Bei der Klassifizierung von Atomkraft als "nachhaltige" Energiequelle sind die verschiedenen Mitgliedsstaaten der EU noch gespalten (Symbolbild des tschechischen Kernkraftwerks Dukovany).Bild: Zoonar.com/www.artushfoto.eu / www.artushfoto.eu
Analyse
05.01.2022, 15:1016.04.2024, 16:12
Kurz vor Mitternacht am Silvesterabend legte die EU-Kommission ihren Entwurf zur Taxonomie vor. Dieser stuft Investitionen in Gas- und Atomkraftwerke unter bestimmten Bedingungen als klimafreundlich ein. Der Vorschlag gilt als Kompromiss und als Zugeständnis an die Interessen von EU-Ländern wie Deutschland und Frankreich und soll den Finanzmärkten bei der Entscheidung helfen, welche Investitionen als "grün" gelten, wie der Entwurf verdeutlicht.
Die EU-Kommission sieht dabei unter anderem vor, dass geplante Investitionen in neue Kernkraftwerke als "nachhaltig" klassifiziert werden können, wenn die Anlagen unter anderem neuesten technischen Sicherheitsstandards entsprechen.
Kritik am Taxonomie-Entwurf von Europäischen Grünen
Der Entwurf hat in den vergangenen Tagen für viel Aufsehen und vor allem Kritik in Deutschland gesorgt. "Wir erwägen als europäische Grüne vor dem Europäischen Gerichtshof gegen die Pläne der EU-Kommission, Investitionen in Gas- und Atomkraftwerke als nachhaltig und klimafreundlich einzustufen, zu klagen", kündigte der Co-Vorsitzende Thomas Waitz gegenüber der "Welt" an.
Auch Umweltministerin Steffi Lemke (Bündnis90/DieGrünen) kritisierte, dass Atomenergie keine nachhaltige Energie sei, und bezeichnete das geplante EU-Nachhaltigkeitslabel für Atomkraft als „Greenwashing“. Ihre Begründung: Hier würden andere Umweltkriterien nicht beachtet, bei denen es nicht nur um CO2 ginge, sondern auch um Kreislaufwirtschaft und Umweltschutz, wie sie gegenüber der "Welt" begründete.
Ein nachhaltiges Label für Atomkraft
Der Streit um die Atomenergie ist wieder aufgeflammt – es geht um Strahlung, Sicherheit, CO2-Bilanzen und Endlager, aber auch um das Argument einer zuverlässigen Energiegewinnung.
Die Argumente der Atombefürworter:
• Kernenergie sorge für eine geringe CO2-Belastung
• Die Energiezufuhr solle gesichert sein
• Mini-Atomkraftwerke böten mehr Sicherheit
Die Argumente der Atomgegner:
• Das Problem mit der Endlagerung und der Strahlung
• Langsamer Bau: Neue Meiler würden zu spät kommen
• Kostenintensiver Rückbau
Der Umweltschutzaspekt bei Atomkraft
Eines dieser Umweltkriterien bleibt weiterhin der nicht gegebene Sicherheitsaspekt nuklearer Energieerzeugung. Genau hier sehen Experten im Hinblick auf den Klimawandel und dadurch immer häufiger auftretende Naturkatastrophen ein gestiegenes Risiko für einen GAU.
Einer der Kritiker ist Volker Quaschning, Klimaexperte bei "Scientists for Future" und Professor für Regenerative Energiesysteme an der HTW Berlin. Wie er auf Anfrage von watson begründet, habe Fukushima gezeigt, dass Kernkraftwerksunfälle durch große Naturkatastrophen möglich sind. Quaschning sagt:
"Durch den Klimawandel werden in den nächsten Jahrzehnten Naturkatastrophen an Heftigkeit zunehmen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es dann auch zu Ereignissen kommen wird, die die Sicherheit von Atomkraftwerken bedrohen."
Volker QuaschningProfessor für Regenerative Energiesysteme an der htw berlin
Auch Wolfgang Renneberg, ehemaliger Leiter der Abteilung Reaktorsicherheit, Strahlenschutz und Entsorgung im Bundesumweltministerium sowie Professor für Sicherheits- und Risikowissenschaften in Wien, bewertet das Risiko für einen Atomreaktorunfall als gestiegen. "Der Klimawandel erhöht die Wahrscheinlichkeit für Ereignisse, die dazu führen können, dass Kernkraftwerke nicht mehr ausreichend gekühlt werden können", betont er im Gespräch mit watson.
Um verständlich zu machen, wie es zu einem Reaktorunfall kommen kann, wird im Video nochmal der Aufbau eines Kernkraftwerks erklärt.Video: YouTube/planet schule Für watson erklärt er Schritt für Schritt, wie es durch Naturkatastrophen und andere Einwirkungen außerhalb des Atomkraftwerks zu einem Reaktorunfall kommen kann:
"Der Reaktor-Druckbehälter im Kernkraftwerk muss immer gekühlt werden. Wenn durch einen Stromausfall die Wasserzufuhr zur Kühlung des Druckbehälters gestoppt wird, dann erhitzt sich das radioaktive Material im Reaktor-Kern immer weiter und das Kernkraftwerk kriegt ein Problem." Auch wenn der Kernreaktor abgeschaltet sei, würden die radioaktiven Stoffe weiter Hitze erzeugen, die dann ohne Kühlung durch Wasser die Brennstäbe zum Schmelzen bringen. "Dann schmilzt in Folge dessen auch der Reaktordruckbehälter und die Radioaktivität tritt aus nach draußen", erklärt Renneberg.
"Der Klimawandel erhöht die Wahrscheinlichkeit für Ereignisse, die dazu führen können, dass Kernkraftwerke nicht mehr ausreichend gekühlt werden können"
Wolfgang Renneberg, ehemaliger Leiter für Reaktorsicherheit im Bundesumweltministerium
So passiert ist das in Fukushima: Durch einen Tsunami kam es im März 2011 zu einem Kurzschluss der elektrischen Leitungen, die für die Pumpen vorgesehen waren. Aber auch ein Brand könnte zum Ausfall der Pumpen führen, weil die elektrischen Leitungen und die Stromversorgung zusammenbrechen.
Und auch Überschwemmungen und Stürme, die das Stromnetz außerhalb eines Kernkraftwerks beschädigen, können problematisch werden, da die Pumpen nicht mehr versorgt werden können. "Für diesen Fall sind Ersatzsysteme vorgesehen, aber diese können auch ausfallen – vor allem bei Erdbeben ist das ein großes Problem: Sie können jedes Kernkraftwerk zum Versagen bringen", so Renneberg.
"Wenn man jetzt die Klimakatastrophe oder die Klimaentwicklung nimmt, dann können die Einwirkungen von außen, beispielsweise ein starker Hurrikan oder Tornado, die die Leitungen außerhalb des Kernkraftwerks zerstören, zu Überschwemmungen führen, so dass es zu Kurzschlüssen im Inneren des Kernkraftwerks kommt. Das wiederum kann zum Versagen der Stromversorgung führen. Dann steht plötzlich das Kernkraftwerk ohne Wasserversorgung und ohne funktionierende Pumpen da, der Reaktor-Druckbehälter kann nicht mehr gekühlt werden und geht kaputt – und der Unfall ist da."
Wolfgang Rennebergehemaliger Leiter für Reaktorsicherheit im Bundesumweltministerium
Als weiteres Risiko betrachtet Renneberg auch einen möglichen Wassermangel: Wenn es in Zukunft vermehrt zu Dürren kommen sollte, könnte auch die Wasserzufuhr zur Kühlung der Reaktoren abnehmen, erklärt er.
"Das ist dann im Prinzip Fukushima auf eine andere Art und Weise: Nicht durch einen Tsunami ausgelöst, sondern durch beispielsweise einen einfachen Sturm oder durch Überschwemmungen."
Wolfgang Rennebergehemaliger leiter für reaktorsicherheit im bundesumweltministerium
Darüber hinaus könnten natürlich auch externe Einwirkungen wie ein Flugzeugabsturz oder andere Unfälle zum Systemversagen eines Kernkraftwerks führen.
Dem Argument der Atombefürworter, dass die nationalen Sicherheitsstandards vor allem in Deutschland nicht mit denen von Fukushima verglichen werden könnten, setzt Renneberg entgegen: "Es gibt immer nur eine relative Sicherheit. Auch bei den deutschen Kernkraftwerken kann es Ausfälle geben und auch die können einen großen Unfall erleiden. Es gibt keine Ausnahmen."
Gerade kleine Atomkraftwerke könnten von Terroristen gehackt werden
Als weiteres Risiko bewertet Klimaexperte Volker Quaschning die Gefahr terroristischer Anschläge und Cyberattacken auf Atomkraftwerke. "Bei Kernkraftwerken können Terroristen mit verhältnismäßig kleinem Aufwand einen sehr großen Schaden anrichten. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis entsprechende Anschläge stattfinden werden. Gerade die jüngst diskutierten atomaren Kleinkraftwerke (Small Modular Reactors) sind, wenn überhaupt, nur sehr aufwändig zu schützen", sagte Quaschning zu watson.
Fazit: Mit Kernkraft lässt sich das Klimaproblem nicht lösen
Nach Ansicht von sowohl Quaschning als auch Renneberg könnten Kernkraftwerke somit niemals das Klimaproblem lösen, auch da die Energieversorgung durch Kernkraft allein nicht ausreichen würde. "Man muss einfach nur die Zahlen kennen: Im Augenblick wird etwa 3 Prozent der primärseitigen Energieversorgung der Welt durch Kernenergie bereitgestellt und 3 Prozent ist ja für den Klimawandel wirklich eine kleine Größe", begründet Renneberg im Gespräch mit watson die These. Wie er fortführt, müsse man mindestens 30 Prozent der Energie durch Kernenergie bereitstellen, wenn jetzt die Kernenergie tatsächlich einen relevanten Anteil des CO2 einsparen solle – 70 Prozent müssten dann immer noch durch Erneuerbare bereitgestellt werden.
"Wenn man aber nur 30 Prozent der Energie durch Kernenergie beschaffen wollte, dann bräuchte man etwa 5000 neue große Kernkraftwerke. Das ist einfach absurd. Das kann niemand in den nächsten 15-20 Jahren bauen, dafür ist das Geld nicht da, dafür sind die Techniker nicht und Unternehmen nicht da, dafür stehen nicht genug Schmieden und Aufsichtsbehörden zur Verfügung."
Wolfgang Renneberg
Dementsprechend bewertet er die aufgekommene Diskussion zur nachhaltigen Einordnung von Atomkraft als "völlig absurd". "Diese ganze Diskussion dient nur dazu, Kernkraft wieder ins Spiel zu bringen und Finanzierungsmöglichkeiten zu akquirieren. Kernenergie als Klimaretter einzusetzen ist praktisch völlig unmöglich und das gilt für die alten Reaktoren und auch für neue kleine Reaktoren, die es noch gar nicht gibt."
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