Der schreckliche Mordfall an einer fünfköpfigen Familie im brandenburgischen Stadtteil Königs Wusterhausen vom Wochenende sorgt weiterhin für Entsetzen. Laut aktuellen Erkenntnissen tötete der Vater seine Frau und drei Töchter und anschließend sich selbst. Vor allem der laut Abschiedsbrief angegebene Grund für diese Tat klingt fast schon zu absurd, um wahr zu sein: ein gefälschtes Impfzertifikat.
Die Mutter soll diesen, vom Vater gefälschten, Impfausweis auf ihrer Arbeitsstelle vorgezeigt haben. Die Arbeitgeberin der Frau habe von der Fälschung erfahren und um eine schriftliche Stellungnahme gebeten. Deshalb habe das Ehepaar Angst vor einer Festnahme und dem Verlust der Kinder gehabt, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Cottbus am Dienstag und berief sich auf den Abschiedsbrief.
Erste Erkenntnisse weisen darauf hin, dass der Vater im Dunstfeld von Corona-Gegnern und Querdenkern agierte. Wie das "Redaktionsnetzwerk Deutschland" am Mittwoch berichtete, war der Mann mindestens seit diesem Sommer in einschlägigen Telegram-Gruppen aktiv.
Am Samstagmittag hatten Zeugen in einem Einfamilienhaus in Königs Wusterhausen leblose Menschen gesehen und die Polizei alarmiert.
Droht unserer Gesellschaft nun eine neue Eskalation der Gewalt, verursacht durch Corona? "Am heutigen Mittwoch wurde bekannt, dass das LKA Sachsen wegen einem Mordaufruf einer Telegram-Chatgruppe an dem sächsischen Innenminister Michael Kretschmann ermittelt. Äußerungen einzelner Mitglieder zum angeblichen Besitz von scharfen Waffen und Armbrüsten fließen in die Bewertung ein", teilte das LKA mit.
Watson hat mit Experten für Gewalt, Sekten und Verschwörungserzählungen über die Tat selbst gesprochen und darüber, wie es zu einer so starken Radikalisierung kommen konnte.
Niklas Vögeding ist Berater und Projektentwickler des Vereins "Veritas", einer Beratungsstelle für Betroffene von Verschwörungserzählungen in Berlin. Er beschäftigt sich täglich mit den Beweggründen von Menschen, die Verschwörungserzählungen anhängen. Vögeding zeigt sich persönlich tief betroffen von dem Vorfall in Königs Wusterhausen: "Bei so einer Tat muss ein hohes Maß an Verzweiflung vorherrschen", sagt er gegenüber watson.
Er will aus der Ferne keine Diagnose über den konkreten Fall anstellen, doch "wirklich überraschend kommt es nicht, dass so etwas passiert. Man erkennt eine zunehmende Radikalisierung in der Szene."
Diese Radikalisierung habe verschiedenen Abstufungen: Sie müsse nicht zwangsläufig in Gewalt umschlagen, sondern könne sich stattdessen beispielsweise auch in Ausreiseplänen, Demonstrationen, Wahlergebnissen oder Hassbotschaften äußern.
Vögeding führt aus:
Typisch dabei ist auch, die Verantwortung für eine Tat von sich selbst wegzuschieben: "Menschen in ideologischen Milieus wähnen sich einer Diktatur, in einem Krieg und aus so einer Position heraus ist jedes Mittel recht, um sich zu wehren", so Vögeding. Dieses selbst gewählte Narrativ von Verschwörungsgläubigen sei ein wichtiger Punkt, denn "wenn man sich wehrt, dann ist man nicht Täter", so Vögeding.
Vögeding erwartet eine weitere Radikalisierung des harten Kerns an Verschwörungsideologen, da "der erhöhte gesellschaftliche Druck bezüglich Impfung zu so etwas beiträgt", so Vögeding im Gespräch mit watson. "Was explizit aber nicht heißt, dass es nicht trotzdem notwendig wäre, irgendwie den Druck zu erhöhen." Schließlich sei eine Impfpflicht für gewisse Menschen im Dunst der Verschwörungserzählenden eine Möglichkeit, gesichtswahrend aus der Nummer rauszukommen. Deshalb empfindet Vögeding die Impfpflicht als "zweischneidiges Schwert".
Matthias Pöhlmann ist Beauftragter für Sekten- und Weltanschauungsfragen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Der Experte für Sekten und rechtsextreme Gewalt nennt die Gruppe der Querdenker und Verschwörungsideologen "radikalisierte Besserwisser".
Gegenüber watson äußert er vor allem seine Sorge darüber, wie radikalisierten Menschen wie der Vater in Königs Wusterhausen überhaupt an Waffen kommen. Er erinnert dabei auch an den Fall Idar-Oberstein, bei dem ein Maskengegner einen 20-jährigen Tankstellenangestellten mit einem Kopfschuss tötete.
Pöhlmann spricht auch den Mordplan von bewaffneten Querdenkern am sächsischen Innenminister Michael Kretschmer an:
Pöhlmann ist selbst Mitglied in einigen Telegram-Gruppen und beobachtete die ersten Reaktionen auf die Tat in Königs Wusterhausen.
Pöhlmann berichtet:
Dennoch glaubt er daran, "dass unsere Demokratie stabil genug ist", um solche einzelne Gruppierungen auszuhalten.
Der Buchautor Tobias Ginsburg kennt diese Gruppen wie kein anderer: Monatelang recherchierte er im rechtsextremen Milieu für sein Buch "Die Reise ins Reich" – eine Undercoverreportage über Verschwörungstheoretiker, Reichsbürger und Corona-Leugner.
Seine ernüchterte Einschätzung des fünffachen Mordes in Königs Wusterhausen:
Auch toxische Männlichkeit spielt bei solchen Gewalttaten oft eine Rolle, die ersten Opfer sind dabei oft Frauen: "Viele Verschwörungsgläubige inszenieren sich ja als Märtyrer: Menschen in einer ohnmächtigen Situation, die nun versuchen, Held und Opfer zugleich sein um aus einer gefühlten Ohnmacht zu entkommen. Sie wollen Kämpfer sein, harte Kerle im Widerstand gegen einen imaginären Feind. In der katastrophal trostlosen Praxis bedeutet das dann aber sowas: Erst bringe ich meine Frau um, dann meine Kinder."
Die Denkweise von Querdenkern sei: Die Pandemie soll uns versklaven, die da oben wollen uns fertig machen", erklärt Ginsburg gegenüber watson. Wenn man das alles wirklich glaube, sei man in einer Situation der absoluten Verzweiflung. "Man wacht auf in einem Kriegszustand, man geht ins Bett in einem Kriegszustand und man will sich wehren." Deshalb seien solche furchtbaren Taten bei einigen Menschen die logische Folge. Denn diese "Narrative, die in letzter Konsequenz immer tödlich enden, reißen unglaublich viele Menschen mit – sei es aus Verzweiflung, Boshaftigkeit, Dummheit oder aus pathologischen Veranlagungen." Es gibt nicht den "einen" Querdenker, sondern viele unterschiedliche Mitglieder.
Deshalb bringe einen bei dem Problem die Suche nach dem Motiv des Täters, das Ginsburg strukturell nennt, nicht weiter:
Denn die sogenannten Querdenker seien keine "komischen Leute vom Rand der Gesellschaft, die mit uns nichts zu tun haben". Es könne den Hochschul-Dozenten genauso treffen wie die Kindergärtnerin oder die Oberärztin. Denn alle sind von Corona betroffen: "Wir sind alle im gleichen Boot und wir machen uns Sorgen. Wir alle haben doch Angst und fühlen uns irgendwie ohnmächtig", erklärt Ginsburg.
Dadurch werden wir zu leichten Opfern von Verschwörungsideologien: "In Krisen und nach Katastrophen blüht der Glaube an große Verschwörungen. Das gibt dir einfache Antworten auf schwere Fragen und ein bisschen Selbstermächtigung. Um es zynisch zu sagen: Ein Virus ist kein guter Bösewicht, aber aus einer Regierung, Bill Gates und den Juden lassen sich fantastische Superschurken machen", sagt Ginsburg.
Statt sich über Querdenker lustig zu machen, plädiert Ginsburg dafür, die Gefahr ernst zu nehmen: "Wir leben in einem Land, wo Verschwörungsideologie mal Staatsraison war, wo der Glaube an die jüdische Weltverschwörung zu einem Verbrechen unvorstellbaren Ausmaßes führte. Und im gleichen Land gucken wir jetzt auf Verschwörungsideologen und sagen: 'Hihi, die sind aber drollig'. Wie kann das sein?" In erster Linie brauche es von Anfang an Aufklärung über die Methoden und Glaubensinhalte der Verschwörungsideologien, damit die Menschen verstehen, wie diese funktionieren und warum sie so attraktiv sind.
Der Berater Niklas Vögeding rät Menschen mit einem verschwörungsgläubigen Angehörigen, der radikale Absichten äußert, sich professionelle Hilfe zu suchen: Entweder bei Vereinen wie seinem, beim sozialpsychiatrischen Dienst oder – als letzte Möglichkeit – die Sicherheitsbehörden zu verständigen. "Das kann natürlich auch zu einem Abbruch oder zu einer enormen Erschütterung der Beziehung führen, was zu einer weiteren Isolation führen kann", warnt Vögeding. Doch letztendlich könne man "normalen Bürgern nicht zumuten, eine professionelle Gefährdungslage einzuschätzen." Nicht jede Ankündigung wird zur Tat und nicht jede Tat wird vorher angekündigt.
(mit Material der dpa)