Erneut kommt es in Syrien vermehrt zu Protesten.Bild: Anadolu / Anadolu Agency
Analyse
Seit Jahren ist das Land von politischem Chaos und gewaltsamen Konflikten geprägt. Verhaftungen, Folter und Mord. Detonationen, politische Verfolgung und Armut. Die Palette von menschenunwürdigen Zuständen und Menschenrechtsverletzungen ist groß. Der Bürgerkrieg in Syrien: Er ist noch immer in vollem Gange.
Jetzt sieht sich das Land erneut einem beispiellosen Aufstand seiner Bevölkerung gegenüber. Unzufriedenheit über Jahrzehnte der Unterdrückung, wirtschaftlichen Verfall und die anhaltende Gewalt haben erneut die Menschen auf die Straße getrieben, um gegen das Regime von Machthaber Bashar al-Assad zu protestieren.
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Die Menschen demonstrieren etwa in der Kleinstadt Suweida oder der benachbarten Provinzhauptstadt Daraa, wo 2011 die Erhebung gegen das Assad-Regime ihren Anfang genommen hatte. Sogar in alawitisch geprägten Gebieten, die offiziell zu den größten Unterstützern des Regimes zählen, macht sich Unmut breit. Wie etwa in der Küstenstadt Lataika.
In Idlib, das sich im Nordwesten des Landes befindet, demonstrierten vor wenigen Tagen Hunderte Menschen und forderten ein Ende von Assad. "Lang lebe Syrien! Bashar al-Assad muss fallen", skandierten sie etwa.
Dieser jüngste Aufschrei zeigt wieder einmal die Entschlossenheit, die in den Herzen und Köpfen der Syrer:innen lebt. Menschen, die trotz allem für eine bessere Zukunft kämpfen.
Nahost-Experte Osman Bahadir Dincer vom Bonn International Centre for Conflict Studies (BICC) erklärt die Hintergründe und gibt Einblicke in die Komplexität der Lage.
Internationale Stille und innere Instabilität
Das Thema Syrien ist in den vergangenen Jahren in den Schatten aktueller globaler Ereignisse gerückt, erklärt der Experte. "Die Themen, die in den letzten Jahren weltweit auf der Tagesordnung standen, haben Syrien zwangsläufig von der Tagesordnung verdrängt", sagt er. Doch die inneren Zustände in dem Land haben sich bei weitem nicht verbessert.
Kinder und Jugendliche nehmen an den friedlichen Protesten in Syrien teil.Bild: NurPhoto / NurPhoto
Lokale Gleichgewichte sind instabil, sei es in den Gebieten, die vom Regime kontrolliert werden, oder in den nördlichen Regionen. "Viele verschiedene Akteure haben in verschiedenen Gebieten die Vorherrschaft übernommen, aber niemand konnte seine Macht konsolidieren. Nicht das Regime, nicht die Türkei, die versucht, im Norden präsent zu sein, nicht die syrischen Oppositionskräfte, nicht die Kurden", erklärt Dincer.
Hintergrund zum Bürgerkrieg in Syrien
Der Konflikt begann im März 2011 als eine Welle von Protesten gegen das langjährige Regime von Präsident Bashar al-Assad. Vor allem junge Menschen stellten sich gegen das Regime.
Die Demonstrationen wurden gewaltsam niedergeschlagen, was zu einer Eskalation führte. Oppositionsgruppen organisierten sich und griffen zu den Waffen: Der Konflikt verwandelte sich in einen bewaffneten Bürgerkrieg.
Die Ursachen sind vielschichtig und umfassen politische Unterdrückung, wirtschaftliche Probleme, soziale Spannungen und ethnische wie religiöse Differenzen. So stehen etwa die muslimischen Gemeinschaften Alawiten und Schiiten feindlich den Sunniten gegenüber. Der Krieg wurde mit den Jahren immer komplexer, auch, weil verschiedene inländische und ausländische Akteure involviert waren. Regimekräfte, Rebellen, extremistische Gruppen und ausländische Mächte kämpften auf verschiedenen Seiten, darunter auch Russland und die USA.
Wirtschaftliche Krise und politisches Kalkül
Die Demonstrationen finden vor dem Hintergrund einer massiven wirtschaftlichen Krise statt. 90 Prozent der syrischen Kinder leben laut der Hilfsorganisation Unicef mittlerweile in Armut. Diese finanzielle Misere hat tiefere Wurzeln. "Syrien ist heute ein polyzentrisches Gebilde, in dem verschiedene regionale und globale Akteure Einfluss nehmen können", beschreibt es Dincer.
Eine Stabilisierung des Landes sei angesichts fehlender Rechtsstrukturen und einer anhaltenden gewaltsamen Situation äußerst schwierig.
Assads Taktik und die Rolle von ISIS
Demonstrationen und Protestaktionen wurden in der Vergangenheit meist gewaltsam und blutig niedergeschlagen. Dennoch halten die Menschen bisher durch – sie demonstrieren weiter. Warum das Assad-Regime bisher auf Gewalt verzichtet hat, sieht Dincer in mehreren Faktoren begründet. "Assad versucht, sein Image auf internationaler Ebene zu verbessern, und will dieses nicht gleich wieder zerstören", erklärt er. Und noch etwas kommt dazu:
"Die Tatsache, dass sein Unterstützer Russland mit anderen Problemen zu kämpfen hat, könnte Assads Handlungsspielraum ebenfalls einschränken."
Doch Dincer warnt auch: Die Lage könne innerhalb kurzer Zeit eskalieren. "Die Reaktion des Regimes könnte sich ändern, insbesondere wenn sich Sunniten in großer Zahl den Demonstrationen anschließen."
23. August, Idlib: Ein Mädchen vor einem Gebäude, das bei einem russischen Luftangriff zerstört wurde.Bild: dpa / Anas Alkharboutli
Ein besorgniserregender Punkt sei auch die zunehmende Aktivität der Terrorgruppe Islamischer Staat (ISIS). "Die Zunahme dieser Angriffe ist kein gutes Zeichen. Die Rückkehr von ISIS auf die Tagesordnung, wie es 2013 und 2014 geschah, könnte dem Assad-Regime neuen Auftrieb geben", erklärt der Experte. Diese Entwicklung könne auch eine Legitimation für die Einmischung in die Demonstrationen liefern. Deshalb sollten die Aktivitäten von ISIS sorgfältig bewertet werden.
Zwar sei der Islamische Staat geschwächt, dennoch meint Dincer, die Lage sei komplizierter, als wir es bisher beobachten könnten.
Begrenzter Einfluss des Westens und der Blick in die Zukunft
Sowohl die Bundesregierung als auch die EU waren in den vergangenen Jahren ziemlich still, was die Lage in Syrien angeht. Ändert sich die Situation nun? Sollten sie Stellung beziehen, da die Menschen in dem vom Bürgerkrieg zerfleischten Land doch ganz offensichtlich nach Veränderung streben? Zu den Demonstrationen, Entführungen und Hinrichtungen im Iran hat man sich schließlich auch geäußert – wenn auch eher zurückhaltend ...
In Bezug auf den Einfluss des Westens auf die Ereignisse in Syrien ist der Experte Dincer eher skeptisch. "Der Einfluss auf die Realität vor Ort ist sehr begrenzt", sagt er. Stabilität sei für den Westen von höchster Priorität, aber die Mittel zur Erreichung dieses Ziels begrenzt. "Um Stabilität zu erreichen, werden westliche Staaten der Erhaltung des Status quo Vorrang einräumen und keine neue Konfliktwelle heraufbeschwören wollen. Wenn die Kämpfe eskalieren, kann der Westen nur zuschauen."
Die Entwicklungen in Syrien seien zudem keine Überraschung. "Was heute geschieht, ist ein Zeichen dafür, dass die Politik von Regimen, die kein anderes Ziel als das Überleben haben oder deren einziges Ziel das Überleben ist, dem Volk keinen Nutzen bringt."
Social Media als Katalysator und Zeuge
Social-Media-Kanäle spielten im Verlauf des Syrienkonflikts schon von Beginn an eine bedeutsame Rolle. Während der Anfangsphase im Jahr 2011 nutzten Demonstrierende etwa Facebook, Twitter und YouTube, um Informationen über die Proteste zu verbreiten und sich zu organisieren.
Zusätzlich zu ihrer Rolle bei der Mobilisierung von Aktivist:innen spielte Social Media auch eine entscheidende Rolle bei der Schaffung von Bewusstsein auf internationaler Ebene. Die Bilder und Videos von den Ereignissen in Syrien erreichten ein globales Publikum, was dazu beitrug, internationale Aufmerksamkeit auf die Situation im Land zu lenken.
Social Media spielt noch immer eine große Rolle im Bürgerkrieg in Syrien.Bild: AFP / ABDULAZIZ KETAZ
Allerdings entwickelte sich der Einsatz sozialer Medien im Laufe des Konflikts. Mit der Eskalation der Gewalt und der Ausweitung der Kämpfe begannen verschiedene Akteure, einschließlich Regimebefürworter:innen und Oppositionsgruppen, Propaganda und Desinformation über soziale Medien zu verbreiten. Wahrheiten wurden verzerrt, Vertrauen zerstört, zuverlässige Quellen immer schwerer gefunden.
In einigen Fällen, davon gehen Expert:innen zumindest aus, könnte die vermehrte Nutzung von Social Media auch dazu beigetragen haben, die Radikalisierung und die Mobilisierung von extremistischen Gruppen zu erleichtern.