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Söders ungeimpfter Vize – Warum sich Aiwanger als Impfskeptiker inszeniert

27.07.2021, Bayern, M
Hubert Aiwanger (links) neben dem bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Chef Markus Söder. Bild: dpa / Peter Kneffel
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Söders ungeimpfter Vize: Warum der bayerische Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger sich als Impfskeptiker inszeniert

05.08.2021, 10:0610.08.2021, 13:24
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Wer Bayern nur aus den Medien kennt oder aus dem Urlaub, tut sich manchmal schwer damit, dieses Bundesland zu begreifen. Gerade bayerische Politiker: Seit über 60 Jahren stellt dieselbe Partei den Ministerpräsidenten, die CSU. Und diese Partei bringt seit Jahrzehnten Politiker hervor, die man nur beim Namen nennen muss, damit viele politisch interessierte Menschen in Flensburg, Offenbach oder Leipzig sich an die Stirn tippen: Horst Seehofer. Andreas Scheuer. Alexander Dobrindt.

Und jetzt ist da dieser Aiwanger.

Manchmal wie die Karikatur eines Bayern: Hubert Aiwanger im Mai 2021, beim Prosit auf die Wiedereröffnung der Biergärten mit Angela Inselkammer, Präsidentin des Gastro-Verbands DEHOGA Bayern.
Manchmal wie die Karikatur eines Bayern: Hubert Aiwanger im Mai 2021, beim Prosit auf die Wiedereröffnung der Biergärten mit Angela Inselkammer, Präsidentin des Gastro-Verbands DEHOGA Bayern. bild: imago / sven simon

Hubert Aiwanger, seit Herbst 2018 Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsidentin Bayern, hat vergangene Woche in einem Interview mit dem "Deutschlandfunk" gesagt, dass er sich nicht gegen Covid-19 impfen lassen will. Er hat von Impfnebenwirkungen aus seinem "Bekanntenkreis" gesprochen – und das mit den Worten kommentiert: "Da bleibt einem das eine oder andere Mal die Spucke weg".

Aiwanger ist Landes- und Bundesvorsitzender der Freien Wähler (FW), der ländlich-konservativen Partei, mit der die CSU seit drei Jahren den Freistaat regiert. Und er ist Stellvertreter Markus Söders, des CSU-Chefs und Ministerpräsidenten. Söder hat Aiwanger nach dem Interview vorgeworfen, sich in die Nähe von "Querdenken" und anderen Corona-Leugnern zu begeben. Thomas Kreuzer, CSU-Fraktionschef im Landtag, spielte in einem Interview sogar mit der Idee, die Koalition mit den FW zu beenden.

Warum macht Aiwanger das?

Was Hubert Aiwanger antreibt

Vielleicht ist Berching ja ein guter Anfangspunkt, um Hubert Aiwanger zu erklären. Berching liegt in Bayern, genauer gesagt in der Oberpfalz, knapp 50 Kilometer Luftlinie von Regensburg entfernt. Hubert Aiwanger war an einem ein Februarmorgen im Jahr 2018 in Berching, knackig kalt war es, ein paar Grad unter Null. Aiwanger war eingepackt in einen Lodenjacke, trug einen schwarzen Hut auf dem Kopf. Er hatte sich auf den fabelhaft schönen Marktplatz dieser mittelalterlichen Kleinstadt gestellt, um ihn herum ein paar hundert Menschen. Aiwanger stand unterhalb einer Bühne, festlich geschmückt mit einer bayerisch-weiß-blau-gestreiften Fahne.

Auf der Bühne stand Markus Söder, damals bayerischer Finanzminister und designierter Ministerpräsident. Er hielt gerade seine Rede auf dem Berchinger Rossmarkt. Das ist ein Volksfest, auf dem seit Jahrhunderten Züchter ihre Pferde präsentieren – und auf dem seit Jahrzehnten prominente Politiker eine Kundgebung abhalten dürfen. Der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl war schon in Berching, der legendäre bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß, sein Nachfolger Horst Seehofer. Jetzt, im Februar 2018, durfte Söder ran. Und Aiwanger, damals Fraktionschef der Oppositionspartei Freie Wähler im Bayerischen Landtag, war extra nach Berching gekommen, um Söder zu nerven.

Aiwanger war damals unterwegs für die Abschaffung der "Strabs": der Straßenausbaubeiträge, die Anwohner in manchen Kommunen zahlen mussten, wenn eine Straße vor ihrem Grundstück ausgebaut wurde. Die "Strabs" ärgerten Anfang 2018 viele Menschen in Bayern – und Aiwanger tourte durch den Freistaat, um genug Unterschriften für ein Anti-Strabs-Volksbegehren zu sammeln. Er schaffte es. Zum Volksbegehren kam es nie: Die CSU-Mehrheit im bayerischen Landtag stimmte für die Abschaffung der Beiträge – dazu angetrieben hatten sie die Freien Wähler. Und der Ober-Antreiber war Hubert Aiwanger gewesen.

Antreiber der CSU zu sein, dieser bayerischen Überpartei, das verstehen die FW seit Jahren als ihre Hauptaufgabe. Entstanden sind die Freien Wähler in Bayern 1997, als Zusammenschluss von Kommunalpolitikern, die abseits der großen Parteien ins Amt gekommen waren, als unabhängige Kandidaten. Ländliche Gemeinden, Kleinstädte und Landkreise, dort ist bis heute die Basis der Partei zu Hause: Die Freien Wähler stellen einen großen Teil der Bürgermeister im Freistaat – und 14 von 71 Landräten.

Es gibt diese Partei auch in anderen Bundesländern. Aber nirgends ist sie so stark wie in Bayern.

Die FW sind eine konservative Partei, die anders sein will als die CSU: weniger verfilzt, weniger mit großen Unternehmen und Wirtschaftsverbänden verbandelt. Mit größerer Rücksicht darauf, dass Bürgermeister und Gemeinderäte möglichst viel selbst entscheiden dürfen.

2008 gelang den Freien Wählern in Bayern die erste Sensation: Mit über 10 Prozent der Stimmen zogen sie erstmals in den Landtag ein, jagten der CSU empfindlich viele Stimmen ab. Die Christsozialen verloren dadurch nach 40 Jahren die absolute Mehrheit. Oberster Wahlkämpfer der Freien Wähler damals: Hubert Aiwanger.

Hubert Aiwanger 2008, als frisch gewählter Landtagsabgeordneter, in seinem Heimatort Rahstorf.
Hubert Aiwanger 2008, als frisch gewählter Landtagsabgeordneter, in seinem Heimatort Rahstorf. bild: imago/astrid schmidhuber

Aiwanger ist oft unterschätzt worden – und wird es bis heute. Weil er manchmal wie die Karikatur eines Bayern wirkt, mit seinem tiefen niederbayerischen Akzent, in dem aus dem Apfelsaft der "Opfesoft" und aus der Wahlkabine die "Wohlkobine" wird. Doch er hat großes politisches Talent – und ist ungemein fleißig. Ab 2008 hat er es geschafft, zehn Jahre lang der menschgewordene Stachel im Fleisch der CSU zu sein, mit Initiativen wie der zur Abschaffung der Strabs. Mit Brandreden über den "Filz" und die "Arroganz" der CSU, die ihm Beifall in Wirtshäusern und Bierzelten einbrachten.

Im November 2018 dann – ein gutes halbes Jahr, nachdem Aiwanger Söder in Berching genervt hatte – wurden die beiden zu Verbündeten. CSU und Freie Wähler bildeten nach der Landtagswahl eine gemeinsame Regierungskoalition. Seither ist es lange recht reibungsarm gelaufen, trotz Söders Hang zur ständigen Selbstinszenierung, trotz seiner Verwandlung vom konservativen Hardliner zum Klimaschützer und harten AfD-Kritiker.

Und obwohl Aiwanger seit Beginn der Corona-Pandemie die Gefahr durch das Virus immer wieder kleinredet: Im März 2020 meinte er noch, Starkbierfeste seien doch ein gutes Mittel gegen die Pandemie. Später, vor allem in der zweiten Corona-Welle ab Herbst 2020, drängte Aiwanger auf Lockerungen und gegen Beschränkungen, als Söder zur Vorsicht aufrief und sich die Intensivstationen füllten.

Richtig ausgebrochen ist der Konflikt um die Corona-Politik in der bayerischen Staatsregierung lange nicht. Bis zu Aiwangers Auftritten als Impfskeptiker.

Warum Aiwanger jetzt seine Impfskepsis öffentlich macht

Bisher war 2021 ein ziemlich gutes Jahr für die Freien Wähler. In den Umfragen zur Landtagswahl in Bayern steht die Partei – nach einem heftigen Tief 2020 – wieder bei um die 10 Prozent. Nach der Wahl in Rheinland-Pfalz zog die Partei in den Landtag ein – zum ersten Mal außerhalb Bayerns. Und in Umfragen zur Bundestagswahl liegen die FW inzwischen bei Werten um drei Prozent – und damit gar nicht mehr so weit entfernt von der Fünf-Prozent-Hürde.

Dass Hubert Aiwanger, der in seinem niederbayerischen Heimatdorf Rahstorf einen Bauernhof bewirtschaftet, sich nicht gegen Covid-19 impfen lassen will, war in der bayerischen Staatsregierung seit Monaten bekannt. Laut "Süddeutscher Zeitung" ist er der einzige Minister in Söders Kabinett, der noch keine Spritze bekommen hat.

Ende Juni fragte ein Journalist bei einer gemeinsamen Pressekonferenz Aiwangers und Söders nach dem Impfstatus des Wirtschaftsministers – worauf Söder mit einem strengen Seitenblick zu Aiwanger sagte: "Vielleicht sagst du selber was dazu, warum du einfach dich nicht impfen lassen willst." Er sage nicht grundsätzlich Nein zum Impfen, wolle dies aber jetzt nicht, sagte Aiwanger danach.

12.06.2021, Bayern, N
Hubert Aiwanger im Juni, nach seiner Wiederwahl zum Landeschef der Freien Wähler.Bild: dpa / Peter Kneffel

Ein paar Wochen später gab Aiwanger sein Interview im "Deutschlandfunk". Aiwanger hat von einer "Impf-Apartheid" gesprochen, die drohe. Er meinte, die Menschen seien "teilweise nicht zu Unrecht verunsichert".

Es ist wahrscheinlich, dass Aiwangers Impfskepsis echt ist. Andererseits gibt es mindestens zwei gute Gründe, die dafür sprechen, dass der FW-Chef das Thema nicht zufällig gerade jetzt breit tritt – sondern aus Kalkül.

Erstens der Bundestagswahlkampf: Die Freien Wähler zielen wohl ernsthaft darauf ab, nach der Wahl im September in den Bundestag einzuziehen. Und die Entwicklung der Umfragewerte in Bayern hat Aiwanger gezeigt, dass ihre Position in der Corona-Krise – gegen den Lockdown, für schnelle Öffnungen – den Freien Wählern politisch genutzt hat. CSU-Chef Söder wirft Aiwanger vor, sich im Bundestagswahlkampf bei Impfgegnern anbiedern zu wollen. watson hat bei Aiwanger angefragt, was er auf diesen Vorwurf entgegnet. Er hat nicht geantwortet.

Die Jungen Freien Wähler (JFW), die Jugendorganisation der Partei, wehren sich gegen die Vorwürfe aus der CSU. Tobias Keßler, Sprecher der JFW, erklärte gegenüber watson:

"Die durch Ministerpräsident Söder und Herrn Kreuzer gemachten Vorwürfe weisen wir entschieden zurück. Diese entbehren jeglicher Grundlage."

Zweitens die bayerische Maskenaffäre: Prominente CSU-Politiker sind ins Visier der Justiz geraten, weil sie mit der Vermittlung von Maskendeals Geld verdient haben sollen: der ehemalige Bundestagsabgeordnete Georg Nüßlein, der mächtige Landtagsabgeordnete Alfred Sauter.

Doch auch ein Geschäftsmann und Kommunalpolitiker der Freien Wähler kam im Juli in Untersuchungshaft. Er soll dem Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) im Frühjahr 2020, zu Beginn der Corona-Pandemie, für einen Millionenbetrag falsch zertifizierte Masken verkauft haben. Die Affäre hat inzwischen auch FW-Chef Aiwanger erreicht. Der Geschäftsmann hatte damals Aiwanger persönlich um Hilfe bei seinen Maskenlieferungen gebeten, das hat Aiwanger inzwischen selbst eingeräumt. Ein Untersuchungsausschuss im Landtag wird die Affäre aufarbeiten.

Aus Kreisen der Freien Wähler in Bayern ist zu hören, dass man in der Landtagsfraktion davon ausgeht, es könne ein "absoluter Todesstoß" für Aiwanger werden, wenn er durch den Ausschuss ernsthaft belastet würde.

Wenige Tage, nachdem die Entscheidung zum Ausschuss gefallen war, sprach Aiwanger über seine Impfskepsis. Seither ist es ruhiger geworden um die Maskenaffäre. Zumindest momentan.

Allerdings bekommt Aiwanger auch aus den eigenen Reihen Widerspruch für seine impfskeptischen Aussagen. Von Gabi Schmidt zum Beispiel, Landtagsabgeordnete der Freien Wähler und Stellvertreterin Aiwangers an der Fraktionsspitze. Am vergangenen Mittwoch, kurz nach dessen "Deutschlandfunk"-Interview, veröffentlichte sie auf ihrer Facebook-Seite ein Bild mit der Aufschrift "Ich bin geimpft, weil es Gottseidank Schutz für uns gibt".

Aiwanger ist zwar das mit Abstand bekannteste Gesicht der Partei – aber die Freien Wähler sind auch ohne ihn breit aufgestellt und fest verankert im ländlichen Bayern: mit hunderten Bürgermeistern, mit Gemeinde-, Stadt- und Landräten. Das sind Kommunalpolitiker, die üblicherweise an seriöser Politik interessiert sind – und an einer möglichst schnellen Impfkampagne, die verhindert, dass in Bayern Gasthäuser wieder zusperren und Amateur-Fußballvereine ihren Spielbetrieb einstellen müssen.

Die Partei-Jugendorganisation JFW antwortet maximal diplomatisch auf eine watson-Nachfrage zu Aiwangers Haltung zur Covid-Impfung. JFW-Sprecher Keßler erklärt:

"Die JFW sehen Impfungen als wichtigen Baustein um Krankheiten einzudämmen, wir respektieren jedoch die persönlichen Entscheidungen von Einzelpersonen."

Wie lange lassen Söder und die CSU sich das bieten?

Heftig ist dagegen die Kritik vom großen Koalitionspartner Aiwangers, der CSU.

CSU-Chef und Ministerpräsident Söder meinte am vergangenen Sonntag, im ZDF-Sommerinterview, über seinen Vize: "Meine Sorge ist, dass er sich in eine Ecke manövriert, aus der er selber nicht mehr herauskommt." Er warf ihm vor, mit seiner Kritk an Covid-Impfstoffen ähnliche Stimmungen zu bedienen wie die rechtspopulistische AfD.

Die Junge Union (JU) Bayern, die Jugendorganisation der CSU, kritisiert Aiwanger ebenfalls scharf. Gegenüber watson erklärte Nicola Gehringer, Landesgeschäftsführerin der Bayern-JU:

"Hubert Aiwanger hat als stellvertretender Ministerpräsident unseres Freistaats eine besondere Verantwortung – umso schockierender ist es, wenn er sich im Wording an Querdenkern und Corona-Leugnern orientiert."

Zu einem möglichen Ende der Koalition mit den Freien Wählern meinte CSU-Nachwuchspolitikerin Gehringer, das wäre ein "tiefgreifender Schritt", die Zusammenarbeit mit den FW laufe "im Allgemeinen gut."

Sie sagte aber auch:

"Es gibt kaum einen Politiker, der sich in der Corona-Krise öfter selbst korrigieren musste als Hubert Aiwanger. Angefangen bei versprochenen Volksfesten, über anvisierte Weihnachtsmärkte bis hin zur Ankündigung eines Mini-Oktoberfestes – Aiwanger stiftet immer wieder Verwirrung und Verdruss. Das ist eines stellvertretenden Ministerpräsidenten nicht würdig."

Aiwanger hat sich indes gegen die Vorwürfe aus der CSU gewehrt. "Es ist eine bewusste Falschbehauptung, ich hätte gesagt, dass nicht bewiesen sei, ob Impfstoffe wirken", hatte Aiwanger am Montag der Deutschen Presse-Agentur gesagt. "Ich habe im Gegenteil gesagt, Impfen ist ein wichtiger Baustein im Kampf gegen Corona, aber es muss freiwillig bleiben."

Es wirkt wie ein erstes, leichtes Zurückrudern.

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