Am Sonntag ist nicht nur Bundestagswahl.
Ja, Medien aus Deutschland und der ganzen Welt werden am 26. September vor allem darauf schauen, wie das Parlament aussieht, das gut 60 Millionen Wähler in ganz Deutschland zusammengewählt haben.
In der Hauptstadt Berlin dürfen die Wahlberechtigten aber noch ein paar zusätzliche Entscheidungen treffen:
Die Abgeordnetenhauswahl wird über die politische Richtung entscheiden, die das Land Berlin im kommenden halben Jahrzehnt einschlägt. Das betrifft natürlich in erster Linie die Einwohnerinnen und Einwohner der Hauptstadt.
Es gibt aber auch drei Gründe, weshalb die Abgeordnetenhauswahl in Berlin auch für Menschen in Berchtesgaden, im Odenwald oder in Flensburg spannend ist.
Wenn süddeutsche Politiker wie der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder oder der grüne Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer sagen, wie Dinge besser nicht laufen sollten, dann sprechen sie oft von "Berliner Verhältnissen". Berlin ist im Kopf vieler Menschen im Rest Deutschlands – besonders für eher konservativ Denkende – ein abschreckendes Beispiel: dreckige Straßen, unbehelligte Drogendealer in Parks, eine überforderte öffentliche Verwaltung.
Das stimmt vor allem, seit Rot-Rot-Grün in der Hauptstadt regiert. Nach der Berliner Abgeordnetenhauswahl 2016 haben SPD, Grüne und Linke eine Koalition gebildet – und SPD-Politiker Michael Müller zum Regierenden Bürgermeister gewählt. Er steht einem Senat (so heißt in Berlin die Landesregierung) vor, in dem grüne und linke Politiker wichtige Rollen einnehmen.
Neben Thüringen und Bremen ist Berlin eines von drei Bundesländern mit einer rot-rot-grünen Regierung. Und gerade den Berliner Senat bedenken Konservative und Liberale gerne mit Spott und beißender Kritik: wenn linksradikale Hausbesetzer die Polizei tagelang in Atem halten oder wenn das Berliner Landessozialamt, wie im Herbst 2015, mit dem Ansturm geflüchteter Menschen kapituliert und viel Leid verursacht.
Gut möglich, dass Menschen wie Söder und Palmer bald ihr Feindbild abhandenkommt.
Denn Franziska Giffey – SPD-Spitzenkandidatin, bis Mai 2021 Bundesfamilienministerin und laut den Umfragen aussichtsreiche Kandidatin auf den Posten der Regierenden Bürgermeisterin – hat scheinbar wenig Lust, mit Grünen und Linken zu regieren. Giffey schlägt im Wahlkampf einen merklich konservativeren Ton an als der bisher regierende Michael Müller (der auf einem bombensicheren Listenplatz für den Bundestag kandidiert).
"Ganz sicher Berlin" heißt der Wahlkampfslogan der Berlin-SPD um Giffey. Die über ihre plagiierte Doktorarbeit gestürzte Ex-Bundesministerin will offenbar von dem Ruf als zupackende Kommunalpolitikerin profitieren, den sie sich bis 2018 als Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Neukölln erarbeitet hat.
Giffey fordert, anders als Grüne und Linke in Berlin, eine Bebauung des ehemaligen Flughafens Tempelhof – der bisher eine gigantische Freifläche mitten in der Hauptstadt ist, auf dem tausende Menschen an sonnigen Wochenenden ihre Freizeit verbringen. Die Sozialdemokratin ist für eine Verlängerung der Stadautobahn A100 im Südosten Berlins – Linke und Grüne wollen keine zusätzlichen Autobahnkilometer. Und: Sie lehnt das erwähnte Volksbegehren zur Enteignung großer Immobilienunternehmen ab – für das Linke und Grüne sich starkgemacht haben.
Was Giffey im Wahlkampf sage, sei "CDU pur", so zitiert "Tagesschau.de" den Berliner CDU-Spitzenkandidaten Burkard Dregger. Der Kurs Giffeys im Wahlkampf lässt Berliner Medien fast einhellig darauf schließen, dass die SPD-Spitzenkandidatin es mit einem neuen Bündnis probieren will: mit CDU und FDP, Rot-Schwarz-Gelb statt Rot-Rot-Grün.
Es wäre, nach der Bildung einer schwarz-rot-gelben Koalition in Sachsen-Anhalt vor wenigen Tagen, die zweite Landesregierung aus SPD, CDU und FDP. Wie eine solche Koalition die gewaltigen Herausforderungen anpacken würde, vor denen Berlin steht – von der Wohnungsnot über den Wandel zu einer klimaneutralen Stadt bis hin zum Kampf gegen organisierte Kriminalität – wird auch für Menschen im Rest Deutschlands interessant. Nicht nur für Markus Söder und Boris Palmer.
Berlin ist eine Stadt, die den Rest Deutschlands grob gesagt in zwei Lager spaltet: in Berlin-Hasser und Berlin-Liebhaber. Die einen fühlen sich abgestoßen von vermeintlichem oder echtem Chaos, von Lärm und Schmutz und einer Scheiß-egal-Mentalität, die den Hauptstädtern nachgesagt wird. Für die anderen ist Berlin ein Sehnsuchtsort: wegen seiner vielfältigen Lokale, Kneipen, Kinos, wegen seiner Clubkultur, wegen der Freiheitsliebe und Weltoffenheit, die die Stadt ausstrahlt.
Hinter beidem, der harten Abneigung wie der innigen Liebe zu Berlin, stecken oft Klischees. Die Wahrheit ist komplizierter.
In Berlin gibt es auch einfach Ecken, in denen es aussieht wie in einer süddeutschen Kleinstadt – und es gibt Wahlergebnisse, die nicht ins Bild von der liberalen, weltoffenen, chaotischen Weltstadt passen. Der Punkt ist: Berlin hat fast 4 Millionen Einwohner und breitet sich auf einer riesigen Fläche aus – mit 12 sehr unterschiedlichen Bezirken.
Das sieht man auch den Wahlergebnissen. Einerseits Friedrichshain-Kreuzberg, wo bei der Abgeordnetenhauswahl 2016 rund 70 Prozent der Menschen für Grüne, Linke oder SPD stimmten. Andererseits Reinickendorf und Steglitz-Zehlendorf, wo die CDU bessere Ergebnisse erreichte als in Baden-Württemberg. Lichtenberg, wo die Linke fast die 30-Prozent-Marke erreichte – und Marzahn-Hellersdorf, wo die AfD mit fast 24 Prozent ähnlich stark abschnitt wie in Sachsen oder Thüringen.
Eine der spannenden Fragen dieser Berlin-Wahl wird sein, wie stark diese Unterschiede diesmal zum Ausdruck kommen. Alle, die ein bisschen genauer hinschauen, können aus den Ergebnissen jedenfalls lernen, dass Berlin viel zu kompliziert ist, um in ein Klischee zu passen.
So sieht übrigens die letzte Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen für Berlin aus:
Berlin ist die deutsche Hauptstadt – und es ist eine der wichtigsten europäischen Metropolen. Über den Volksentscheid zur Enteignung von Wohnungsunternehmen schreibt auch das "Wall Street Journal", von den Pop-up-Radwegen in der Hauptstadt erfahren Leser des "Guardian". Politische Entscheidungen, die in diesem Stadtstaat getroffen werden, haben eine andere Strahlkraft als die in München oder Hamburg.
watson hat vor der Abgeordnetenhauswahl bei den größten demokratischen Parteien nachgefragt, welche Bedeutung aus ihrer Sicht die Wahl für den Rest Deutschlands hat.
Für die Grünen hat Renate Künast geantwortet, von 2001 bis 2005 Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz – und danach bis 2013 Fraktionschefin im Bundestag. Sie betont vor allem die Vorbildfunktion, die der Hauptstadt aus ihrer Sicht zukommt.
Gegenüber watson erklärt Künast:
CDU und SPD haben die watson-Anfrage unbeantwortet gelassen.
Christoph Meyer, Bundestagsabgeordneter der FDP und Vorsitzender des Berliner Landesverbands der Partei, wünscht sich, dass die Wähler in Berlin Rot-Rot-Grün eine Absage erteilen – und dass daraus auch ein Signal für den Rest Deutschlands entsteht.
Gegenüber watson erklärt er:
Ein völlig entgegengesetztes Zeichen aus der Hauptstadt wünscht sich Katina Schubert, Landesvorsitzende der Linken in Berlin und seit dem Linken-Parteitag im Februar stellvertretende Bundesvorsitzende der Partei. Auf die Frage von watson, warum die Berlin-Wahl für ganz Deutschland wichtig ist, meint Schubert:
Schubert spielt damit auf das Volksbegehren zur Enteignung von Wohnungskonzernen an, das die Linken in Berlin maßgeblich unterstützt haben – und auf Artikel 15 des Grundgesetzes, der die Vergesellschaftung von "Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln" grundsätzlich ermöglicht. Er wurde seit Gründung der Bundesrepublik bisher nie angewendet.
Sollte sich das nach der Abgeordnetenhauswahl und dem Volksentscheid zur Enteignung wirklich ändern, würde auf Berlin wieder einmal ganz Deutschland auf die Berliner Landespolitik schauen – mit Bewunderung oder Entsetzen, je nach Standpunkt.
Egal ist diese Stadt aber fast niemandem.