Watson-Redakteur Lukas Weyell hält Neubauers Entscheidung für richtig:
Luisa Neubauer hat abgelehnt und das ist richtig so. Sie hat verstanden, wie der Laden läuft und die Lunte gerochen. Drei gute Gründe, warum ihre Entscheidung richtig war.
Zwar kam die Entscheidung erst nach Luisa Neubauers Absage, aber sie hat der Klimaaktivistin im Nachhinein recht gegeben: In Australien beteiligt sich Siemens am Bau eines Kohlebergwerks. Siemens-Chef Joe Kaeser twitterte am Sonntagnachmittag, dass man alle Optionen abgewogen habe, sich aber an geltende Verträge halten müsse. Die öffentliche Reaktion auf die Entscheidung ist überwiegend negativ.
Umwelt-Expertin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaft sagt hierzu gegenüber watson: "Siemens hat mit der Entscheidung, das Kohleprojekt in Australien anzunehmen, einen Fehler gemacht. Der Imageschaden für den Konzern ist nun besonders hoch und hätte vermieden werden können." Luisa Neubauer hatte Recht mit ihrer Absage und die Entscheidung des Siemens-Vorstands bestätigt es: Bei Siemens hat Umweltschutz aktuell keine Priorität.
Laut aktuellem Geschäftsbericht von Siemens erhält ein Aufsichtsratsmitglied 140.000 Euro Grundvergütung im Jahr. Mit Zulagen kann ein normales Mitglied des Aufsichtsrates (also kein Vorsitzender oder einer seiner beiden Stellvertreter) bis zu 400.000 Euro im Jahr verdienen. Kein schlechtes Gehalt für eine 23-jährige Studentin. Dass Luisa Neubauer hierzu Nein gesagt hat, unterstreicht, dass es die Fridays-for-Future-Bewegung ernst meint. Es geht ihnen wirklich um die Sache und nicht um einzelne Karrieren. Luisa Neubauer hat verstanden, wie die Machtstrukturen in der Wirtschaft funktionieren und ihre Absage ist eine Nachricht an Wirtschaft und Politik. Sie lautet: "Nehmt uns endlich ernst!"
Es ist die Aufgabe des Aufsichtsrats, den Vorstand zu überwachen und zu kontrollieren, also auch zu kritisieren. Allerdings nur intern. "Sobald Luisa Neubauer Mitglied des Aufsichtrates ist, ist sie zu Verschwiegenheit verpflichtet. Das bedeutet, sie darf nicht über das sprechen, was dort diskutiert wird und sich auch nicht kritisch über das Unternehmen äußern", so Hendrik Leber, Finanz-Experte und Geschäftsführer der Acatis Investment, gegenüber watson. Die stärkste Stimme von Fridays for Future in Deutschland, Luisa Neubauer, hätte also eine Art Maulkorb verpasst bekommen.
Und das ohne wirklich etwas verändern zu können: "Luisa Neubauer hätte sich im Aufsichtsrat nicht durchsetzen können. Da sind 20 Mitglieder, die gewinnorientiert wirtschaften. Man hätte ihr sicher zugehört, aber mehr nicht", so Hendrik Leber. Luisa Neubauer wäre also eine Art Maskottchen für Siemens geworden und hätte ihre Glaubwürdigkeit als Galeonsfigur der Fridays-for-Future-Bewegung in Deutschland verloren.
Watson-Redakteur Oliver Marquart ist anderer Meinung:
Auch wenn vieles dafür spricht, dass Siemens-Vorstand Kaeser mit seinem Angebot an Luisa Neubauer nur ein Ablenkungsmanöver gefahren hat – sie hätte es trotzdem annehmen können. Dafür sprechen vier gute Gründe:
Neubauer hätte zeigen können, dass sie bereit ist, tatsächlich Verantwortung zu übernehmen. Fridays for Future wird immer wieder vorgeworfen, Maximalforderungen zu stellen, die unrealistisch seien. Als Grund wird angeführt, dass die jungen Leute keine Ahnung von der Praxis hätten. Genau dieses Argument hätte Neubauer mit der Annahme eines Aufsichtsratssitzes ausräumen können. Fridays for Future und damit auch sie selbst wären gestärkt aus der Sache hervorgegangen.
Sie wäre dann zwar verpflichtet gewesen, den Interessen des Unternehmens nicht zu schaden. Das heißt, sie hätte nicht einfach live aus der Sitzung twittern können, welche schmutzigen Details sie gerade erfahren hat. Aber: Sie bekäme dafür tiefere Einblicke darin, wie große Konzerne wirklich funktionieren, welche Abläufe hinter den Entscheidungen stecken und wie man darauf am besten Einfluss nehmen kann. Dieses Wissen hätte ihr im Kampf gegen den Klimawandel einen sehr großen, strategischen Vorteil gebracht. Und die Kritik an Siemens hätten auch andere FFF-Aktivisten weiter äußern können. Die Bewegung lebt ohnehin nicht hauptsächlich von ihren Führungsfiguren.
Mit einer Annahme des Aufsichtsratspostens wäre Luisa Neubauer keine Verpflichtung auf Lebenszeit eingegangen. Selbst wenn sie also nach einiger Zeit festgestellt hätte, dass sie wirklich nur als Feigenblatt herhalten soll: Sie hätte ihren Posten jederzeit wieder kündigen können. Dann allerdings mit dem Bonus, dass sie es mit der Praxis begründen kann: Ich hab's versucht, aber konnte nicht das bewirken, was ich wollte und ziehe daraus die Konsequenzen – das wäre ein starkes Statement gewesen.
Bis zu 400.000 Euro im Jahr hätte Neubauer verdienen können. Dem Vorwurf der Käuflichkeit hätte sie ganz locker begegnen – und die gesamte Summe einfach spenden können. Natürlich für den Klimaschutz. Und am besten öffentlichkeitswirksam. Das wäre ein klares Signal gewesen: Ich lasse mich nicht kaufen – sondern will etwas bewirken. Schade!