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Krebs: Wie geschlechtersensible Forschung Leben retten kann

Im Bereich der Medizin gibt es beim Thema Gleichberechtigung noch viel Nachholbedarf – geschlechtersensible Medizin wird aber wichtiger.
Im Bereich der Medizin gibt es beim Thema Gleichberechtigung noch viel Nachholbedarf – geschlechtersensible Medizin wird aber wichtiger.Bild: shvets productions / pexels
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Wie geschlechtersensible Krebsforschung Leben retten kann

20.11.2022, 09:46
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Frauen sind anders krank als Männer. Und Männer anders als Frauen. Krankheiten sehen anders aus, die Risiken sind unterschiedlich hoch, sie müssen unterschiedlich behandelt werden.

Corona dürfte für die geschlechtersensible medizinische Forschung ein Booster sein: Denn spätestens während der Pandemie war zu sehen, dass Männer und Frauen unterschiedlich schwer erkranken. Und dieses Phänomen liegt nicht an dem Erreger Sars-Cov-2.

SPD, B
Die Ampelkoalition hat sich die geschlechtersensible Medizin auf die To-do-Liste geschrieben.Bild: imago images / Chris Emil Janssen

Die Ampel-Koalition hat es sich in ihrem Koalitionsvertrag zur Aufgabe gemacht, diese Versorgungslücken zu schließen. "Die Gendermedizin wird Teil des Medizinstudiums, der Aus-, Fort- und Weiterbildungen der Gesundheitsberufe werden", steht darin. Ein Fortschritt, der in weiten Teilen der Wissenschaft sehr positiv aufgenommen wurde. Auch wenn viele von ihnen mit dem Begriff "Gendermedizin" nicht gänzlich einverstanden sein dürften – häufig sprechen Expert:innen von geschlechtersensibler Medizin.

Eine dieser Expert:innen ist Andrea Kindler-Röhrborn. Seit fünfzehn Jahren forscht sie an geschlechtersensibler Medizin. Genauer gesagt: an Krebs. Denn bei Tierversuchen im Labor ist der Medizinerin aufgefallen, dass männliche Versuchstiere häufiger erkranken als weibliche. Kindler-Röhrborn lehrt und forscht am Essener Uniklinikum.

Im Gespräch mit watson erklärt sie, warum Männer von geschlechtersensibler Krebsforschung profitieren könnten – und inwiefern Gene und Patriarchat hier eine Rolle spielen.

Höheres Krebsrisiko durch fehlendes zweites X-Chromosom

"Bei Menschen ist das genauso: Die meisten Tumoren sind bei Männern häufiger, als bei Frauen", sagt Kindler-Röhrborn im Gespräch mit watson. Grund dafür sind die Gene. Genauer gesagt, das fehlende zweite X-Chromosom und das Y-Chromosom. Genauso wie das männliche Sexualhormon Testosteron: "Das männliche Immunsystem ist nicht so fit, wie das von Frauen. Das macht sich auch bei der Entwicklung von Tumoren bemerkbar", meint die Wissenschaftlerin.

Das bedeute aber gleichzeitig: Männer und Frauen brauchen eine unterschiedliche Medikation für die Behandlung des Krebses. Es gebe Krebsmedikamente, die Männern besser helfen – während bei Frauen oftmals eine Immuntherapie besser anschlage.

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Nach dem Contergan-Skandal in den späten 50er-Jahren wurden Frauen lange Zeit von Medikamentenstudien ausgeschlossen.Bild: dpa / Monika Skolimowska

Lange Zeit wurden neue Medikamente für den "Einheitsmensch" entwickelt – für Männer also. Frauen sind medizinisch streng genommen unter versorgt. Aus Sicht von Kindler-Röhrborn hat das mehrere Gründe:

"Männer standen immer im Vordergrund, lange Zeit ist man davon ausgegangen, dass Frauen eine schlechtere Kopie sind. Was die Forschung aber vor allen Dingen zurückgeworfen hat, war die Contergan-Katastrophe in den 50er-Jahren. Danach hat man probiert, Frauen aus allen Medikamentenstudien rauszuhalten."
Der Contergan-Skandal
Contergan war ein Schlaf- und Beruhigungsmittel, das zwischen 1957 und 1961 in Deutschland verkauft wurde. Es wirkte außerdem gegen Schwangerschaftsübelkeit – und wurde daher oft von werdenden Müttern genommen. Im November 1961 wurde allerdings bekannt, dass das Medikament schwere Missbildungen bei Neugeborenen hervorruft, wenn es in der Schwangerschaft eingenommen wurde. Die Contergan-Kinder. Das Mittel wurde daraufhin vom Markt genommen.

Diese Entscheidung wirke bis heute nach. Seit einigen Jahren allerdings werde vermehrt darauf geachtet, auch Frauen in den Versuchsgruppen zu haben. "Aber es gibt natürlich eine ganze Reihe von Medikamenten, die schon lange zugelassen sind und bei denen nicht klar ist, ob die Wirkung bei Männern oder Frauen besser oder schlechter ist", sagt die Expertin.

Spätes Erkennen von Tumoren: Folge des Patriarchats

Dadurch, dass Frauen häufiger zum Arzt gingen – und Vorsorgeuntersuchungen in regelmäßigen Abständen wahrnehmen – würde der Krebs bei ihnen früher erkannt. Nach wie vor würden Männer oft als das "starke Geschlecht" angesehen – ein Gang zum Arzt ist aus Sicht von vielen daher erst notwendig, wenn es eigentlich schon zu spät ist.

"Ich setze meine Hoffnung in die jüngere Generation und darauf, dass immer mehr Menschen nachwachsen, die entsprechend ausgebildet sind", sagt Kindler-Röhrborn. Da die Politik aber nach wie vor männerdominiert sei, würden auch im Bereich Forschung viele männerbetonte Entscheidungen getroffen.

Und trotzdem sehe die Wissenschaftlerin bereits eine Veränderung:

"Wir bieten Lehrveranstaltungen zur geschlechtersensiblen Medizin an – die sind sehr beliebt, auch bei Männern. Es zeigt sich also, dass das Interesse steigt. Wäre ja auch im besten Interesse der Männer, schließlich ist das Krebsrisiko 1,6 Mal höher, als bei Frauen – wenn man die Tumoren der Geschlechtsorgane ausklammert."

Diese Zahl beziehe sich auf Krebserkrankungen außerhalb der Reproduktionsorgane. Und das, stellt Kindler-Röhrborn klar, zeige, wie wichtig die geschlechtsspezifische Medizin für alle Menschen sei. "Es geht nicht darum, eine Frauenmedizin zu machen", sagt sie. Am Ende profitiere nämlich jede:r davon.

June 25, 2022, Valencia, Spain: A writing about trans rights seen on the chest of a person, during the LGTBIQ demonstration in favor of rights for sexual, gender and family diversity. Valencia Spain - ...
Die geschlechtersensible medizinische Forschung hat auch im Bereich der trans*spezifischen Forschung noch Graustellen.Bild: imago images/ Xisco Navarro

Ob und inwiefern die geschlechtsspezifische Krebsforschung auch explizit trans*Personen betreffen könnte, sei bisher unklar. Grund dafür: Die Gruppe der Menschen, die trans* sind und alle Eingriffe haben durchführen lassen – also den kompletten Weg von der Hormontherapie bis hin zur operativen Geschlechtsangleichung gegangen sind – sei klein. Gerade in dem Alter, in dem Krebs ein besonderes Risiko darstelle.

Der große Traum der Wissenschaftlerin: Geschlechtsspezifische Medikamente entwickeln, die Krebs bekämpfen und heilen können.

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