Kurz vor Ende seiner Amtszeit sieht Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) in der Flüchtlingspolitik dringenden Handlungsbedarf: Auch weil gerade in den vergangenen Tagen immer mehr Menschen ankämen, die die Fluchtroute über Belarus nähmen.
"Dort findet eine staatlich organisierte oder zumindest unterstützte Schleusertätigkeit statt", sagt Seehofer. Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko hat in den vergangenen Monaten Menschen aus Afrika und Asien ermutigt, über sein Land in die EU einzureisen. Zum Beispiel durch das Aussetzen der Visapflicht für die Bürger Pakistans, des Irans, Jordaniens und Ägyptens. Anschließend werden die Ankommenden über die Grenze Litauens oder Polens geschickt – weisen die Grenzer sie ab, gibt es kein Zurück.
Die belarussische Polizei lässt sie nicht. Stattdessen tummeln sich Berichte über Menschen in Not, die im Niemandsland zwischen Belarus und Polen ausharren müssen. Wie die "Tagesschau" berichtete, sollen sich dort aktuell 31 Personen befinden. Mindestens sieben sind bisher gestorben, das berichtet der "Spiegel".
Seehofer sieht in der möglichen Schleusertätigkeit Lukaschenkos den Aufbau von Druck, "indem man Migranten als politische Waffe einsetzt". Das Dilemma könne nur innerhalb der Staatengemeinschaft gelöst werden, erklärt er. Und, dass Polen geholfen werden müsse, unrechtmäßige Migration abzuwehren.
Inwiefern das Handeln Polens rechtens ist, was genau Lukaschenko sich erhoffen könnte und wie die EU reagieren müsste, darüber hat watson mit Wissenschaftlerinnen und Politikern gesprochen.
"Im Prinzip ist das eine Reaktion auf die Sanktionen aus dem Juni", sagt Olga Dryndova von der Forschungsstelle Osteuropa der Uni Bremen. Ihr Fachgebiet: Belarus.
Nachdem der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko bereits im frühen Sommer angedroht hatte, massenhaft Geflüchtete ziehen zu lassen, macht er jetzt ernst. "Es ist eine Art Bestrafung für die EU, auch wenn Belarus vom ursprünglichen Deal, die EU-Grenzen zu schützen, finanziell profitiert hat", sagt Dryndova.
Durch sein Handeln könnte Lukaschenko versuchen, die EU von weiteren Sanktionen abzubringen, die Mitgliedsstaaten unter Umständen zu spalten. "Ich kann nicht in seinen Kopf gucken, aber möglicherweise hofft er auch, dass die Krise für die EU so schlimm wird, dass sie doch mit ihm verhandelt", sagt die Belarus-Expertin. Bisher gebe es allerdings keine Anzeichen, dass irgendjemand aus der EU bereit wäre, mit Lukaschenko zu reden.
Wie die Europäische Union aus der Misere herauskommen könnte? Dryndova formuliert das so:
Immer wieder wird der Vorwurf laut, Russland, der Kreml und Präsident Wladimir Putin hätten mit der künstlichen Flüchtlingswelle zu tun.
Bei dieser Mutmaßung rät Dryndova zur Vorsicht: "Lukaschenko ist zwar von Putins Unterstützung abhängig, trotzdem wäre ich vorsichtig, jede Aktivität von Lukaschenko mit Russland zu erklären. Dadurch machen wir uns als EU die Lösung der Krise schwieriger." Schließlich könne der Kreml auch nur Beobachter der Situation sein.
"Polen verletzt europäisches Recht, indem es Menschen an der Grenze zu Weißrussland ohne Prüfung ihrer Schutzbedürftigkeit zurückweist", sagt Anuscheh Farahat. Sie ist Professorin für Öffentliches Recht, Migrationsrecht und Menschenrechte an der Universität in Erlangen. Sie erklärt:
Da Polen außerdem der Staat der ersten Einreise in die EU wäre, müsste das Asylverfahren dort stattfinden. Zwar gebe es Kriterien, die dazu führten, dass ein anderer EU-Mitgliedstaat für das Asylverfahren zuständig wird – zum Beispiel, wenn die Asylsuchenden dort schon Familie hätten.
"Aber gar nichts zu machen und nicht einmal zu prüfen, ob die Menschen einen Anspruch auf Asyl oder ein anderer Mitgliedstaat zuständig ist, das verstößt gegen EU-Recht", fasst Farahat zusammen. Und wenn davon auszugehen sei, dass die Menschen in Weißrussland gefährdet wären oder gar nicht von da kämen, verstoße dieses Handeln sogar gegen Völkerrecht. Genauer gesagt gegen die Genfer Flüchtlingskonvention.
Was genau an der belarussischen Grenze zu Polen passiert, ist unklar: Polen hat in diesem Bereich den Ausnahmezustand ausgerufen: Das bedeutet, dass weder Hilfsorganisationen, noch Journalistinnen Zugang haben. EU-Politiker Erik Marquardt (Die Grünen) bewertet die Lage auf watson-Anfrage folgendermaßen:
Marquardt zeigt sich schockiert ob des "europäischen Unvermögens, auf Situationen wie an der Grenze zwischen Polen und Belarus rechtsstaatliche Antworten zu finden". Er geht davon aus, dass die Abschottung, die Polen gerade vollziehe, genau das sei, was sich Lukaschenko wünsche: "Er bekommt Aufmerksamkeit, kann Druck erzeugen, auf Europa zeigen und sagen, dass wir ja auch nichts mit Menschenrechten am Hut haben." Gleichzeitig bekäme der belarussische Machthaber so die Möglichkeit, seine eigenen Leute bei sich einzusperren.
Auch der migrationspolitische Sprecher der SPD, Lars Castellucci, kritisiert gegenüber watson das Handeln der polnischen Regierung und stellt fest: "Die europäische Grenzschutzagentur Frontex sollte Zugang zum Gebiet bekommen und den Grundrechtsschutz für alle dort sicherstellen."
Um Polen zu unterstützen, wie Seehofer es nennt, sollen nun acht Hundertschaften der deutschen Polizei an der polnisch-deutschen Grenze patrouillieren. So soll sichergestellt werden, dass niemand unregistriert die Grenze übertritt.
"Nach dem Schengener Grenzregime muss die Europäische Kommission zunächst eine Gefahrenlage feststellen und Grenzkontrollen empfehlen, bevor Deutschland im Kontext von Flüchtlingszuwanderung seine Grenzen zu einem anderen EU-Staat schließen und Grenzkontrollen einführen kann", sagt die Anuscheh Farahat. Ob diese Gefahrenlage bereits jetzt gegeben ist, wagt die Völkerrechtlerin zu bezweifeln.
EU-Politiker David McAllister (CDU) hält es für entscheidend, die Funktionsweise des Schengen-Raums aufrechtzuerhalten. Gegenüber watson erklärt er:
Auch Gökay Akbulut, die migrationspolitische Sprecherin der Linken lehnt die Schließung der Grenzen zwischen Deutschland und Polen entschieden ab. "Diese Forderung der Konservativen löst das Problem der steigenden Einreisen von Asylsuchenden aus Polen nicht. Die Priorität müssen die Menschen haben, die Schutz suchen, nicht die Grenzen, die so geschützt werden sollen", sagt sie.
Die EU steht in diesem Fall vor einem Dilemma: Auf den Druck, den Lukaschenko durch die Geflüchteten aufbauen möchte, könne die EU nur politisch reagieren. "Diplomatisch oder wirtschaftlich kann sicherlich sanktioniert werden. Aber es gibt kein Gericht, vor das man Lukaschenko stellen kann", sagt Farahat.
Polen wiederum ist ohnehin eines der Sorgenkinder, spätestens seit das polnische Verfassungsgericht geurteilt hat, dass polnisches Recht über EU-Recht stehe.
Ein Zustand, der die Linken-Politikerin Akbulut nervt. Aus ihrer Sicht macht die EU im Umgang mit Polen einen großen Fehler, indem sie die rechtswidrige Praxis insoweit unterstütze, als dass sie nichts darauf entgegne. "Die EU müsste gegen diese Mitgliedstaaten vorgehen und gegebenenfalls Vertragsverletzungsverfahren einleiten", erklärt Akbulut. Mitglieder der Staatengemeinschaft, die sich den Regeln und Konditionen, zu denen sie in die EU eingetreten seien, widersetzten, müssten zur Rechenschaft gezogen werden. "Die Würde der Menschen steht im Vordergrund, sodass die EU geschlossen und einheitlich auftreten muss und Mitglieder", sagt Akbulut.
Außenminister Heiko Maas und die übrigen EU-Außenminister berieten Anfang der Woche über neue Strafmaßnahmen gegen Fluglinien, die die illegalen Einreisen über Belarus unterstützen. Die EU-Kommission verhandelt zudem mit Ländern, aus denen die Migranten kommen oder die auf ihrer Route liegen. Erfolg hatte sie nach eigenen Angaben im Irak: Es gebe keine Flüge mehr von Bagdad nach Minsk, sagte Anfang Oktober Migrationskommissarin Ylva Johansson.
Lukaschenko gehöre für sein Handeln vor internationale Gerichte gestellt und "des staatlichen Menschenschmuggels" angezeigt, erklärt Castellucci auf watson-Nachfrage. Konkret meint er:
Aus Sicht des EU-Politikers McAllister müsse es neben der bereits auf den Weg gebrachten Sanktionen gegen Belarus auch einen intensiven Austausch mit der dortigen Zivilgesellschaft geben. Gegenüber watson erklärt er: "Am Ende sind es die Menschen in Belarus, die das Schicksal ihres Landes in der Hand haben. Sie sollen wissen, dass sie unsere Unterstützung und Solidarität haben."
Die migrationspolitische Sprecherin der Grünen, Filiz Polat, fasst die Aufgabe der Union auf watson-Nachfrage wie folgt zusammen:
Wie ihre Kollegin bei den Linken fordert auch sie ein konsequentes Vorgehen, gegen den EU-Mitgliedsstaat Polen. "Wer europäisches Recht missachtet, schadet der gesamten Europäischen Union", sagt sie.
(Mit Material von dpa)