Am vergangenen Mittwoch hat die Bundesregierung bekannt gegeben, dass der russische Regimekritiker Alexej Nawalny vergiftet worden ist – laut den Analysen eines Bundeswehrlabors mit einem Kampfstoff der Nowitschok-Gruppe. Es stellten sich "schwerwiegende Fragen, die nur die russische Regierung beantworten kann", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Seither läuft die Diskussion darüber, wie Deutschland auf dieses Verbrechen reagieren soll. Die Indizien dafür, dass die russische Regierung dafür verantwortlich sein könnte, wiegen schwer: von den früheren Anschlägen auf russische Oppositionelle über die Tatsache, dass Nowitschok-Giftstoffe nach Expertenmeinung kaum von jemand anderem als von Geheimdiensten hergestellt, gelagert und verwendet werden können – bis hin dazu, dass Nawalny bis zu seiner Vergiftung lückenlos vom russischen Geheimdienst bewacht wurde, wie Alice Bota, Korrespondentin der "Zeit" in Russland, schreibt.
Wie kann Deutschland darauf reagieren? Drei mögliche Szenarien und ihre Vor- und Nachteile im Überblick.
Ein Projekt, das nach dem Giftanschlag auf Nawalny zur Debatte steht, ist die Gas-Pipeline Nord Stream 2. Nord Stream 2, das sind zwei Stränge von Röhren, die zwischen der russischen und der deutschen Ostseeküste unter dem Meer verlaufen. Die Röhren sollen gut 1200 Kilometer lang sein und Erdgas direkt von Russland nach Deutschland transportieren.
Die Nord-Stream-Leitungen sind seit Jahren heftig umstritten: Die Pipelines erlauben es Russland, Erdgas direkt nach Mitteleuropa zu transportieren, ohne dass es durch die Ukraine fließt, mit der sich Russland seit Jahren im offenen Konflikt befindet. Sowohl die USA als auch mehrere EU-Staaten werfen Deutschland vor, bei dem Projekt egoistisch zu handeln.
Die erste deutsch-russische Gas-Pipeline Nord Stream ist schon 2011 eröffnet worden und seither in Betrieb. Nord Stream 2 sollte ursprünglich Ende 2019 fertiggestellt werden. Das hat aber nicht geklappt: Zunächst, weil die USA Sanktionen angedroht hatten - dann, weil dänische Behörden aus Naturschutzgründen den letzten Bauabschnitt vorläufig gestoppt haben. Derzeit fehlen noch rund 160 von 1200 Kilometern bis zur Fertigstellung von Nord Stream 2.
Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre Regierung hatten das Projekt jahrelang gegen heftige Kritik verteidigt – und selbst nach der Annexion der Halbinsel Krim durch Russland und dem Krieg in der Ostukraine daran festgehalten.
Bei allen bisherigen vermuteten oder bestätigten Angriffen der russischen Führung gegen Oppositionelle oder Journalisten, beim Hackerangriff auf den Bundestag 2015 oder beim Mord eines Georgiers im Berliner Tierpark 2019: So scharf die Worte aus Berlin auch waren, auf den erwarteten Geldregen durch Nord Stream 2 konnte sich die Regierung in Moskau bisher trotzdem verlassen.
Sollte Deutschland Nord Stream 2 stoppen, dann wäre das ein politischer Paukenschlag – und damit ein deutliches Signal an die Regierung in Moskau, dass mit dem Anschlag gegen Nawalny eine rote Linie überschritten ist.
Ein Baustopp wäre aber auch ein schmerzhafter wirtschaftlicher Einschnitt für Unternehmen in Deutschland: Vertreter der Gas-Industrie sprechen davon, dass ein Abbruch von Nord Stream 2 für die rund 120 beteiligten Unternehmen aus ganz Europa großen Schaden bedeuten würden: Sie müssten Investitionen in Höhe von insgesamt acht Milliarden Euro in den Sand setzen, sagt Timm Kehler, Vorstand der Lobbyorganisation Zukunft Gas, dem Nordkurier. Oliver Hermes, Vorsitzender des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft, sieht durch einen möglichen Baustopp Jobs – vor allem in Ostdeutschland – gefährdet.
Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Russland und Deutschland sind natürlich viel größer als Nord Stream 2: Die Bundesrepublik ist mit einem Handelsvolumen von 47,5 Milliarden Euro laut den Zahlen der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer der zweitwichtigste Partner Russlands.
Deutschland hat durch seine wirtschaftliche Stärke und seine Verflechtung mit Russland eine machtvolle Position. Wenn die deutsche Politik sich wegen des Giftanschlags auf Nawalny für Sanktionen einsetzt, dann kann das die russische Wirtschaft hart treffen – und dadurch ein weiteres deutliches Stoppschild in Richtung Moskau aufstellen.
Deutschland kann wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland eigentlich nur zusammen mit den anderen 26 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union beschließen. Denn für die Handelspolitik ist fast ausschließlich die EU zuständig.
Außerdem sind längst EU-Sanktionen gegen Russland in Kraft: Nach der Krim-Annexion und dem Krieg in der Ostukraine hat die EU nach und nach Einschränkungen im Handel mit Russland beschlossen. Diese Sanktionen haben laut von Tagesschau.de zitierten Experten schon jetzt dafür gesorgt, dass der Austausch zwischen EU-Staaten und Russland um einen dreistelligen Milliardenbetrag geschrumpft sind.
Außerdem hat Russland schon vor Jahren Gegenmaßnahmen gegen europäische Staaten beschlossen – und unter anderem den Import von Lebensmitteln aus der EU nach Russland deutlich eingeschränkt.
Seit Jahren beklagen Unternehmen aus unterschiedlichen Bereichen in ganz Europa die Verluste durch die Sanktionen. Weitere Wirtschaftssanktionen wegen des Anschlags auf Nawalny würden vermutlich also auch in Europa wirtschaftliche Schäden verursachen.
Es gibt eine Alternative zu wirtschaftlichen Sanktionen – die Unternehmen und Arbeitnehmer auf beiden Seiten treffen: nämlich Strafmaßnahmen gegen einzelne mächtige Personen in Russland.
So fordert etwa der Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripour, den "Garanten des Systems Putin" müsse "umgehend der Stecker gezogen werden". Nouripour fordert Maßnahmen wie das Einfrieren von Geld, das russische Oligarchen, also besonders mächtige Wirtschaftsführer und Politiker, auf Konten in der EU geparkt haben – oder von Immobilien, die sie in den EU-Staaten gekauft haben.
Es wäre nicht das erste Mal: Auch ein Teil der seit 2014 beschlossenen EU-Sanktionen gegen Russland richtet sich gegen Einzelpersonen. Und schon nach dem Giftanschlag gegen den ehemaligen russischen Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter Julija im Jahr 2018, beschloss die EU Sanktionen gegen die Führung des russischen Militärgeheimdienstes GRU.
Solche Sanktionen gegen mächtige Menschen im Machtsystem um den russischen Präsidenten Putin könnten die dortige Elite treffen. Durch mehrere journalistische Recherchen, unter anderem von Nawalny selbst, ist nachgewiesen worden, dass diese Menschen in West- und Mitteleuropa Eigentum angehäuft haben: so soll zum Beispiel der russische Premierminister Dimitri Medwedew teure Grundstücke in der Toskana in Mittelitalien besitzen.
Ein möglicher Nachteil von Sanktionen gegen reiche Einzelpersonen: Sie könnten am Ende dazu beitragen, Präsident Putin und seinen Machtapparat zu stärken. Oligarchen und andere Mächtige hätten dann keine Möglichkeit mehr, Reichtum außerhalb Russlands aufzubauen – und würden noch stärker von der Gunst Putins abhängen.
Ein Beispiel dafür: Im April 2018 verhängten die USA Sanktionen gegen mehrere prominente russische Unternehmer. Daraufhin verloren die Aktien der Firmen im Eigentum dieser Menschen an mehreren internationalen Börsen massiv an Wert – und die russische Regierung sagte ihre finanzielle Unterstützung für die Oligarchen zu.
(se)