Menschenleere Straßen, Ärzte in Schutzausrüstung wie aus "Ghostbusters": Die ersten heftigen Bilder der Coronavirus-Krise sah die Welt am 23. Januar 2020. An diesem Tag beschloss die Zentralregierung in China, die Millionenmetropole Wuhan und andere Städte in der Provinz Hubei unter Quarantäne zu stellen. Und vier Tage später erschien auf dem Nachrichtenportal Forbes.com ein Artikel mit der Rangliste der Länder, die am besten auf eine Pandemie vorbereitet sind. Auf Platz eins von 195: die USA.
Der Autor des Artikels berief sich auf den im Oktober 2019 veröffentlichten "Global Health Security Index", der misst, wie gut Länder auf Gesundheitsrisiken vorbereitet sind. Die USA wurden dort mit 83,5 Punkten bewertet. Deutschland kam mit 66 Punkten nur auf Rang 14.
Ein gutes halbes Jahr später sieht die Lage in den USA katastrophal aus. Die Zahl der Menschen, die mit oder an der vom Coronavirus ausgelösten Krankheit Covid-19 gestorben sind, ist im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung deutlich höher als in anderen Ländern. Während die Kurve der Infektionen von Südkorea bis Italien, von Neuseeland bis Frankreich nach Höchstständen zwischen März und April drastisch nach unten gegangen ist, ist das in den USA nie geschehen. Während die Menschen in anderen Ländern sich vor einer möglichen zweiten Welle fürchten, sind die USA noch mitten in der ersten. Die USA machen nur vier Prozent der Weltbevölkerung aus – aber ein Viertel der bestätigten Covid-19-Fälle und ein Viertel der Toten. In einer langen Analyse des US-Magazins "The Atlantic" lautet das Fazit zum Coronavirus-Krisenmanagement:
Ed Pilkington, Chefreporter der britischen Zeitung "The Guardian" in New York, fasst den Ruf des Landes in der wissenschaftlichen Gemeinschaft in einer Podcast-Episode so zusammen: "Die USA sind jetzt die Lachnummer der Welt".
Mehrere US-Medien, darunter "New York Times", "The Atlantic" und der britische "Guardian" haben die Gründe dafür untersucht. Einige davon haben mit dem Verhalten von US-Präsident Donald Trump zu tun. Doch es gibt auch Jahrzehnte alte Probleme der USA, die den Kampf gegen das Coronavirus behindert haben. Wir fassen die Erkenntnisse der Analysen zusammen.
Kaum Gesundheitsschutz für Arbeitslose, Krankheiten, die in einer lebenslangen Schuldenfalle münden: Dass die USA große Probleme mit ihrem Gesundheitssystem haben, ist seit Jahrzehnten bekannt – und das, obwohl die staatlichen Gesundheitsausgaben im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung fast doppelt so hoch sind wie in anderen reichen Ländern. Seit der Wirtschaftskrise ab 2008/2009 haben sich diese Probleme weiter verschärft.
Nur 2,5 Prozent der staatlichen Gesundheitsausgaben in die USA gehen in die öffentliche Gesundheitsversorgung, schreibt "The Atlantic". Seit 2009 ist in örtlichen Gesundheitszentren in den USA ein Viertel aller Jobs gestrichen worden. Ein Viertel der Gesundheitsausgaben, heißt es weiter, gehe in ineffiziente Krankenpflege, unnötige Behandlungen, überflüssigen Verwaltungsaufwand. Diese Probleme hatten schon vor der Corona-Krise dazu beigetragen, dass die durchschnittliche Lebenserwartung in den USA deutlich niedriger war als in anderen wirtschaftsstarken Ländern. Als das Virus die USA erreichte, hatten viele Krankenhäuser zu wenig Personal und kaum Schutzausrüstung.
Dass die USA nicht nur ein schwaches Gesundheitssystem haben, sondern allgemein einen löchrigen Sozialstaat, hat die Folgen des Virus verschärft. Ohne Maßnahmen wie das deutsche Kurzarbeitergeld verloren 26 Millionen Menschen ihren Job, die Arbeitslosigkeit schoss auf 14,7 Prozent nach oben. Und wer in den USA seinen Job verliert, verliert allermeistens auch seine Krankenversicherung. Manche Covid-19-Erkrankten bekamen nach ihrer Heilung Krankenhausrechnungen in Millionenhöhe nach Hause geschickt.
Besonders stark hat sich das Virus in den USA außerdem in Gefängnissen verbreitet. Auch das ist kein Zufall: In den USA ist der Anteil der Inhaftierten an der Bevölkerung fast neunmal höher als in Deutschland. Viele Gefängnisse sind überfüllt, Abstand halten ist kaum möglich. Die Folge: Tausende Menschen steckten sich in Gefängnissen in den USA mit dem Coronavirus an.
Eine beunruhigend große Rolle in der Coronavirus-Krise haben laut der Analyse von "The Atlantic" auch die Auswirkungen des jahrhundertelangen strukturellen Rassismus in den USA gespielt. Seit dem Ende des US-amerikanischen Bürgerkriegs im 19. Jahrhundert seien Schwarze Amerikaner in mehreren Bundesstaaten im Süden der USA systematisch aus dem Gesundheitssystem ausgeschlossen worden: Krankenhäuser, die weit weg von den Vierteln Schwarzer gebaut wurden, separate Stationen für die Behandlung Schwarzer – und besonders niedrige Investitionen in das öffentliche Gesundheitssystem in Südstaaten, wo besonders viele Schwarze Menschen nicht krankenversichert sind. Dazu kommt: Besonders viele Schwarze arbeiten in den USA in systemrelevanten, aber schlecht bezahlten Berufen – in Supermärkten, als Postboten und Reinigungskräfte. Das Ergebnis: Unter Schwarzen ist der Anteil der Covid-19-Toten in den USA zweimal so hoch wie unter Weißen.
Diese Faktoren hätten es für die USA vermutlich unter fast jedem Präsidenten schwerer gemacht, das Coronavirus zu bekämpfen. Aber es gibt auch einige Probleme, die sehr viel mit Donald Trump zu tun haben.
"America First", die USA zuerst: Das ist der Leitsatz Donald Trumps. Sein nationalistischer Ansatz hat dem Land im Kampf gegen das Coronavirus geschadet. Denn unter Präsident Trump haben sich die USA aus mehreren internationalen Organisationen zurückgezogen – oder die Mitarbeit darin schwer vernachlässigt. Mehr als zwei Jahre lang hatte Trump den Sitz der USA im Exekutivrat der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nicht besetzt – und das erst im Mai 2020 nachgeholt, als das Coronavirus schon ein halbes Jahr lang gewütet hatte. Vom Auslandsbüro der wichtigsten US-Gesundheitsbehörde CDC in China hatte Trump seit 2017 über 30 Mitarbeiter abgezogen – Personal, das den USA vielleicht geholfen hätte, die Tragweite des Coronavirus-Ausbruchs in China früher zu erkennen. "The Atlantic" kommentiert Trumps Vorgehen so:
Auch innerhalb der USA hat Trump jahrelang Institutionen geschwächt, die dem Land dabei geholfen hätten, die Corona-Krise besser zu managen. 2018 löste Trump eine Abteilung der Nationalen Sicherheitsbehörde auf, die das Land auf die nächste Pandemie vorbereiten sollte.
Und selbst als das Virus schon in den USA war, erschwerte der Präsident dem CDC immer wieder den Kampf dagegen. Am 25. Februar sprach Nancy Messonnier, beim CDC für Atemwegserkrankungen zuständig, in einem öffentlichen Statement davon, dass Schulen geschlossen werden und das öffentliche Leben in den USA möglicherweise stark eingeschränkt werden könnte. Über die Aussage war Trump laut "The Atlantic" erbost – und das CDC hielt in den drei Monaten danach keine einzige Pressekonferenz mehr ab. Der Plan des CDC zu behutsamen Lockerungen nach dem Corona-Lockdown wurde einen Monat lang zurückgehalten.
Ein gigantisches Problem für die USA war – vor allem zu Beginn der Pandemie –, dass nicht genug Personen auf das Coronavirus getestet wurden. Das führte dazu, dass wahrscheinlich schon Ende Februar zehntausende Amerikaner infiziert waren und andere ansteckten – aber nur wenige hunderte Menschen positiv getestet worden waren. Das CDC hatte im Januar eigene Tests entwickelt – die aber laut "The Atlantic" katastrophal schlecht funktionierten. US-Präsident Trump hätte sich seit dieser Zeit – als das Virus längst außerhalb Chinas festgestellt worden war – darum bemühen können, dass in den USA massenweise Tests vorbereitet werden und Krankenhäuser mit Schutzkleidung und Beatmungsgeräten ausgestattet werden. Trump aber tat nur eines: Grenzen zu schließen. Zunächst für Menschen, die aus China einreisten, später unter anderem auch für EU-Bürger. Grenzschließungen sind aber laut Experten nur hilfreich, um die Verbreitung eines Virus zu verlangsamen – nicht, um es zu stoppen. Schon gar nicht, wenn das Virus schon im eigenen Land angekommen ist.
Trump tat aber nach den Grenzschließungen wochenlang fast nichts zur Viruseindämmung. Aber er versprach den Amerikanern in öffentlichen Auftritten, das Virus würde "magisch verschwinden". Ende Februar sagte er, die Infektionen würden bald "Richtung Null" gehen. In Wahrheit steckte sich bis Ende April fast eine Million Amerikaner damit an.
Trump wälzte in den Wochen danach außerdem Verantwortung von sich ab – auf die Gouverneure der einzelnen Bundesstaaten. Seine Botschaft an die regionalen Regierungen: Kauft eure medizinische Ausrüstung selbst. Immer wieder lieferte sich Trump wegen des Themas Fern-Wortgefechte mit der demokratischen Gouverneurin von Michigan Gretchen Whitmer und dem New Yorker Gouverneur Andrew Cuomo – während New York selbst im April zu einem Hotspot der Pandemie wurde.
Trotz seiner vorherigen Versäumnisse hätte der Präsident aber auch später noch viele Infektionen vermeiden können – wenn er sich für das Tragen von Gesichtsmasken eingesetzt hätte. Anfang April rief die Gesundheitsbehörde CDC die Amerikaner dazu auf, Mund und Nase im öffentlichen Raum zu bedecken – aber Trump sprach sich daraufhin selbst immer wieder dagegen aus, selbst eine Maske zu tragen. Monatelang trat er in der Öffentlichkeit nie mit Maske auf – erst Ende Juli dachte er um. Um das Tragen von Gesichtsmasken wird in den USA seither eine Art Kulturkampf ausgetragen: Trump-Anhänger sehen sie als Angriff auf ihre Freiheit, Anhänger der Demokraten tragen das Stück Stoff deutlich häufiger. Ein Gesundheitsexperte sagte gegenüber dem "Guardian": Hätte Trump die Amerikaner zum Tragen von Masken aufgerufen, wären die Infektionszahlen im Land zurückgegangen und die Wirtschaft hätte sich schneller erholt.
Verschärft hat die Krise außerdem Trumps Ungeduld, die Corona-Beschränkungen wieder zu lockern. Seit das Coronavirus die USA voll erreicht hat, scheint es die größte Sorge des Präsidenten zu sein, die Wirtschaft im Land wieder in Schwung zu bringen. "Die Behandlung kann nicht schlimmer sein als die Krankheit", hat Trump seit März immer wieder gesagt – und davon gesprochen, die USA "wieder zu öffnen". Schon Mitte April, zu Ostern, wollte der Präsident wieder Gottesdienste in Kirchen erlauben – obwohl die Infektionszahlen weiter stiegen.
Wie die "New York Times" schreibt, hat Trump in dieser Phase vor allem auf Deborah Birx gehört, Leiterin der Coronavirus-Taskforce im Weißen Haus. Birx soll Trump ab April immer wieder gesagt haben, die Infektionszahlen in den USA würden bald sinken und das Land sei inzwischen gut gerüstet. Anthony Fauci, der Leiter des CDC, sah das anders – und er behielt recht. Nach und nach wurden in weiten Teilen der USA Corona-Beschränkungen wieder aufgehoben – und die Kurve der Infektionszahlen blieb auf hohem Niveau.
Seit Ende März ist die Zahl der täglichen Corona-Infektionen in den USA nicht mehr unter 18.000 gesunken, Ende Juli stieg sie auf über 70.000, Mitte August stecken sich täglich weiter über 40.000 Menschen in den USA an. Die Vereinigten Staaten sind seit März ununterbrochen ein Corona-Hotspot.