Wird er gehen? Wird Donald Trump seine Wahlniederlage eingestehen – und das Weiße Haus verlassen, bevor Joe Biden am 20. Januar 2021 seinen Amtseid als 46. Präsident der USA ablegt? In den Tagen seit der Schließung der Wahllokale hat Trump bisher einen ganz anderen Eindruck gemacht: Trump hat über Twitter und in Reden vor Journalisten Lügen über angeblichen Wahlbetrug verbreitet, per E-Mail hat seine Kampagne zum Kampf gegen die Wahl aufgerufen.
Dass Trumps Verhalten ein Problem werden würde, hatten Experten seit Monaten vorhergesagt. Watson hatte schon im September darüber geschrieben. Doch will sich Trump wirklich weigern, die Macht abzugeben?
Es gibt auch eine andere Lesart.
Maggie Haberman, Korrespondentin der "New York Times" im Weißen Haus, schrieb am vergangenen Freitag unter Berufung auf Trump nahestehende Personen auf Twitter: Trump könnte mit allen Anstandsregeln brechen, die andere Präsidenten vor ihm bisher vor dem Abtreten beachtet haben: Er könnte Biden vor der Amtsübergabe nicht ins Weiße Haus einladen – oder nicht zum Amtseid Bidens erscheinen. Doch sie schreibt auch: "Aber niemand, mit dem ich gesprochen habe, denkt, dass er die Amtsübergabe verweigern wird."
Trump würde also das Weiße Haus sehr wohl verlassen. Aber eben ohne jemals zuzugeben, dass er die Wahl gegen Joe Biden verloren hat.
Wenn Trump das täte, dann würde er dem Vorbild eines europäischen Politikers folgen, der in den 1990er- und den 2000er-Jahren weltweit viel Aufsehen erregt hat: Silvio Berlusconi.
Berlusconi war dreimal Premierminister Italiens: von 1994 bis 1995, von 2001 bis 2006, von 2008 bis 2011.
Es wäre bei weitem nicht das erste Mal, dass Trump Berlusconis Vorbild folgt, ob bewusst oder ungewollt. Vor allem in seiner zweiten und dritten Regierungszeit hat der heute 84-Jährige in Italien viel von dem vorgemacht, was Trump heute in den USA tut.
Die Linken, die Linksradikalen, die Sozialisten: In seinen Wahlkampfreden und in den TV-Duellen mit seinem Kontrahenten Joe Biden warnte Donald Trump in den vergangenen Monaten regelmäßig vor allerlei Schikanen und Gängelungen, die den US-Amerikanern durch die angeblich scharf nach links abgedrehten Demokraten drohten.
Bei Berlusconi war das ähnlich: Regelmäßig warnte er in seiner Regierungszeit in den 2000er-Jahren vor den "Kommunisten", die in Italien angeblich Justiz und Medien dominierten, und vor linksradikalen Lehrern, die angeblich Kinder indoktrinierten.
Berlusconis Linkenhass ging so weit, dass er jahrelang die Feierlichkeiten zum 25. April schwänzte, einem der italienischen Nationalfeiertage. Durch ihn wird an die Befreiung Italiens vom Faschismus und der Besetzung durch Nazi-Deutschland im Jahr 1945 erinnert. Mit Rechtsextremen flirtete Berlusconi dagegen immer wieder: Über den faschistischen Diktator Benito Mussolini, den treuesten internationalen Verbündeten Adolf Hitlers, sagte Berlusconi 2003, er sei "gutmütiger" als der irakische Machthaber Saddam Hussein gewesen. Und Mussolini habe ja nie jemanden getötet – eine groteske Lüge angesichts der Kriegsverbrechen italienischer Faschisten von Eritrea bis zum Balkan, der politischen Morde an Oppositionellen, der massenhaften Deportation italienischer Juden in deutsche Vernichtungslager.
Trump zeigt ähnliche Milde mit Faschisten, von seinen freundlichen Worten zur rechtsextremen Gruppe "Proud Boys" bis zu seiner Aussage im Sommer 2017, unter marschierenden und prügelnden Neonazis in der Stadt Charlottesville seien "sehr anständige Menschen" gewesen.
Laut Berlusconis Propaganda müsste auch die Justiz von kommunistischen Staatsanwälten und Richtern unterwandert sein. Über 30 Strafverfahren wurden in den vergangenen Jahrzehnten gegen Berlusconi eingeleitet, unter anderem wegen Steuerbetrugs, Bestechung, Bilanzfälschung und Verbindungen zu mafiösen Vereinigungen. Berlusconi reagierte darauf mit Hetzkampagnen gegen die Justiz – und mit schamlosem Machtmissbrauch.
In mehreren Prozessen wurde Berlusconi nur deswegen freigesprochen, weil er als Premier dafür gesorgt hatte, dass die entsprechenden Strafgesetze geändert wurden. Oder, weil seine Anwälte die Verfahren so sehr in die Länge zogen, dass die Straftaten verjährten. In einem einzigen Verfahren wurde Berlusconi schließlich 2013 wegen Steuerbetrugs und Bilanzfälschung verurteilt.
Von Linken durchsetzt waren in Berlusconis Propaganda auch die Medien – vor allem die wenigen, die den Premierminister in seiner Regierungszeit offensiv kritisierten. Besonders verhasst bei Berlusconi waren die damals linksliberale Tageszeitung "La Repubblica" und einzelne Journalisten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.
Diese Obsession Berlusconis war besonders bizarr, weil er selbst damals der mit Abstand mächtigste Medienmogul Italiens war: Ihm gehörten die drei größten privaten TV-Sender – und entsprechend Berlusconi-freundlich waren die Nachrichtensendungen und Talkshows dort. Berlusconi war Eigentümer eines der größten Verlagshäuser, mehrere nationale Tageszeitungen waren quasi Propagandaorgane für Berlusconi.
In der öffentlich-rechtlichen RAI gab es während Berlusconis Regierungszeit mehrere prominente Journalisten, die ihn äußerst freundlich behandelten, darunter den prominenten Talkmaster Bruno Vespa. Bei Vespa war Berlusconi regelmäßig zu Gast und ließ sich freundlich befragen.
Gegen kritische Stimmen ging Berlusconi dagegen skrupellos vor. Im Frühjahr 2002 wütete Berlusconi bei einem Staatsbesuch in Bulgarien bei einer Pressekonferenz über die angeblich "kriminelle Nutzung der öffentlich-rechtlichen Medien" durch den legendären RAI-Journalisten Enzo Biagi sowie über einen Talkmaster und einen Satiriker, die Berlusconi kritisiert hatten. Kurz darauf wurden alle drei durch die RAI entlassen. Tiraden gegen angeblich "unehrliche" und "kriminelle" Medien hatte Berlusconi schon über ein Jahrzehnt vor Trump zur unappetitlichen politischen Routine gemacht.
Trump hat in den USA niemals ähnlich große Kontrolle über Medien erreichen können wie Berlusconi. In den USA gibt es einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk wie in Italien – wo Politiker bis heute einen deutlich größeren Einfluss auf die Öffentlich-Rechtlichen haben als etwa in Deutschland – nicht. Und die Medienlandschaft in den USA ist deutlich größer und vielfältiger als in Italien.
Trumps Verhältnis zu Medien ähnelt dem Berlusconis: Bei (zumindest bis zur Wahlniederlage) loyalen Medien wie dem TV-Sender Fox News war Trump Stammgast, gab dort im Tagesrhythmus Interviews. Kritische Journalisten attackiert er mit extrem aggressiver Rhetorik.
Trump hat übrigens offenbar immer wieder mit dem Gedanken gespielt, Berlusconis Vorbild direkt zu folgen – und einen eigenen TV-Sender zu gründen. Im Jahr 2016 trafen sich Berlusconi und Trump in New York privat, Trump war damals mitten in seinem ersten Präsidentschaftswahlkampf. Laut der italienischen Zeitung "La Stampa" ging es dabei vermutlich auch um Trumps Pläne für einen eigenen TV-Sender.
"We grabbed him by the ballot", wir haben ihn am Wahlzettel gepackt, das stand auf Plakaten, die Trump-Gegner in Städten in den USA am Samstag in die Luft hielten, als die Abwahl des Präsidenten verkündet worden war. Der Slogan ist eine Anspielung auf das Video, das im Jahr 2016, kurz vor der Wahl, auftauchte – und in dem Trump zu hören war, wie er sagte, er könne mit Frauen alles tun, weil er berühmt sei. Unter anderem, sie an den Genitalien anzupacken.
Es ist nur eine von vielen Episoden, die Donald Trumps Sexismus belegen – neben seinen zahlreichen sexistischen Beleidigungen von Politikerinnen und Journalistinnen. Etliche Frauen werfen Trump außerdem vor, sie sexuell bedrängt oder missbraucht zu haben.
Berlusconi hatte während seiner Karriere ebenfalls einen – mild ausgedrückt – problematischen Umgang mit Frauen. In seiner letzten Regierungszeit zwischen 2008 und 2011 wurde ein Prostitutionsring um Berlusconi bekannt, in italienischen und internationalen Medien wurde ausführlich darüber berichtet. Auch in Deutschland ist bis heute vielen der Ausdruck "Bunga Bunga" bekannt, mit dem Orgien und andere Sexpartys bezeichnet wurden, die für Berlusconi in seinen Villen nahe Mailand und auf Sardinien sowie in Rom organisiert wurden und an denen er auch selbst teilnahm – während er Premierminister Italiens war.
Berlusconi musste sich vor Gericht verantworten, weil er die Prostitution minderjähriger Frauen befördert haben soll. In den sogenannten "Ruby"-Prozessen wurde Berlusconi freigesprochen. Es laufen aber bis heute weitere Prozesse gegen Berlusconi, weil er in den "Ruby"-Verfahren Zeugen bestochen und zur Falschaussage angeleitet haben soll.
"Ruby" war der Spitzname der marokkanischen Prostituierten Karima el-Mahroug – die 2010 von der Polizei festgenommen wurde. Berlusconi soll am Tag der Festnahme bei der Polizei angerufen und behauptet haben, die damals 17-jährige "Ruby" sei die Nichte des damaligen ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak.
Der italienische Ex-Premier hat, wie Trump, immer wieder Politikerinnen, Journalistinnen und andere Frauen öffentlich sexistisch beleidigt. Ein Beispiel von Dutzenden: Der Oppositionspolitikerin Rosy Bindi sagte Berlusconi 2009 in einer Talkshow, nachdem sie seine Politik kritisiert hatte: "Wie ich sehe, Signora, sind Sie noch immer schöner als intelligent."
Silvio Berlusconi verlor seine Regierungsmacht im November 2011, knapp fünf Jahre vor der Wahl Trumps zum US-Präsidenten.
Berlusconi musste zurücktreten, weil Italien am Abgrund stand: Damals war die Euro-Schuldenkrise auf ihrem Höhepunkt. Italiens Schuldner hatten fast jedes Vertrauen in die Regierung Berlusconi verloren – unter anderem auch, weil seine sexuellen Eskapaden damals weltweit Schlagzeilen machten. Kaum ein Experte traute Berlusconi zu, das Land aus der Krise zu führen. Die Zinsen auf italienische Staatsanleihen wurden untragbar teuer, die Regierung Berlusconis verlor ein Vertrauensvotum im Parlament. Daraufhin trat Berlusconi zurück.
In Rom ähnelten die Szenen vom Abend, an dem Berlusconi zurücktrat, denen von 2020 nach der Abwahl Trumps in mehreren US-Städten: Partystimmung, Sprechchöre, Menschen, die Sektflaschen entkorken.
Berlusconi hatte als Regierungschef versagt. Doch bis heute verbreitet er eine Verschwörungserzählung über seinen Rücktritt. Der italienische Ex-Premier – der seit 2019 als Abgeordneter im Europaparlament sitzt, in der EVP-Fraktion, der auch CDU und CSU angehören – behauptet, er sei 2011 Opfer eines "Komplotts" europäischer Regierungen gegen ihn geworden, an dem unter anderem Bundeskanzlerin Angela Merkel beteiligt gewesen sei.
Diese Verschwörungserzählung verbreiten rechte Medien in Italien bis heute regelmäßig, viele Italiener sind davon überzeugt, dass sie stimmt. Dass Berlusconis Ansehen damals bei den Partnerstaaten Italiens ruiniert war, stimmt. Ernstzunehmende Hinweise auf ein solches Komplott fehlen bis heute.
Hatte Berlusconi mit seiner Strategie Erfolg – und könnte sie für Donald Trump wirklich ein Vorbild sein? Ja und Nein.
Ja, weil Berlusconi – nachdem er nach seiner bisher einzigen Verurteilung mit dem Verbüßen von Sozialstunden in einem Altenheim davongekommen ist – bis heute reich und auf freiem Fuß ist. Berlusconis Medienimperium ist nach wie vor enorm. Seiner Familie gehören weiterhin Mediaset, eines der größten Medienunternehmen Europas, und das bedeutende Verlagshaus Mondadori. Den glorreichen Fußballklub AC Mailand hat Berlusconi zwar verkauft, inzwischen gehört der Familie Berlusconi aber der ambitionierte italienische Zweitligist AC Monza.
Nein, weil Berlusconi politisch heute nur noch ein Schatten seiner selbst ist. Er ist nach wie vor Vorsitzender der Mitte-Rechts-Partei Forza Italia, die er 1994 selbst gegründet hat. Doch während Berlusconi in den 1990er- und 2000er-Jahren bis zu 30 Prozent der Stimmen holte, kommt die Partei kaum mehr über zehn Prozent. Forza Italia ist zwar seit den 1990er-Jahren im Europaparlament verbündet mit CDU und CSU, die Partei war jedoch immer populistischer und stand weiter rechts als ihre deutschen Schwesterparteien.
Inzwischen ist die Berlusconi-Partei aber von rechts überholt worden: Der große politische Player der italienischen Rechten ist heute die rechtspopulistische, nationalistische und EU-feindliche Lega um Matteo Salvini, früher war die Partei Berlusconis Juniorpartner.
Und auch der Aufstieg der anderen großen populistischen Partei in Italien, der Fünf-Sterne-Bewegung, hat viel mit Berlusconi zu tun.
Die Weder-Links-noch-Rechts-Populisten der Fünf Sterne sind ab 2007 aus der Abscheu vieler Italiener vor der Korruption Berlusconis und der Missachtung des Rechtsstaats durch ihn entstanden. Es war Berlusconis negative politische Energie, die den Fünf-Sterne-Gründer, der Komiker Beppe Grillo, befeuert hat. In der Frühzeit der Fünf Sterne forderten sie vor allem ein härteres Vorgehen des Rechtsstaats gegen korrupte Politiker, eine Stärkung der unabhängigen Justiz und eine ökologische Wende im Land.
2013 landeten die Fünf Sterne dann bei der Parlamentswahl ihren ersten großen politischen Erfolg, holten aus dem Stand über 25 Prozent. Danach rückte die Partei nach rechts, wurde nationalistischer, stark anti-elitär. Einige Fünf-Sterne-Politiker verbreiten Verschwörungsmythen.
Seit der Wahl von 2018 sind die Fünf Sterne an der italienischen Regierung – erst ein Jahr lang mit der Lega, seit dem Sommer 2019 mit der Mitte-Links-Partei Partito Democratico. Die Partei erscheint seither deutlich moderater, vor allem der Premier Giuseppe Conte, der den Fünf Sternen nahesteht, hat sich zum international respektierten Regierungschef gemausert.
Silvio Berlusconi hat dagegen nur noch wenig politische Macht, viele ehemalige Verbündete haben sich von ihm abgewendet. Und im Vergleich zu Lega-Chef Salvini – der in seinem Jahr als italienischer Innenminister zwischen 2018 und 2019 eine unmenschliche Migrationspolitik praktiziert hat und viel radikaler auftritt, als Berlusconi das je getan hat – erscheint Silvio Berlusconi heute vielen Italienern als fast harmlos. Salvini liebäugelt regelmäßig mit einem Austritt Italiens aus der EU und dem Euro. Berlusconi hat das nie getan – wohl, weil das seinen Unternehmen massiv geschadet hätte.
Berlusconi gilt heute vielen als das kleinere Übel. Ob das in ein paar Jahren jemand über Donald Trump sagen wird?