Los geht es mit ganz großem Pathos: Auf der Leinwand in der Messehalle von Leipzig, wo der CDU-Parteitag an diesem Wochenende zusammengekommen ist, wird ein emotionaler Imagefilm abgespielt: Der Bogen über die gesamte Historie Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg wird darin gespannt, Helmut Kohl flimmert über den Bildschirm, Deutschland sei "durch harte Krisen geführt" worden, das Ganze ist mit donnernder Musik unterlegt.
Am Schluss schallt es aus den Lautsprechern: "Wir glauben an Deutschland, an seine Menschen, an seine Kinder – und an unsere gemeinsame Zukunft." Das ist dick aufgetragen, doch gleichzeitig wirkt der Clip wie die Sehnsucht danach, was die CDUsein will: "Deutschlands starke Mitte", das Motto des Parteitages.
In der Realität kommt die Union in Umfragen teilweise auf nicht einmal 30 Prozent. Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer steht enorm unter Druck. Und so ist es genau dieser Spannungsbogen, der sich durch die Reden des Parteitages zieht.
Zu Beginn des Tages wird Kanzlerin Angela Merkel von Kramp-Karrenbauer begrüßt. Schon da bekommt Merkel starken Applaus, sogar Standing Ovations. Kurz wirkt es, als schimmere bei den Delegierten die Sehnsucht nach einer beständigen Führung durch – die Jahre unter Angela Merkel waren geprägt von Beständigkeit: Ohne Personaldebatten und ohne Querelen in der Spitze der Partei.
Der Applaus ebbt ab und die Bundeskanzlerin hält ihre Rede. Darin zählt sie vor allem ihre eigenen Erfolge auf, zu den Anstrengungen in der Euro-Krise ruft sie in die Menge: "Es hat sich gelohnt!" Dann geht es weiter, Merkel spricht über die Digitalisierung, den Klimawandel, künstliche Intelligenz und beschreibt eine sich immer schneller verändernde Welt. Doch Deutschland sei prima, das liegt vor allem an der CDU und der Stabilität dieser Partei, so die Botschaft von Merkel.
Und damit baut sie ihrer Nachfolgerin Kramp-Karrenbauer für deren großen Auftritt eine Brücke: Nur mit Beständigkeit ließen sich Erfolge erzielen, diesen Ball nimmt Kramp-Karrenbauer auf, als sie dann ans Rednerpult tritt. Sie zeichnet das positive Bild des Landes weiter: Die soziale Wirtschaft boome, den Menschen gehe es gut. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Rede begrenzt überraschend und stieß auf wenig Bewunderung.
Doch dann wird Kramp-Karrenbauer plötzlich euphorisch. Nach exakt 13 Minuten am Rednerpult kehrt die CDU-Chefin die schläfrige Stimmung ins Positive, auf einmal wacht der Saal auf: "Ich habe die Nase voll davon, dass wir immer die Langsamsten in Europa sind", ruft Kramp-Karrenbauer den Delegierten zu. Sie schleuderte die großen Sätze von der Bühne in den Saal: "Die Zukunft liegt in unserer Hand! Wenn wir es falsch anstellen, leben wir in zehn Jahren in einem Deutschland, das abgehängt ist", das ist eine glasklare Warnung.
Kramp-Karrenbauer schlägt einen noch größeren Bogen als Merkel zuvor, sie lässt praktisch kein Thema aus, bei dem Deutschland nicht mehr tun müsse, das seien die Aufgaben, die jetzt zu bewältigen seien: Mehr Zeit für die eigenen Kinder zu haben, die Pflege älterer Menschen, Kryptowährungen, autonomes Fahren. Doch sie trägt es mit einer dermaßen Verve vor, dass der Applaus zunehmend anschwillt.
Es sind genau diese Themen und Fragen, auf die viele Mitgliedern der CDU seit Monaten Antworten haben wollen. Die liefert Kramp-Karrenbauer nicht. Stattdessen klingt es wie eine Rede zur Lage der Nation, bei der sie aber nur die Probleme anspricht, doch keine Auswege aufzeigt. Damit fügt sich ihre Rede vollkommen in den Pathos des Parteitagsfilmes vom Anfang ein.
Knapp anderthalb Stunden geht die Rede insgesamt, und auch das ist wohl Taktik: Keiner kann hier so lang reden wie die Parteichefin, Friedrich Merz wird in der Aussprache später nur einen Bruchteil der Zeit zur Verfügung haben.
Auch eine Taktik ist, dass Kramp Karrenbauer rhetorisch ihre parteiinternen Rivalen umarmt, sie dankt Jens Spahn, spricht Ralph Brinkhaus, den Chef der Unionsfraktion, vom Rednerpult aus freundlich an. Sowohl Spahn als auch Brinkhaus stehen ansonsten nicht im Verdacht, allzu große Fans der Parteichefin zu sein.
Gegen Ende der Rede zieht Kramp-Karrenbauer dann ein rhetorisch scharfes Messer: "Wenn ihr der Meinung seid, dass dieser Weg, den ich gemeinsam mit euch gehen möchte, nicht der Weg ist, den ihr für den richtigen haltet, dann lasst es uns heute aussprechen. Dann lasst es uns heute auch beenden." Das war riskant, immerhin fordert sie ihre Gegner damit öffentlich heraus. Doch nach diesem Satz, der den Schlusspunkt der Rede bildet, stehen die Delegierten von den Sitzen auf und applaudieren: knapp sieben Minuten lang.
Anschließend folgen verschiedene Redner, dann kommt es zum Auftritt von Friedrich Merz. Dessen Rede war mit Spannung erwartet worden, alle fragten sich, ob der ehemals Kramp-Karrenbauer unterlegene Rivale um den Parteivorsitz einen Putsch gegen die Chefin riskieren würde. Schon nach den ersten Sätzen von Merz wird jedoch klar: Es würde keinen Putsch geben. Er begann seine Rede mit den an Kramp-Karrenbauer adressierten Worten "Ich bin dir dankbar für deine mutige, kämpferische, nach vorne weisende Rede."
Dann stichelte Merz ein wenig gegen die SPD, die seien "strukturell illoyal". Er sprach frei, erklärte, dass Menschen immer noch einfache Lösungen in der Politik haben wollen. Und dann sagte er: Nicht jetzt würden die wichtigen personellem Entscheidungen gefällt, sondern erst in einem Jahr. Damit war endgültig klar: Heute gibt es keine Kampfansage an Kramp-Karrenbauer.
Dieser Freitag im November beim 32. Parteitag der CDU, er war nicht mehr der Moment des Umsturzes für Friedrich Merz. Ihm muss ihm nach einer halben Stunde Rede von Kramp-Karrenbauer klar gewesen sein, dass er gegen die Parteichefin kaum eine Chance haben würde. Die galt zwar als angezählt, jedoch noch nicht als dermaßen politisch bankrott, dass Merz bei einem Versuch einer möglichen Kampfabstimmung hätte gewinnen können. Es sprach zu viel gegen ihn.
So hatte Annegret Kramp-Karrenbauer das Momentum auf ihrer Seite. Es ist, wenn man so will, die Methode Merkel, die Annegret Kramp-Karrenbauer anwandte: Lange taktierend warten, und dann im richtigen Moment auf den Punkt politisch abzuliefern – und sei es mit einer guten Rede.
So hat sich die Parteichefin bereits zum zweiten Mal in einer für sie brenzligen Situation aus der Umklammerung befreit: Das erste Mal war auf dem Parteitag 2018 in Hamburg, als es um die Wahl zum CDU-Vorsitz ging. Ein Jahr später wird über die inhaltlichen und personellen Fragen der CDU eine große Haube voll Pathos gestülpt.
Doch der Ausblick ist klar: Spätestens im Winter 2020, wenn die Union erneut über die Kanzlerkandidatur berät, wird Friedrich Merz wieder auf die politische Bühne der CDU treten. Bei seiner Rede sagte er mit Blick auf die weitere Gestaltung der Partei einen Satz, der je nach Lesart ein Angebot zur Mithilfe oder eine Drohung sein kann, gemünzt auf das Ende nächsten Jahres: "Wenn Sie wollen, dass ich dabei bin, dann bin ich dabei."
Dieser Artikel erschien zuerst bei t-online.de.