellen können, dass sie mal in so eine Lage kommen könnte. "Ich habe immer Steuern gezahlt. Und heute bist du alt und der Arsch", klagt sie.
Und dann sei da diese Scham. Timm kann gar nicht so richtig sagen, wieso. "Aber sie ist da." Nur wenige wissen, dass sie Hartz IV bezieht. Darüber reden fällt ihr schwer. Aber damit soll jetzt Schluss sein. "Ich bin doch bestimmt nur ein Beispiel von vielen", sagt sie. Die Gesellschaft sei irgendwie darauf geeicht, dass Hartz-IV-Empfänger primitive Nichtsnutze seien. Über Whatsapp hat sie kürzlich einen dieser Witze über dümmlich-faule Hartzer bekommen. Von einer Freundin. Die hatte nicht darüber nachgedacht, sondern einfach geteilt. Der Freundin sagte sie dann: "Moment, Hartzer, das bin ich doch auch."