Diese Wahl wird die spannendste seit Langem. Am 26. September findet die erste Bundestagswahl der Geschichte statt, zu der der amtierende Kanzler oder die amtierende Kanzlerin nicht antritt. Es ist außerdem die erste Wahl seit 16 Jahren, in die CDU und CSU nicht als haushohe Favoriten gehen. Und es ist auch die erste Wahl, bei der nicht nur Union und SPD, sondern auch die Grünen realistische Chancen haben, zu gewinnen.
Seit vergangener Woche steht fest, mit welchen Kanzlerkandidaten die drei größten Parteien ins Rennen gehen: CDU-Chef Armin Laschet für die Union, für die Grünen die Ko-Parteivorsitzende Annalena Baerbock, für die SPD Vizekanzler und Bundesfinanzminister Olaf Scholz.
Welche Art Politiker sind die drei? Woher kommen sie? Welche Stärken und Schwächen haben sie? Die drei Kandidaten im watson-Check.
Armin Laschet hat immer wieder für Überraschungen gesorgt. Vor allem, wenn er zum Sprung nach oben angesetzt hat. 2017 war das so, vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, als ihn politische Gegner, Satiriker und manche Journalisten belächelten: Laschet, der wie ein netter, manchmal zerstreuter Onkel wirkte, sollte die beliebte SPD-Landesmutter Hannelore Kraft besiegen. Laschet schaffte es.
Dann, knapp vier Jahre später: Laschet, der liberale Merkel-Verteidiger, sollte sich im Kampf um den CDU-Vorsitz gegen Friedrich Merz durchsetzen. Gegen den markig-selbstbewussten Konservativen mit der lauten Fanbase. Laschet schaffte es.
Knapp drei Monate später: Laschet im Zweikampf um die Kanzlerkandidatur gegen CSU-Chef Markus Söder, der die viel besseren Umfragewerte und bemerkenswert große Sympathie in der CDU genoss. Laschet setzte sich durch, wieder.
"Laschet ist schon ein cleverer, erfahrener Politiker", sagt Werner Weidenfeld, langjähriger Berater erst von Kanzler Helmut Kohl, dann von Angela Merkel, im watson-Gespräch. Der 60-jährige Politiker weiß, wie man Netzwerke knüpft und Bündnisse schmiedet. Er ist gut darin, Kompromisse auszuverhandeln.
Inhaltlich gilt Laschet als liberaler Christdemokrat. Der Aachener ist gläubiger und praktizierender Katholik, er vertraut Vertretern seiner Kirche, hat immer wieder Papst Franziskus II. gelobt. Und in Nordrhein-Westfalen ist sein wichtigster Berater Staatskanzleichef Nathanael Liminski, der in den 2000er-Jahren mit christlich-erzkonservativen Standpunkten zu Abtreibung und Sex vor der Ehe in Talkshows auftrat – sich aber seit Längerem öffentlich zurückhält.
Laschet selbst war in der Union mit manchen Positionen seiner Zeit voraus. In den 1990ern, Laschet war (damals noch in Bonn) Bundestagsabgeordneter, gehörte er zur "Pizza-Connection", einer Gruppe liberaler CDUler und Grünen-Politiker, die sich regelmäßig zum Abendessen trafen. Damals waren schwarz-grüne Bündnisse für viele Konservative noch Teufelszeug. Ab 2005 war Laschet in NRW dann der erste Landesminister für Integration. Er setzte sich für die Belange von Kindern mit Migrationsgeschichte ein – und sagte schon 2010, Deutschland brauche Einwanderung. Damals sträubten sich prominente Politiker von CDU und CSU noch vehement gegen eine so positive Sicht auf das Thema.
Laschet hat aber auch Aussagen gemacht, die bis heute fragwürdig bleiben. 2013, Außenminister war damals der viel zu früh verstorbene FDP-Politiker Guido Westerwelle, kritisierte er die deutsche Unterstützung für die demokratische Opposition gegen Diktator Baschar al-Assad in Syrien. Später bezog er mehrfach Stellung für Assads Regime. Über den autokratischen russischen Präsidenten Wladimir Putin hat er sich auch immer wieder verständnisvoll geäußert.
Laschet hat auch schon politische Affären hinter sich. Eine drehte sich um Noten, die Laschet als Dozent an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) in Aachen vergab. Er hatte von 1999 bis 2015 eine Lehrtätigkeit an der RWTH. Nach einem seiner Seminare gingen die von Laschets Studenten geschriebenen Klausuren auf dem Postweg verloren. Laschet, damals schon Chef der NRW-CDU, benotete sie trotzdem – unter anderem anhand von Notizen, die er während des Seminars gemacht hatte. Er vergab seine Noten sogar an Studenten, die die Klausur gar nicht geschrieben hatten. Als Konsequenz aus der Noten-Affäre gab Laschet seinen Lehrauftrag zurück.
Eine zweite Affäre spielte sich auf dem Höhepunkt der ersten Welle der Corona-Pandemie ab, im Frühjahr 2020: Die von Laschet angeführte NRW-Landesregierung kaufte damals Schutzausrüstung vom Textilunternehmen van Laack – und das, aufgrund der großen Eile, ohne eine Ausschreibung, wie sie im Normalfall bei öffentlichen Aufträgen vorgeschrieben ist. Laschets Sohn Joe ist für van Laack als Influencer tätig und stellte den Kontakt zur Landesregierung her.
Juristische Konsequenzen für Laschet hatte keine der beiden Affären.
Seit Laschet offiziell im Rennen um die Kanzlerkandidatur ist, ist ihm immer vorgehalten worden, er sei zu wenig entschlossen, zu führungsschwach – gerade im direkten Vergleich zu seinem früheren Kontrahenten Söder. Seit er als Kandidat feststeht, versucht Laschet ,diesem Eindruck entgegenzuwirken. In einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" sagt er über seine grüne Mitbewerberin Baerbock: "Sie redet, ich handle."
Und er setzt thematische Schwerpunkte: Deutschland brauche eine "Entschlackung der Bürokratie", einen "modernen und serviceorientierten Staat". Laschet verspricht weniger Steuern und mehr Freibeträge für neu gegründete Unternehmen. Das klingt zumindest ähnlich wie die zentralen Forderungen, mit denen Friedrich Merz sich gegen Laschet um den Posten als CDU-Chef beworben hatte.
Tatsächlich scheinen Laschet und Merz sich aufeinander zubewegt zu haben: Merz, der als CDU-Direktkandidat im konservativ geprägten Hochsauerlandkreis beste Chancen auf einen Einzug in den Bundestag hat, wird als möglicher Minister in einem Kabinett Laschet gehandelt.
Die Grünen haben sich lange schwergetan mit der Macht. Seit den 1980ern sind sie an Landesregierungen beteiligt, von 1998 bis 2005 waren sie Teil der rot-grünen Bundesregierung, heute regieren sie in elf Bundesländern. Aber die wenigen grünen Politiker, die ohne Umschweife gesagt haben, dass sie regieren wollten, waren und sind heftig umstritten: Der grüne Außenminister Joschka Fischer war so jemand, der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann ebenfalls.
Umso bemerkenswerter, dass Annalena Baerbock in Reden deutlich macht, dass sie hungrig nach politischer Macht ist. In Deutschland sieht ein großer Teil der Menschen Machthunger als Makel. Doch er ist ein entscheidender Grund für die Erfolgschancen von Politikern.
"Wir nörgeln nicht nur, wir packen es an, wir machen die Dinge zum Besseren!" Diesen Satz sagte Baerbock schon im Februar 2020 bei einer Rede in Baden-Württemberg, ein gutes Jahr, bevor sie Kanzlerkandidatin wurde. Kretschmann, der grüne Machtmensch, sagte zu ihr damals öffentlich: "Wir können dir vertrauen, du wirst dieses Land gut führen."
Die Politikwissenschaftlerin und Völkerrechtlerin Baerbock ist 2005 in die Politik eingestiegen, damals war sie 25 Jahre alt. Sie war erst Büroleiterin der grünen Europaabgeordneten Elisabeth Schroedter, später Referentin für Außen- und Sicherheitspolitik der grünen Bundestagsfraktion. Seit 2009 ist sie Landesvorsitzende der Grünen in Brandenburg, 2013 zog sie in den Bundestag ein. Größere Aufmerksamkeit erarbeitete sie sich im Herbst 2017 während der Verhandlungen für eine Jamaika-Koalition zwischen Union, FDP und Grünen. Baerbock war Teil des Verhandlungsteams, mehrere Politiker von FDP, CDU und CSU äußerten sich später positiv über ihre gute Vorbereitung und Sachkenntnis.
Im Januar 2018 wählten die Delegierten auf dem Grünen-Parteitag Baerbock dann neben Robert Habeck zur Bundesvorsitzenden der Partei. Sie gilt als Teil des Realo-Flügels bei den Grünen: Also als eine Grüne, die weniger weit links steht als andere und eher zu Kompromissen bereit ist. In der Klimapolitik spricht sich Baerbock dafür aus, den ökologischen Umbau Deutschlands und Europas gemeinsam mit der Industrie zu schaffen – anstatt, wie andere Grüne sich das wünschen würden, auf härtere Konfrontation zu setzen. Sie vermeidet es, von Verboten für den Klimaschutz zu sprechen.
In der Außenpolitik ist Baerbock dafür, dass Europa gemeinsam mehr Verantwortung in der Welt übernimmt – und spricht sich für "Härte und Dialog" gegenüber Russland und China aus. In ihrem ersten Interview als Kanzlerkandidatin bei ProSieben vermied sie eine direkte Antwort auf die Frage, ob der russische Präsident Wladimir Putin für sie, wie für US-Präsident Joe Biden, ein Mörder sei. Sie meinte aber, mit Blick auf den eingesperrten Oppositionellen Alexej Nawalny: "Herr Putin ist für dieses Regime verantwortlich. Er ist der Präsident dieses Regimes mit den Akteuren, die versucht haben, Herrn Nawalny an der Stelle zu ermorden."
Eine Schwäche Baerbocks, die seit Verkündung ihrer Kanzlerkandidatur immer wieder erwähnt wird: Ihr fehlt die Regierungserfahrung. Alle Bundeskanzler und die Bundeskanzlerin vor ihr waren zuvor Landes- oder Bundesminister oder zumindest Oberbürgermeister gewesen.
Baerbock antwortet auf entsprechende Nachfragen mit dem Verweis auf Länder wie Neuseeland, wo die junge Sozialdemokratin Jacinda Ardern ohne vorherige Regierungserfahrung Premierministerin wurde. In ihrer ersten Rede als Kanzlerkandidatin versuchte sie sogar, die mangelnde Erfahrung zum Vorteil umzudeuten: "Ich stehe für Erneuerung, für den Status Quo stehen andere."
Dass sie noch kein Regierungsamt bekleidete, hat für Baerbock einen zweiten Vorteil: Anders als ihre Mitbewerber Laschet und Scholz hatte sie auch noch gar nicht die Gelegenheit, über mehr oder weniger große Affären zu stolpern.
"Wir hatten eben den Eindruck, Olaf Scholz passt besonders gut in diese Situation." Der einstige Juso-Chef Kevin Kühnert hat diesen Satz im Sommer 2020 im watson-Interview gesagt – wenige Tage, nachdem die SPD-Spitze Scholz als Kanzlerkandidaten präsentiert hatte. Begeisterung hört sich anders an.
Und wer Scholz' politische Karriere verfolgt hat, der weiß, dass der gebürtige Osnabrücker sich eher schwer damit tut, Massen zu elektrisieren. Er hatte es ja nicht einmal geschafft, die eigenen Parteimitglieder zu begeistern: 2019 war er für den SPD-Parteivorsitz angetreten, zusammen mit der Brandenburger Landespolitikerin Klara Geywitz. Sie und Scholz verloren gegen die Parteilinken Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans.
Andererseits haben sie bei der SPD ja 2017 schon schlechte Erfahrungen mit allzu viel Begeisterung gemacht. Damals, im Januar vor der Bundestagswahl, wurde Martin Schulz Kanzlerkandidat. Er löste mit seinen ersten Auftritten einen Hype aus wie lange kein Sozialdemokrat: Die SPD schoss in den Umfragen auf bis zu 33 Prozent nach oben. Dann verlor die Partei Landtagswahl um Landtagswahl, Schulz war wochenlang kaum zu sehen. Am Ende standen 20,5 Prozent, das schlechteste SPD-Ergebnis der Geschichte. 2021, da der nüchterne Olaf Scholz antritt, wäre das ein recht gutes Ergebnis für die Sozialdemokraten.
Olaf Scholz ist seit 2018 Bundesfinanzminister, vorher war er Erster Bürgermeister in Hamburg, davor Bundesarbeitsminister und Anfang der 2000er-Jahre SPD-Generalsekretär. "Scholzomat" haben ihn Journalisten damals genannt, wegen seiner eintönigen Art zu reden. Scholz, das gehört auch dazu, hat später selbstkritisch zugegeben, der Ausdruck sei "sehr treffend" gewesen. So wie er sich auch von seinen linksradikalen Parolen als Juso-Vizechef in den 1980ern distanziert hat.
Heute ist er innerhalb der SPD einer der konservativeren Politiker. Andererseits tritt Scholz aber seit Monaten vergleichsweise offensiv für Pläne ein, die auch den Parteilinken gefallen: einen höheren Mindestlohn, höhere Steuern für Menschen mit sechsstelligem Jahreseinkommen, eine soziale Kostenverteilung beim Klimaschutz.
Scholz war in den vergangenen Jahren aber auch mehrfach für politische Fehltritte oder zumindest fragwürdiges Verhalten in den Schlagzeilen.
Im Sommer 2017, Scholz war Erster Bürgermeister in Hamburg, sagte er vor dem G20-Gipfel in der Stadt: "Es wird Leute geben, die sich am 9. Juli wundern werden, dass der Gipfel schon vorbei ist." Rund um den Gipfel zettelten Linksradikale Straßenschlachten an und plünderten Geschäfte – einzelne Polizisten gingen brutal gegen Demonstranten vor. Dass es Polizeigewalt gegeben hatte, stritt Scholz trotz 92 entsprechender Ermittlungsverfahren aber ab, er sprach von "Denunziation".
Als Erster Bürgermeister soll Scholz außerdem darauf verzichtet haben, von einer Hamburger Privatbank 47 Millionen Euro zurückzufordern, die sie wegen des Cum-Ex-Steuerbetrugs dem Staat schuldete. Die Bank beglich die Schulden später, den Vorwurf der Vetternwirtschaft ist Scholz trotzdem nie ganz losgeworden. FDP, Linke und Grüne werfen Scholz außerdem vor, als Bundesfinanzminister im Betrugsskandal um das Unternehmen Wirecard zu wenig getan zu haben, um die zuständige Aufsichtsbehörde Bafin in den Griff zu bekommen.
Auf der anderen Seite sind Scholz' Erfolge: Er hat in seiner Zeit als Regierungschef in Hamburg den Wohnungsbau, den privaten wie den staatlich geförderten, deutlich angeschoben – ein wesentlicher Grund dafür, dass die Wohnungssituation in der zweitgrößten Stadt Deutschlands besser ist als in der Hauptstadt Berlin. Scholz hat sich, als Erster Bürgermeister wie als Bundesminister, den Ruf erarbeitet, ein harter Verhandler zu sein – ein entscheidender Grund dafür, dass er heute für die SPD das Finanzministerium der Bundesregierung führen darf.
In der ersten Corona-Welle im März 2020 sagte Scholz, die Regierung hole jetzt die milliardenschwere "Bazooka" heraus, um den wirtschaftlichen Absturz zu verhindern. Ob er und Wirtschaftsminister Peter Altmaier damit erfolgreich waren, ist zum einen umstritten, weil viele Hilfen gerade für kleine Unternehmen spät ankamen. Zum anderen muss sich noch zeigen, wie es in den kommenden Monaten weitergeht. Aber der 2020 von vielen befürchtete harte wirtschaftliche Absturz in der Corona-Krise ist bisher ausgeblieben. Und das hat viel mit der staatlichen Hilfe zu tun, die Scholz ohne viel Rücksicht auf schwarze Null und Schuldenbremse auf den Weg gebracht hat.
Alles in allem: Scholz ist laut repräsentativer Umfragen seit Jahren relativ stabil unter den beliebtesten deutschen Politikern. Auf die Umfragewerte der SPD hatte das bisher aber keinen positiven Einfluss, die Partei dümpelt bei Werten zwischen 13 und 17 Prozent dahin.
Immerhin: Im Vergleich zu früheren Bundestagswahlkämpfen wirkt die SPD 2021 geschlossen. Sowohl die linken Parteivorsitzenden als auch die Parteijugend Jusos sind bisher loyal zu Scholz. Das mag gut sein für den Frieden nach innen. Für die Aufholjagd bei den Wählern, zu der die SPD baldmöglichst ansetzen muss, reicht es aber nicht.
Dafür müssten die Sozialdemokraten möglichst vielen Menschen klarmachen, was sie anders machen wollen als Grüne und CDU/CSU, wenn sie stärkste Regierungspartei werden. Und es wird sich zeigen, ob Olaf Scholz doch geeignet ist, Menschen dafür zu begeistern. Oder sie zumindest von etwas zu überzeugen.