Will zum zweiten beziehungsweise dritten Mal Präsident der Türkei werden: Recep Tayyip Erdoğan.Bild: AP / Burhan Ozbilici
Analyse
23.01.2023, 19:0924.01.2023, 09:44
Yasmin Müller / watson.ch
Auf der ganzen Welt erzählen Politiker ihren Wählern immer wieder, dass die nächste Wahl "wegweisend" oder sogar "die wichtigste ihres Wählerlebens" sein werde. Während das meistens nur eine gewiefte Taktik ist, könnte das für die bevorstehenden Wahlen in der Türkei tatsächlich zutreffen.
Denn es geht um die Fragen, wie die türkische Verfassung ausgelegt wird und ob die Türkei bald zu einer "permanenten Ein-Mann-Show" wird, wie es "The Intercept_" formuliert. Erdoğan selber spricht von einer "Schicksalswahl".
Die Überrumpelung
Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan hat den Termin für die anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen auf den 14. Mai vorverlegt. Das kündigte er am Sonntagabend bei einem Treffen mit jungen Wählern im westtürkischen Bursa an.
Die Wahlen hätten ursprünglich erst im Juni stattfinden sollen. Doch dann würde sie laut eines Beamten mit der Sommerurlaubszeit zusammenfallen, wenn die Menschen auf Reisen oder auf der Pilgerreise nach Mekka sind.
Erdoğan ist nun seit zwei Jahrzehnten nationaler Politiker. Seit 2014 ist er Präsident der Türkei, einem 84-Millionen-Einwohnern-NATO-Verbündeten. Er hat sich in dieser Zeit von einem pragmatischen Wirtschaftsreformer zu einem autoritären Machthaber entwickelt.
Bereits 2018 hat Recep Tayyip Erdoğan einen massiven Personenwahlkampf betrieben.Bild: Getty Images Europe / Chris McGrath
Die Partei AKP
Der Präsident gehört seit 2001 der von ihm gegründeten AKP an – der "Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung". Die Partei verfolgt einen rechtspopulistischen, islamisch-konservativen Kurs.
Die AKP hat während der letzten Jahre eine regelrechte Säuberungsaktion innerhalb der staatlichen Institutionen durchgeführt: Tausende Beamte wurden entlassen oder wegen angeblicher mangelnder Loyalität zur Regierung ins Gefängnis gesteckt. Burak Kadercan, ein Türkei-Experte am U.S. Naval War College, schrieb dazu im Magazin "War on the Rocks":
"Der AKP ist es gelungen, ihren hegemonialen Status in der türkischen Politik zu zementieren, allerdings um den Preis, dass sie genau die Institutionen unterminiert hat, durch die sie regieren sollte."
Als Ergebnis würde sich die politische Landschaft der Türkei "allmählich, aber sicher" verändern.
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Der Vorwurf
Dass Erdoğan die Wahlen vorgezogen hat, sei Kalkül, wirft ihm die Opposition vor. Zudem habe der Präsident die Wahlregeln umgeschrieben, um sich und seiner Partei einen Vorteil zu verschaffen. Denn nur so könne er erneut kandidieren und eine permanentes, autoritäres Regime etablieren.
Tatsächlich sieht die türkische Verfassung maximal zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten mit je fünf Jahren für den Präsidenten vor. Eine dritte Kandidatur wäre nur dann vorgesehen, wenn das Parlament vorzeitige Wahlen ansetzte. Nun will Erdogan den Termin also im Alleingang durchsetzen.
Zwei Freunde: Erdoğan und der russische Präsident Wladimir Putin.Bild: Pool Sputnik Kremlin/AP / Vyacheslav Prokofyev
Erdoğan wurde 2014 zum ersten Mal Präsident – allerdings wurde er damals nicht vom Volk gewählt, sondern vom Parlament, nachdem er zuvor elf Jahre lang Premierminister gewesen war. Erst 2018 wurde sein Amt per Wahl durch das Volk bestätigt.
2018 gab es zudem eine weitreichende Verfassungsänderung: Das Amt des Premierministers wurde abgeschafft und die meisten Befugnisse in den Händen des Präsidenten konzentrierte. Aus einem fast rein zeremoniellen Präsidenten-Amt wurde eine Exekutivpräsidentschaft mit weitreichenden Befugnissen.
Die Regierung argumentiert darum, dass Erdoğans erste Amtszeit nicht zähle.
Wer recht hat, darin sind sich nicht einmal Verfassungsrechtler einig. Doch die oberste Wahlkommission des Landes hat das letzte Wort über die Wählbarkeit von Präsidentschaftskandidaten. Und sie wird Erdoğans Bewerbung wahrscheinlich nicht widersprechen.
Erdoğan und seine Frau Emine. Sie stehen für konservativ-islamische Werte.Bild: Getty Images Europe / WPA Pool
Erdoğan hatte in den vergangenen Wochen beschlossen, dass der Mindestlohn in der Türkei erhöht und die Altersgrenze für rund zwei Millionen Arbeitnehmer aufgehoben werden soll, damit diese früher in Rente gehen können. Da der Präsident im neuen System vom Volk gewählt wird, geht die Opposition davon aus, dass Erdogan die Wahl möglichst bald nach dieser Ankündigung durchführen will.
Im Weitere können Erdoğan und seine Partei die Aussichten auf einen Wahlsieg verbessern, wenn sie die Demokratische Volkspartei (CHP) schwächen. Denn 2019 unterlag Erdoğans Regierungspartei bei den Kommunalwahlen im ganzen Land gegen die CHP. Ein Gericht erwägt zurzeit die Auflösung der CHP wegen Separatismusvorwürfen im Zusammenhang mit angeblichen Verbindungen zu kurdischen Militanten, schreibt die "Washington Post".
Zudem gilt seit April letzten Jahres eine Regel, dass der Prozentsatz der Gesamtstimmen, die eine Partei gewinnen muss, um ins Parlament einzuziehen, von 10 auf 7 Prozent reduziert wurde. So würde das Risiko eines Wahlwettbewerbs zwischen etablierte Parteien verringert, meint unter anderem die Heinrich Böll Stiftung. Die Stiftung fasst die Auswirkungen der neuen Wahlregeln so zusammen:
"Mit anderen Worten, Kandidaten und Parteien, die gegen die aktuelle politische Mehrheit und den amtierenden Präsidenten antreten, wird dauerhaft die Möglichkeit verwehrt, sich und ihre Programme der Wählerschaft angemessen zu erklären."
Die Opposition
Die bevorstehenden Wahlen seien "die letzte Chance für die Opposition" zu verhindern, dass die Türkei von einem Land mit unabhängigen Institutionen zu einem personalistischen Regime mit Führerkult absteige, sagt Gönül Tol gegenüber "The Intercept_". Tol ist Autorin des Buches "Erdoğan's War: A Strongman's Struggle at Home and in Syria" und Leiterin des Türkei-Programms des Middle East Institute der Frontier Europe Initiative.
Präsident Erdoğan und der AKP steht besonders ein Zusammenschluss von sechs Parteien entgegen – der sogenannte "Sechser Tisch". Ihr Ziel: Die Konsolidierung der Macht unter Erdoğan rückgängig zu machen beziehungsweise das von Tol befürchtete "Regime mit Führerkult" zu verhindern sowie das Land wieder in eine parlamentarische Demokratie zu überführen.
Zum "Sechser Tisch" gehören: die mitte-links CHP, die liberalkonservative Demokratie- und Durchbruchspartei (DEVA), die nationalistische IYI-Partei, die islamisch-konservative Saadet-Partei, die Demokratische Partei (DP) und die konservativ, liberale Gelecek-Partei.
Die Opposition macht den 68-jährigen Erdoğan für die katastrophale wirtschaftliche Lage in der Türkei und die Aushöhlung der Bürgerrechte und Freiheiten verantwortlich.
Umfragen zeigen, dass die Wählerschaft zwischen den Anhängern Erdoğans und den verschiedenen Oppositionsbewegungen in etwa gleich stark ist. Allerdings gehen Experten davon aus, dass die Oppositionspartei nur dann wirklich eine Chance haben wird, wenn es ihr gelingt, die Kurden auf ihre Seiten zu ziehen. Doch bislang hätten sie es versäumt, hier ernsthafte Bemühungen zu zeigen, so Tol im "The Intercept_".
Nicht nur im Iran, auch in der Türkei haben Kurden einen schweren Stand.Bild: Getty Images North America / Win McNamee
Die Probleme der Oppositionen
Der "Sechser Tisch" hat aktuell besonders zwei Probleme: Die Opposition verspricht zwar durch Konsens zu regieren, hat aber noch keinen Gegenkandidaten aufgestellt. Und die pro-kurdische Demokratische Volkspartei (HDP) – ein wichtiger Mehrheitsbeschaffer – gehört offiziell nicht zum "Sechser Tisch".
Die HDP bildet mit kleinen Parteien ein weiteres Bündnis und hat angekündigt, einen eigenen Kandidaten aufzustellen. Die Zukunft der HDP scheint allgemein ungewiss. Denn der populäre HDP-Vorsitzende, Selahattin Demirtaş, sitzt seit 2016 im Gefängnis und sieht sich ernsthaften Drohungen türkischer Gerichte ausgesetzt – vielleicht ein Vorspiel für ein vollständiges Verbot der Partei.
Kemal Kilicdaroglu, Vorsitzender der CHP, hat sich derweilen als Kandidat des "Sechser Tischs" zur Verfügung gestellt, er ist aber bei weitem nicht so populär wie der Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu – doch der wurde ebenfalls zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.
Ekrem İmamoğlu sitzt wohl bald hinter Gittern.Bild: Getty Images Europe / Burak Kara
İmamoğlu galt lange als der einzige ernsthafte Konkurrent Erdoğans bei der Präsidentschaftswahl. Bei den Kommunalwahlen 2019 trat er als CHP-Vertreter für den Posten des Bürgermeisters von Istanbul an und gewann. Die AKP verlangte daraufhin zwar eine Nachzählung der Stimmen, doch die türkische Wahlkommission erklärte İmamoğlu trotzdem zum Wahlsieger. Daraufhin legte die AKP Beschwerde ein und es wurden Neuwahlen anberaumt, die İmamoğlu sogar noch deutlicher gewann.
Doch İmamoğlu konnte doch noch rechtzeitig aus dem Weg geräumt werden: Im Dezember 2022 wurde der Bürgermeister von einem türkischen Gericht zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt und mit einem Politikverbot belegt. Der Grund: Er hat in einer Pressemitteilung von 2019 Wahlbeamte als "Narren" bezeichnet. Die Regierung bestreitet, Gegner des Präsidenten aus politischen Gründen einzusperren.
Wer für den "Sechser Tisch" antritt, soll erst im Februar bekannt gegeben werden. Doch mit der Ankündigung von Erdoğan, die Wahlen vorzuziehen, setzt er die Oppositionsbewegung unter Druck, schneller zu entscheiden.
Wie es mit der Türkei weitergeht, wird sich also bereits im Mai zeigen. Sollte denn einer der Kandidat mehr als 50 Prozent der Stimmen erhalten. Ansonsten würde am 28. Mai ein zweiter Wahlgang stattfinden.