Aus dem schwelenden Nahostkonflikt in Israel und den palästinensischen Gebieten ist militärische Gewalt geworden, die seit Tagen andauert. Der israelische Präsident Reuven Rivlin hat vor einem "Bürgerkrieg" im Land gewarnt. Es sind zum einen die wohl schwersten Gefechte seit dem bisher letzten Gaza-Krieg im Sommer 2014.
Palästinensische Extremisten feuern aus dem Gazastreifen seit Tagen Raketen auf israelische Städte, laut der israelischen Armee waren es bis Freitag schon über 1800. Israels Militär nimmt Gebäude im Gazastreifen unter Beschuss, in denen sich Kämpfer der radikalislamischen Terrororganisation Hamas befinden sollen – und berichtete am Freitagmorgen, ein Tunnelsystem der Hamas beschossen zu haben.
Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza wurden seit Beginn der Eskalation des Konflikts 109 Menschen getötet und 621 weitere verletzt. Wie die Armee mitteilte, wurden in Israel durch Beschuss bisher acht Menschen getötet.
Außerdem ist es auch in Städten im israelischen Kernland, wo ein hoher Anteil arabischer Israelis lebt, zu Gewalt gekommen. Am Mittwoch wurde im Norden des Landes ein jüdischer Einwohner von arabischen Demonstranten lebensgefährlich verletzt. Südlich von Tel Aviv attackierte eine jüdische Menge einen arabischen Einwohner mit Knüppeln. Seit Beginn der Ausschreitungen hat die Polizei insgesamt 750 Verdächtige festgenommen.
Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern war zuletzt aus mehreren Gründen wieder aufgeflammt. Er spitzte sich während des muslimischen Fastenmonats Ramadan und nach der Absage der palästinensischen Parlamentswahl immer weiter zu.
Als Auslöser gelten etwa Polizei-Absperrungen in der Jerusalemer Altstadt, die viele junge Palästinenser als Demütigung empfanden. Hinzu kamen Auseinandersetzungen von Palästinensern und israelischen Siedlern im Jerusalemer Viertel Scheich Dscharrah wegen Zwangsräumungen sowie heftige Zusammenstöße auf dem Tempelberg (Al-Haram al-Scharif). Die Anlage mit Felsendom und Al-Aksa-Moschee ist die drittheiligste Stätte im Islam. Sie ist aber auch Juden heilig, weil dort früher zwei jüdische Tempel standen.
Warum ist die Lage jetzt eskaliert? Was wäre nötig, um die Gewalt zu stoppen? Und gibt es in der aktuellen Situation auch etwas, das Hoffnung macht?
watson hat darüber mit der Politikwissenschaftlerin Lidia Averbukh gesprochen. Sie arbeitet für die Stiftung Wissenschaft und Politik und forscht und veröffentlicht dort über Israel und den Nahostkonflikt.
Watson: Frau Averbukh, warum ist die Lage jetzt so eskaliert?
Lidia Averbukh: Es sind mehrere Dinge zusammenkommen, die Eskalation hat sich über mehrere Wochen angebahnt.
Was waren die entscheidenden Gründe dafür, dass die Gewalt jetzt ausgebrochen ist?
Sehr wichtig war die Verschiebung der palästinensischen Wahlen. Sie waren seit Langem vorbereitet worden, es wären die ersten seit 15 Jahren gewesen. So findet man sich jetzt in der Situation wieder, dass es keine legitime palästinensische Führung gibt. Und das hat sicher zum Frust der arabischen Bevölkerung in Israel und Palästina beigetragen, der die spätere Eskalation begünstigt hat. Vor wenigen Tagen gab es dann das Urteil des Jerusalemer Regionalgerichts darüber, dass mehrere Häuser in Ostjerusalem, im Wohngebiet Scheich Dscharrah, von palästinensischen Familien geräumt werden müssen.
Proteste gegen den Besuch rechter israelischer Abgeordneter im Wohngebiet Scheich Dscharraf in Ostjerusalem. Bild: ap / Sebastian Scheiner
Diese geplante Räumung ist ja einer der Gründe, mit denen palästinensische Extremisten ihre Gewalt gegen Israel und seine Bürger rechtfertigen. Was ist die Begründung der israelischen Behörden hinter diesen Zwangsräumungen?
Tatsächlich läuft dieses Verfahren schon seit Jahrzehnten. Die Zwangsräumungen basieren auf einem israelischen Gesetz von 1970, nach dem jüdische Familien Häuser zurückbekommen können, die sie im Zuge des arabisch-israelischen Kriegs von 1948 bis 1949 verlassen mussten. Der Fall in Scheich Dscharra lief jetzt seit mehreren Jahrzehnten, jetzt wurde zugunsten der Kläger entschieden. Dabei ist eines wichtig: Die Kläger sind nicht die direkten Nachkommen der Familien, die vor knapp 75 Jahren vertrieben wurden. In deren Namen sprechen Siedler, Organisationen und Personen, die dann in diese Häuser ziehen wollen.
Ist so etwas schon öfter vorgekommen?
Es gab ähnliche gerichtliche Auseinandersetzungen auch um andere Städte, insbesondere um das Zentrum der geteilten Stadt Hebron. Dort gibt es prominente Fälle, wo die tatsächlichen damaligen Bewohner oder deren Nachkommen sogar offen gesagt haben, dass sie sie überhaupt nicht zurückhaben wollen. Aber das Gesetz ermöglicht es, dass bestimmte andere Organisationen in ihrem Namen die Häuser zurückverlangen können.
Das heißt: Dieses Gesetz zur Häuserrückgabe wird politisch von Siedlerorganisationen ausgenutzt.
Absolut. Das ist zwar rechtlich mehr oder weniger wasserfest, aber es steckt eine politische Intention dahinter. Insbesondere, wenn man bedenkt, dass eine Rückgabe anders herum nicht möglich ist. Nach dem Gesetz über den Besitz Abwesender von 1950 können Palästinenser, die 1948 oder 1949 geflohen sind, sich nicht in die Häuser ihrer Familien einklagen. Man sieht hier also, dass mit zweierlei Maß gemessen wird. Es ist nicht verwunderlich, dass das die Lage in Ostjerusalem noch einmal aufgeheizt hat.
"Meistens gehen die Raketen dann doch in Vororten von Jerusalem oder Vororten von Tel Aviv nieder. Das ist das Herz des Landes, darauf zielen die radikalen Palästinenserorganisationen."
Die radikalislamische Hamas geht jetzt so weit, dass sie Jerusalem, die heilige Stadt der drei Weltreligionen, bombardiert. Warum macht die Hamas das?
Es ist nicht das erste Mal, dass Raketen der Hamas auch in diese Richtung fallen. 2012, als ich vor Ort war, schlug auch eine Rakete in Jerusalem ein. Natürlich hat Jerusalem eine große Symbolik. Andererseits sind die Raketen der Hamas nicht besonders zielgenau. Meistens gehen sie dann doch in Vororten von Jerusalem oder Vororten von Tel Aviv nieder. Das ist das Herz des Landes, darauf zielen die radikalen Palästinenserorganisationen.
Aus Jerusalem erreichen uns Szenen von israelischen Sicherheitskräften, die über muslimische Gebetsteppiche stapfen, von orthodoxen Juden, die Gesänge mit Gewaltfantasien über Palästinenser skandieren. Warum bricht sich jetzt dieser Hass Bahn?
Er wird jetzt offensichtlich. Wer so denkt, hat jetzt die Möglichkeit, diesen Hass zu bekunden. Aber er ist schon länger da gewesen. Die Situation ist gerade sehr aufgeladen. In Israel hatten wir jetzt die vierte Wahl in Folge, wieder war überhaupt nicht klar, wie sie ausgehen würde. Kurz vor der Eskalation gab es noch eine Aussicht darauf, dass eine alternative Regierung ohne Premierminister Benjamin Netanjahu gebildet werden kann, eine sogenannte "Regierung der Veränderung". Jetzt sieht es wieder so aus, als wäre das nicht möglich, weil ja die islamistische Partei Ra'am Abstand davon genommen hat. Dazu kommt das schwierige Corona-Jahr. Die Pandemie ist zwar überstanden, aber sie hat Spuren hinterlassen. Es gibt in Israel immer noch keinen öffentlichen Haushalt, seit zwei Jahren. Wichtige politische Posten sind nicht besetzt. So eine lange Phase der Unsicherheit gab es noch nie.
Angriffe auf das Herz des Landes: Raketen, die vom Gazastreifen aus in Richtung Israel abgefeuert werden. Bild: imago images / Majdi Fathi
Der israelische Premier Netanjahu, der seit 2009 ununterbrochen Premier ist, ist seit Jahren auf die politische Unterstützung Ultraorthodoxer und Siedler angewiesen. Viele Beobachter werfen ihm vor, beiden sehr weit entgegengekommen zu sein, weil er sie braucht. Und sie damit ermutigt zu haben, immer radikaler aufzutreten. Ist der Vorwurf berechtigt?
Das sind Veränderungen der letzten Jahrzehnte, ich würde da auch unterscheiden zwischen Ultraorthodoxen und religiösen Zionisten. Beim aktuellen Konflikt geht es überwiegend um religiöse Zionisten und insbesondere um Siedlervereinigungen, denen sie angehören. Diese Gruppen werden seit langem legitimiert, auch von anderen Premiers als Netanjahu.
Manche Experten sprechen von der Gefahr einer palästinensischen Intifada, mit Selbstmordattentaten und anderen Anschlägen in ganz Israel, auch in Städten wie Tel Aviv, wie bei der zweiten Intifada vor 20 Jahren. Wie groß ist die Gefahr, dass es so weit kommt?
Wir sprechen immer wieder von Intifada, sobald es Selbstmordattentate gibt. Vor ein paar Jahren hieß es schon, wir hätten eine dritte Messer-Intifada, weil es immer wieder Messerattacken gab. Das hat sich dann nicht bewahrheitet. Ich würde mit dem Begriff vorsichtiger hantieren. Wichtig ist etwas ganz anderes.
Nämlich?
Wie man jetzt schnell wieder in Verhandlungen zwischen den Vertretern Israels und der Palästinenser treten kann, in Gespräche über mögliche Lösungen. Das wird entscheidend dafür sein, wie lange die Eskalation weitergeht. Natürlich hat sie das Potenzial, größer zu werden. Auch deshalb, weil durch die Verschiebung der palästinensischen Wahlen verschiedene palästinensische Akteure besonders motiviert sind, die Gewalt für sich zu nutzen, um ihre Verhandlungsposition zu verbessern.
Der deutsche Außenminister Heiko Maas hat zur aktuellen Eskalation auf Twitter geschrieben: "Alle Seiten stehen in der Pflicht, weitere Opfer unter Zivilisten zu verhindern." Reicht das als Reaktion der Bundesregierung?
Ich würde mir wünschen, dass man beide Seiten noch einmal dazu auffordert, in Verhandlungen zu treten. Das ist natürlich nicht leicht, es wurde ja schon so oft versucht. Aber klar ist auch: Die Lage bekommt man nur in den Griff, wenn der Konflikt gelöst wird. Die Idee, dass man den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern einfach ignorieren kann und inzwischen eine Annäherung Israels an arabische Staaten, wie beispielsweise die Vereinigten Arabischen Emirate, forciert, hilft nicht weiter.
Was wäre aus Ihrer Sicht die sinnvollste Perspektive für den Nahostkonflikt: eine Zweistaatenlösung, mit einem israelischen und einem palästinensischen Staat? Oder ein israelisch-palästinensischer Bundesstaat?
Es gibt nach wie vor keine Lösung, die so gut ausgearbeitet wäre wie die Zwei-Staaten-Lösung. Auch wenn klar ist, dass sie immer weniger wahrscheinlich wird.
Pro-palästinensische Demonstranten am vergangenen Wochenende in Berlin-Neukölln.Bild: imago images / Achille Abboud
"Ich würde dazu raten, sich über den Nahostkonflikt nicht über Social Media zu informieren."
Wer sich über den Nahostkonflikt informieren will, wird mit unglaublich viel Meinung und Propaganda konfrontiert. Was raten Sie jungen Menschen, die vielleicht auf Social Media gerade überladen werden mit Posts zum Thema?
Ich würde dazu raten, sich über den Nahostkonflikt nicht über Social Media zu informieren. Die Polarisierung ist dort zu groß, auf diesen Kanälen findet kein differenziertes Denken statt.
Gibt es etwas, das Ihnen mit Blick auf Israel und die palästinensischen Gebiete Hoffnung macht?
Ich habe mich sehr gefreut über die Tatsache, dass im diesjährigen Wahlkampf in Israel die arabischen Wähler vielleicht zum ersten Mal seit den 1990er-Jahren wieder richtig eingebunden wurden. Die Hoffnung, dass arabische Bürger tatsächlich einmal die Möglichkeit haben, die Politik des Staates Israel mitzugestalten, hat mir große Freude bereitet. Das zeigt doch, dass es möglich ist, miteinander zu reden. Zumindest dann, wenn der Nahostkonflikt gerade nicht so akut ist. Andererseits heißt das natürlich, dass dieses Fenster für Dialog sofort wieder zugeht, wenn der Konflikt in Gewalt ausbricht.
Was müsste jetzt passieren, damit sich dieses Fenster wieder öffnen kann?
Man müsste wieder mit Verhandlungen beginnen. Und als Ziel dieser Verhandlungen sollte man eine Perspektive aufzeigen, die echten Frieden verspricht.
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Die wichtigste Währung in einer Demokratie sind Stimmen. Doch kurz darauf folgt schon das Geld. Ganz besonders gilt das in der ältesten Demokratie der Welt – den USA. Bereits vier Wochen vor dem alles entscheidenden Wahltag haben Demokraten und Republikaner Milliarden von Dollar in den Wahlkampf geschüttet.