Ein Triell der zwei Kanzlerkandidaten und der Kanzlerinnenkandidatin auf Twitch, der Livestreaming-Plattform, auf der vor allem Videospiele übertragen werden. Das war die Idee von Youtuber Rezo und Tilo Jung vom Interview-Format "Jung&Naiv". Annalena Baerbock (Grüne) und Olaf Scholz (SPD) hatten sich nach Rezos Angaben bereit erklärt. Armin Laschet (CDU) sagte ab. Somit fiel der Stream aus. "An dieser Idee hat mich gecatched, überhaupt dieses Zeichen zu setzen und zu sagen: 'Hey, wir gehen als Politiker auf die Plattform, wo sich die unter 30-Jährigen die ganze Zeit aufhalten", erklärt Rezo in einem Stream.
Dass sich alle unter 30-Jährigen auf der Streamingplattform Twitch tummeln, kann bezweifelt werden. Trotzdem hat Rezo mit seiner Kritik einen Punkt: Die Kandidierenden könnten sich im Wahlkampf einen Abend Zeit nehmen, um sich in den sozialen Medien einem Triell zu stellen.
Diese Ansicht vertritt auch Andreas Klee. Er ist Politikwissenschaftler an der Universität Bremen, seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem politische Bildungs- und Partizipationsforschung. Klee beschäftigt sich also damit, wie intensiv und in welcher Form Menschen sich am politischen Leben beteiligen.
Grundsätzlich hält es der Politikwissenschaftler für angebracht, dass sich ein Kandidat, der anstrebt die Gesamtbevölkerung zu repräsentieren, auch jungen Menschen begegnet. Das könne zum Beispiel in Form eines Youtube-Formates sein. Trotzdem: "Hätte Armin Laschet sich mit Rezo getroffen, könnte er sich trotzdem nicht damit zufriedengeben und an die Jugendlichen ein Häkchen machen", sagt der Wissenschaftler.
Grund dafür sei die Kluft zwischen bildungsnäheren und bildungsferneren Schichten, die sich gerade beim politischen Engagement vieler Jugendlicher zeige. "Es gibt eine größere Gruppe von Jugendlichen, die sich überhaupt nicht mehr in irgendeiner Art von Politik berührt fühlen", erklärt der Politikwissenschaftler.
Die Herausforderung, vor der die Gesellschaft stehe, sei nicht, dass sich zu wenige Menschen für Politik interessierten. "Das Interesse an Politik ist durchaus vorhanden, aber auch da gibt es eine Trennlinie entlang Bildung und sozio-ökonomischem Background." Dementsprechend müsse gefragt werden, wie die Teilhabe an Politik für jeden gewährleistet werden kann, fasst Klee zusammen. "Das Interesse an traditionellen Formaten wie einer Wahl teilzunehmen, das klingt ab", sagt Klee. Genauso das Interesse, Mitglied in einer Partei zu sein. "Die Diskussion müsste also sein, wie können wir neue Formate finden", sagt der Wissenschaftler.
Eine von "ProjectTogether" in Auftrag gegebene Studie kam zu der Erkenntnis, dass sich viele junge Menschen von den Parteien nicht repräsentiert sehen. Viele nähmen eine Lücke zwischen der eigenen Lebensrealität und der Politik wahr. "Sie fühlen sich missverstanden, nicht in ihren Interessen vertreten und können sich mit Politik, Politikerinnen und Politikern nicht identifizieren", heißt es in der Studienauswertung.
Manche der Studienteilnehmenden hätten außerdem den Eindruck, Politik werde vor allem für ältere Wähler gemacht. In der Auswertung steht:
Gleichzeitig hätten viele junge Menschen aber auch Angst, ihre Stimme einer falschen Partei zu geben. Diese Angst vergrößere sich bei fehlendem politischen Wissen. Aber auch die informierten Teilnehmenden berichteten von einer Politikverdrossenheit. In der Studienauswertung steht: "Die Teilnehmenden erzählen mitunter, dass sie mit der Politik nicht einverstanden sind. Wahlmöglichkeiten zwischen Parteien seien gering. Diese gehen nicht die Themen an, die den Teilnehmenden wichtig sind."
Die Studienautoren kommen zu dem Schluss, dass es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, um junge Menschen wieder häufiger für den Gang an die Wahlurne zu motivieren. Wichtig sei jedoch in jedem Fall, das demokratische Bewusstsein zu stärken.
Davon ist auch der Politikwissenschaftler Andreas Klee überzeugt. Er sagt: "Es ist eine gesamtgesellschaftliche Kraftanstrengung notwendig." Dadurch, dass es in den vergangenen Jahrzehnten einen gewissen Wohlstand gegeben hat, seien die Menschen zufrieden gewesen und hätten sich weniger um Politik und Demokratie gekümmert. "Wir müssen uns alle wieder bewusster werden, dass es unseren Einsatz braucht", sagt Klee. Außerdem brauche es eine Bereitschaft zur Öffnung, zum Beispiel durch das Herabsenken des Wahlalters auf 16 Jahre.
Dass sich viele junge Menschen nicht repräsentiert fühlten, ist für den Wissenschaftler keine Überraschung: "Die Wahlprogramme sind von älteren Menschen gemacht", sagt Klee. Das sei schon früher so gewesen. Was aber aus Sicht des Wissenschaftlers ein neues Phänomen ist: dass Jugendliche überhaupt die Möglichkeit hätten, sich zu artikulieren und in die Öffentlichkeit zu geraten. "Es sind neue Herausforderungen. So wird die Kluft, die schon immer da war, plötzlich sichtbar und der Schein der Repräsentativität brüchiger", erklärt er. Eine solche Sichtbarmachung von politisch unterrepräsentierten Gruppen habe es zum Beispiel auch in der Frauen- und Emanzipationsbewegung gegeben.
Auffällig sei, dass gerade jüngere Menschen vor allem themen- und zeitspezifische Interessen verträten. "Es ist ein Projektgedanke, der in der Politik eine stärkere Rolle spielen muss", sagt Klee. Denn so wie früher davon zu sprechen, dass Arbeiter bei der SPD und alle Katholiken bei der CDU unterkämen, werde der aktuellen Zeit nicht mehr gerecht.
Dadurch, dass sich die Gesellschaft außerdem immer weiter ausdifferenziert, muss nach Ansicht Klees neu verhandelt werden, wie zwei wichtige Ziele zu erreichen sind, die auf den ersten Blick im Gegensatz zueinander stehen: zum einen ein Grundkonsens bei manchen Themen – zum anderen möglichst viel individuelle Freiheit.
watson hat die Jugendorganisationen der CDU, der SPD, der FDP, der Linken und der Grünen angefragt, wie gut oder schlecht aus ihrer Sicht junge Menschen in der politischen Diskussion und in den Wahlprogrammen vertreten sind. Die grüne Jugend, die jungen Liberalen (Julis) und die SPD-Jugendorganisation Jusos haben sich gegenüber watson geäußert.
Georg Kurz, Bundessprecher der grünen Jugend, hat den Eindruck, dass junge Menschen zu wenig Repräsentation erfahren. Gegenüber watson sagt er:
Diese Auswirkungen zeigen sich laut Kurz bei akuten Fragen, wie Luftfiltern für den coronasicheren Unterricht – genauso wie bei der "Menschheitsfrage Klimakrise". "Die Interessen von jungen Menschen dürfen nicht länger ignoriert werden", sagt er. Auf die Frage, mit welchen Punkten im Parteiprogramm sich die Grünen um die Stimme junger Wähler bemühten, antwortet er:
Deshalb, so Kurz' Meinung, ist es ungerecht, alle Menschen unter 18 Jahren von der Mitentscheidung auszuschließen.
Der Bundesvorsitzende der Julis, Jens Teutrine ist davon überzeugt, dass diese junge Generation so interessiert an Politik ist wie kaum eine vor ihr. Gegenüber watson sagt Teutrine:
Gehe die Verdrossenheit aber so weit, dass politische Institutionen, Parteien und Politiker grundsätzlich infrage gestellt würden, könne sich diese Skepsis "schnell zu Demokratieverdrossenheit entwickeln". Aus diesem Grund ist es nach Teutrines Ansicht wichtig, junge Menschen möglichst früh in demokratische Prozesse einzubinden:
Teutrine ist davon überzeugt: Je mehr die politischen Jugendorganisationen ihre Mutterparteien inhaltlich und personell beeinflussen, desto größer sei der Beitrag gegen eine drohende Parteienverdrossenheit einer Generation.
Dass junge Menschen mehr Repräsentation in den deutschen Parlamenten brauchen, davon ist auch der stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD-Jugendorganisation Jusos, Stephan Schumann, überzeugt. Gegenüber watson sagt er:
Um auch weniger an Politik interessierte Menschen mit den Themen der SPD zu erreichen, organisieren die Jusos eine Wahlkampagne, die auf die junge Generation zugeschnitten sein soll. "In unserer Kampagne zeigen wir auf, wo es Probleme gibt, die vielen von uns im alltäglichen Leben begegnen und bieten dazu politische Lösungen an", sagt Schumann.
Um junge Menschen besser einbeziehen zu können, haben auch die Jusos das Programm ihrer Mutterpartei entsprechend mitgestaltet. Es enthalte deshalb viele Forderungen, die nach Ansicht von Schumann für junge Menschen und deren Zukunft wichtig sind. Darunter: Ausbildungsgarantie, Digitalisierung, Bafög und Kindergrundsicherung. Außerdem, dass der Klimaschutz ernst genommen würde – aber "Klimaschutz darf kein Luxusprodukt werden, sondern muss für alle möglich sein."