Es ging schnell, rasend schnell. Nicht einmal elf Monate lang dauerte es vom Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 bis zum offiziellen Beitritt des DDR-Gebiets zur Bundesrepublik Deutschland.
Ein zentraler Grund dafür, warum es so schnell ging, war die Angst davor, dass Ostdeutschland ausblutet. Dass die Abwanderung, die in den Monaten vor dem Mauerfall begonnen hatte, ungebremst weitergehen würde. Im Februar 1990 hielten Teilnehmer einer Montagsdemonstration in Leipzig ein Transparent in die Höhe. "Kommt die D-Mark, bleiben wir. Kommt sie nicht, geh'n wir zu ihr", stand darauf. Die Botschaft dahinter: Entweder, die Deutsche Mark und mit ihr der westliche Wohlstand kommen in den Osten. Oder wir Ostdeutschen gehen.
Nach der schnellen Wiedervereinigung Deutschlands, so das Versprechen, sollte alles gut werden. Aber das hat nicht geklappt.
Das ehemalige Staatsgebiet der DDR verlor laut Statistischem Bundesamt nach der Wiedervereinigung bis 2017 rund zwei Millionen Einwohner. Die Einwohnerzahl in den ostdeutschen Ländern und Berlin sank von 1990 bis 2017 um rund elf Prozent auf etwa 16,2 Millionen. Die Abwanderung von Ost nach West war besonders in zwei Phasen besonders stark: von 1990 bis 1994 – und zwischen dem Ende der 1990er und dem Beginn der 2000er Jahre. Rechnet man Berlin heraus – seit 1991 wieder deutsche Hauptstadt und seit der Jahrtausendwende stark wachsende Metropole – leben nur noch 13,5 Millionen in Ostdeutschland. "So viele wie 1905", meint dazu Soziologe Steffen Mau zu watson.
Vor der politischen Wende 1989 war der Hauptgrund für die Abwanderung die Trostlosigkeit in der erstarrten DDR-Diktatur. Nach 1989 war es die Arbeitslosigkeit in der freien Marktwirtschaft: Der Wirtschaftssoziologe Paul Windolf kam in einer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass zwischen 1990 und 1995 rund 80 Prozent der Beschäftigten auf dem früheren DDR-Gebiet zeitweise oder langfristig ihren Arbeitsplatz verloren.
Ein unfassbarer Einschnitt.
Dessen Folge war, neben den millionenfachen Umzügen nach Westen, ein kollektives Trauma. Autor Bernd Martens zitiert in einem Beitrag für die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) eine Studie des Emnid-Instituts aus der Zeit kurz nach der Wende. Die Autoren hätten damals in Ostdeutschland eine "depressive Stimmung" festgestellt, die "noch nie und nirgends zuvor" gemessen worden sei. Mehr als ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung habe damals das Gefühl gehabt, "in dieser Gesellschaft nicht mehr gebraucht zu werden".
Soziologe Mau weist darauf hin, dass die Folgen der Abwanderung aus Ostdeutschland weiter verschärft wurden: durch einen heftigen Einbruch der Geburtenzahlen um rund 60 Prozent Anfang der 1990er Jahre.
Mau hat mit seinem 2019 erschienenen Buch "Lütten Klein – Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft" viel Beachtung gefunden. Er beschreibt darin am Beispiel eines Viertels von Rostock, wie sich der Umbruch vom Sozialismus der DDR zur Marktwirtschaft im vereinigten Deutschland ausgewirkt hat.
Die Folgen der Abwanderung bis heute fasst Mau gegenüber watson in diesem Satz zusammen:
Das hat drastische Folgen für den Alltag vieler Menschen von Thüringen bis Mecklenburg-Vorpommern, bis heute. Die "Entleerung von allem kleinerer und mittlerer Städte", wie Mau es nennt, führt dazu, dass Geschäfte und Freizeiteinrichtungen schließen und der öffentliche Nahverkehr ausgedünnt wird. Wenn junge Menschen fehlen, schließen Kindergärten und Schulen, Clubs und Kulturzentren.
Worauf Mau besonders hinweist: Deutlich mehr Frauen als Männer verließen nach 1990 den Osten Deutschlands. Mit der Folge, dass es bis heute vielerorts einen "Männerüberhang" gebe.
Mehr Frauen als Männer verließen den Osten – und es gingen vor allem die jüngeren, qualifizierten, karrierehungrigen Menschen. Für Joachim Ragnitz, Wirtschaftswissenschaftler am Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in Dresden, hat auch das die Folgen der Abwanderung weiter verschäft. "Es sind eben eher die 'Eliten', die abgewandert sind", erklärt Ragnitz gegenüber watson.
Das wiederum habe zum einen den Bevölkerungsrückgang nochmals verschärft, weil die jungen, gut qualifizierten Ostdeutschen ihre Kinder dann im Westen bekommen haben. Zum anderen fehlten in manchen Regionen dadurch bis heute gut ausgebildete Fachkräfte.
Und schließlich mangelt es laut Ragnitz bis heute in vielen ostdeutschen Regionen auch an "Menschen, die die gesellschaftliche Entwicklung in den betroffenen Regionen vorantreiben könnten".
Christian Spiller, Journalist und Autor bei "Zeit Online", fasst die Folgen dieser Abwanderung der Eliten in einem Beitrag für den "fluter", das Magazin der bpb, so zusammen:
Die Neugierigen gingen, die Reaktionären blieben. Ist das eine Erklärung für die Wahlerfolge der AfD, die in den Landtagswahlen in allen ostdeutschen Bundesländern außer Berlin Ergebnisse von über 20 Prozent geholt hat – und in allen anderen Ländern deutlich unter 20 Prozent lag?
Soziologe Steffen Mau sagt: ja. Es existiere ein Zusammenhang "zwischen der regionalen Situation und der AfD-Neigung". Mau wörtlich:
Immerhin: 30 Jahre nach der Wiedervereinigung sehen die Zahlen zur Migration zwischen Ost und West deutlich positiver aus, zumindest auf den ersten Blick. Das Statistische Bundesamt (Destatis) stellte schon seit 2009 fest, dass sich die Abwanderung deutlich verlangsamte. Seit 2017 ist sie sogar gestoppt, zumindest auf dem Papier.
2017 und 2018 waren die "Wanderungssalden" für Ostdeutschland sogar positiv: Das heißt, mehr Menschen zogen von West nach Ost als umgekehrt. Besonders die 18- bis unter 25-Jährigen ziehen längst nicht mehr so häufig fort wie in den 1990er und 2000er-Jahren: Deutlich mehr von ihnen bleiben laut Destatis inzwischen zum Studium in Ostdeutschland.
Das ist zwar grundsätzlich eine Trendwende. Bei einem genaueren Blick auf die Daten wird aber deutlich, dass davon vor allem die Großstädte in Ostdeutschland profitieren. Der "Wanderungsgewinn", sagt Soziologe Steffen Mau, werde "nicht in der Fläche wirksam", sondern "von acht oder neun größeren Städten getragen, die meisten davon sind Universitätsstädte". Prozentual gesehen waren zum Beispiel 2018 Leipzig und Potsdam die am stärksten wachsende Städte Deutschlands. Mittelgroße und kleine Städte und Gemeinden verlieren weiter an Einwohner.
Ökonom Joachim Ragnitz sagt: "In weiten Teilen Ostdeutschlands überwiegt weiterhin die Abwanderung", nicht mehr unbedingt in den Westen, sondern eher in die Großstädte. Aber ein großer Teil des Bevölkerungsrückgangs liege ohnehin nicht mehr an der Abwanderung – sondern daran, dass vielerorts mehr Menschen sterben, als geboren werden.
Ragnitz sieht voraus, man müsse "weiter mit stark rückläufiger Bevölkerung" rechnen. Dieses Problem haben aber längst nicht mehr nur viele ostdeutsche Regionen. Sondern auch viele ländliche Gegenden in Westdeutschland.