Eine neue Mutation des Coronavirus hat Deutschland erreicht. Omikron ist der Name der Mutation, deren erste Fälle mittlerweile auch in der Bundesrepublik nachgewiesen wurden. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die Variante B.1.1.529, wie Omicron auch bezeichnet wird, als besorgniserregend eingestuft.
Der Virologe Christian Drosten zeigte sich im ZDF-"heute journal" ebenfalls besorgt. Vor allem, weil es sich bei Omicron um eine Mutation handeln könnte, die den Immunstatus umgehen könnte. Sollte das der Fall sein, würde das bedeuten: Auch Genese und Geimpfte können leicht angesteckt werden.
Anders als geplant haben sich die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten der Länder deshalb bereits am Dienstag in der ersten Adventswoche mit der geschäftsführenden Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und dem Kanzler in spe Olaf Scholz getroffen. Bei der Telefonschalte wurde unter anderem die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur sogenannten Bundesnotbremse besprochen – die Richter hatten am Dienstagmorgen geurteilt, dass Ausgangsbeschränkungen und Schulschließungen im Rahmen der Bundesnotbremse rechtens waren.
Die Notbremse war im April eingeführt worden: Sie regelte, dass Landkreise und Städte, die an drei Werktagen in Folge auf eine Inzidenz über 100 gekommen sind, am übernächsten Tag bundeseinheitliche Maßnahmen einführten – beispielsweise Kontaktbeschränkungen, Restaurant- und Geschäftsschließungen. Die Notbremse ist Ende Juni außer Kraft getreten.
Wie die dpa berichtete, wurde außerdem über die aktuelle Lage angesichts der Überlastung der Kliniken und der Ausbreitung der neuen Omikron-Variante gesprochen. Scholz zeigte dabei Sympathien für eine allgemeine Impfpflicht. Die Abstimmung darüber im Bundestag solle ohne Fraktionszwang stattfinden, sagte Scholz in der Runde, wie die Deutsche Presse-Agentur übereinstimmend aus mehreren Quellen erfuhr.
Bereits zwei Tage später, am Donnerstag, wollen sich die Länderchefs erneut zusammenschalten.
Die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts betonten laut Steffen Augsberg, Professor für öffentliches Recht an der Uni Gießen, die Einschätzungs- und Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers. Augsberg führt auf watson-Anfrage aus:
Ob diese Gefahrenlage in der aktuellen Situation bereits erreicht sei, müsse die Politik entscheiden.
Der Rechtswissenschaftler und früherer Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshofs, Thomas Fischer, zeigt sich von dem Urteil wenig überrascht. Vielmehr habe das Gericht eine Rechtsansicht geäußert, die Fischer selbst seit Beginn der Pandemie vertritt.
Gegenüber watson führt Fischer aus:
Da der deutsche Rechtsstaat ein sozialer Rechtsstaat sei, habe er auch die Pflicht, aktiv für das Wohlergehen seiner Bürger zu sorgen. "Ein überlastetes Gesundheitssystem, die Gefahr hunderttausender von Toten und Schwerstkranken und langfristig Geschädigten kann kein Staat, der für seine Bürger verantwortlich ist, einfach hinnehmen und als 'Schicksal' abtun", meint Fischer.
Die bisherigen Eingriffe seien maßvoll, erforderlich und verhältnismäßig gemäßen. Ebenso wie jene Eingriffe, die noch folgen werden, es sein werden. "Selbstverständlich ist nach meiner Ansicht eine allgemeine Impfpflicht ebenso verfassungsgemäß wie es ein 'harter Lockdown' für 4 Wochen wäre", sagt der Rechtswissenschaftler. Weiter führt er aus:
"Je früher die vierte Welle der Pandemie gestoppt werden kann, desto besser für die Wirtschaft", antwortet Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) auf watson-Anfrage. Ein erneuter Lockdown würde vor allem Dienstleistungssektoren wie die Gastronomie, den Einzelhandel und die Reisebranche unmittelbar und hart treffen.
Trotzdem meint Fratzscher: "Ein kurzer, harter Lockdown wäre für viele Unternehmen besser zu verkraften als ein langer, weicher Lockdown." Er fügt an: "Daher sollte die Politik schnell und entschieden handeln und nicht länger notwendige Maßnahmen verzögern." Insgesamt werde die vierte Welle der Pandemie die Wirtschaft wieder schwächen. Da Lieferketten nicht gut funktionierten und der Konsum sich abgeschwächt habe, könnte die deutsche Wirtschaft auch im vierten Quartal schrumpfen.
Michael Hüther, der Präsident des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW), ist der Meinung, dass vor allem eine erfolgreiche Impfkampagne die wirtschaftliche Lage entspannen könnte. Gegenüber watson spricht er sich daher für eine Impfpflicht aus.
Wörtlich sagt Hüther:
Ob die Wirtschaft einen weiteren Lockdown verkraften würde, kommt seiner Ansicht nach auf die Details der Einschränkungen an. Einschließlich der ersten Jahreshälfte 2021 habe die Pandemie bereits knapp 300 Milliarden Euro an Wertschöpfung gekostet. "Ein weiteres Runterfahren der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens würde diese Bilanz weiter verschlimmern", sagt der IW-Präsident.
Zwar schade das Stop-and-go der Wirtschaft den Unternehmen. Allerdings sieht Hüther auch in einem kompletten Lockdown nicht den gewünschten Effekt:
Eine ökonomische Normalisierung sei erst absehbar, wenn Investitionen und Konsum wieder an Fahrt gewännen. Hüther sagt: "Im kommenden Jahr gehen wir davon aus, dass das BIP um knapp vier Prozent zulegen wird. Auch hier ist die Voraussetzung eine erfolgreiche Impfkampagne."
Auch Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschlands (HDE), spricht sich auf watson-Nachfrage für eine Impfpflicht aus. Er hebt außerdem die Wichtigkeit der Impfkampagne hervor. Der Handel wird aus diesem Grund Anfang Dezember mit der Kampagne "Leben statt Lockdown" beim Impfen helfen. Ein Lockdown würde aus Sicht des HDE-Chef eine Katastrophe für Einzelhändler darstellen. Wörtlich sagt Genth:
Durch Hygienekonzepte, Maskenpflicht und Abstandsregelungen sorge der Einzelhandel dafür, dass Menschen auch während der Pandmemie sicher einkaufen könnten. "Er ist kein Pandemietreiber", sagt Genth. Selbst das Robert-Koch-Institut schätze das Infektionsrisiko beim Einkaufen als gering ein.
Genth stellt klar:
Klar gegen den Lockdown spricht sich auch der Interessenverband der Gastro-Branche Dehoga aus. Die Gastronomie leide laut Ingrid Hartges, Hauptgeschäftsführerin der Dehoga, bereits unter der Einführung der 2G-Regel. In einem früheren Artikel dieses Monats berichtet Hartges von Stornierungen bei Betrieben in Bundesländern, die bereits flächendeckend 2G eingeführt hätten. Die Dehoga-Chefin sagt:
Wie gravierend die Folgen für Betriebe sein würden, hänge auch damit zusammen, wie schnell Maßnahmen greifen würden. Klar sei aber: "Einen Lockdown für vollständig Geimpfte darf es nicht mehr geben." Vielmehr komme es mehr denn je darauf an, dass die Zugangskontrollen in den Betrieben konsequent umgesetzt würden.
Ein Lockdown dürfte nur das allerletzte Mittel sein. Das findet Olaf Zimmermann, der Geschäftsführer des Kulturrats – dem Spitzenverband der Kultur-Branche. Die vergangenen zwei Jahre seien schwer gewesen: von einer leichten Öffnung im Sommer 2020 hin zu einer kompletten Schließung über Monate im vergangenen Winter.
In diesem Sommer habe sich die Situation wieder leicht entspannt und nun starteten die Diskussionen, alles schließen zu müssen, erneut. "Die beste Form der Kulturförderung ist eine Impfpflicht", sagt Zimmermann und weiter: "Hätte die Politik rechtzeitig gehandelt, wäre uns das, was wir jetzt haben, erspart geblieben."
Ein Lockdown würde aus Sicht des Kulturrat-Chefs bedeuten, "dass der untragbare Zustand für die Kultur weitergeht." Er würde die Kulturbranche nicht nur in eine ökonomische, sondern auch in eine künstlerische Krise stürzen: "Es gibt einen wirklichen Verlust von Talenten", sagt Zimmermann.
Vor allem freischaffende Künstler und Selbstständige, wie beispielsweise kleinere Verlage oder Galeristinnen, hätten extrem gelitten. Der gesamte Bereich leide: Die Kunstschaffenden selbst, aber auch alles außenrum. "Tontechnikerinnen, Beleuchter, Bühnentechnikerinnen – es hängen viele Jobs an dieser Branche", sagt Zimmermann.
Die Kulturbranche erwarte nun zwei Dinge von den Politikerinnen und Politikern:
Zimmermann verstehe, dass nichts ausgeschlossen werden könnte. Wenn ein Lockdown die einzige Möglichkeit wäre, die aktuelle Lage in den Griff zu bekommen, müsse das sein – aber das allerletzte mal. Und dann für alle Branchen gleichermaßen.
Die zweite Forderung des Kulturrats-Chefs:
Insgesamt dürfe die Politik nicht so weitermachen wie bisher, stattdessen sei es an der Zeit, die geeigneten Maßnahmen zur richtigen Zeit zu ergreifen.
SPD, Grüne und FDP bemühen sich, bereits zu Beginn dieser Woche den Corona-Krisenstab im Kanzleramt zu etablieren. Leiten wird ihn Carsten Breuer, Generalmajor der Bundeswehr. Damit würde der Krisenstab noch vor Olaf Scholz' Wahl zum Bundeskanzler und dem Amtsantritt der neuen Regierung seine Arbeit beginnen. Beides ist für die Woche ab dem 6. Dezember geplant. In Anbetracht der aktuellen Situation und der weiter steigenden Inzidenz- und Hospitalisierungsraten gibt es keine Zeit zu verlieren.
"Es gibt nichts, was nicht in Betracht gezogen werden kann", twitterte SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz am Samstag. Durch die Blume gesagt bedeutet dieser Satz: Impfpflicht und Lockdown werden nicht mehr ausgeschlossen. Mit Baden-Württembergs Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) fordert mittlerweile auch ein Politiker, der kein Unions-Mitglied ist, das erneute Ausrufen der epidemischen Lage nationaler Tragweite.
Mit diesem Instrument würde verhindert, dass von Bundesland zu Bundesland allzu unterschiedliche Regeln gelten. Nur: Die epidemische Lage wurde erst vor Kurzem ersetzt, durch einen neuen "Instrumentenkasten", wie die Ampel-Koalitionäre ihr neues Corona-Gesetz nennen.
In Bayern, Sachsen und Thüringen sind sogenannte Teil-Lockdowns schon wieder an der Tagesordnung. Teil-Lockdown bedeutet: anders als vergangenen Winter ist nicht alles komplett dicht. In Sachsen dürfen Geschäfte und Restaurants beispielsweise unter 2G-Bedingungen bis 20 Uhr geöffnet haben. "Wir wollten den Unternehmen so die Möglichkeit geben, zumindest teilweise Umsatz zu machen", heißt es vonseiten der Landesregierung.
Warum die Sachsen zur Mittagszeit essen gehen dürfen, abends aber nicht? Das habe auch den Sinn und Zweck, Zusammentreffen von Menschen zu vermeiden. Ein Abendessen gebe eher den Anreiz, dazu Alkohol zu trinken und lange in geselliger Runde zu verweilen als ein Mittagessen.
Im Rest der Republik wird aktuell noch auf 2G- und 2G-Plus-Regelungen im Freizeitbereich gesetzt – beispielsweise auf Weihnachtsmärkten, in Kneipen, in Clubs. Der Flickenteppich, der auch zu Beginn der Pandemie herrschte, ist also zurück.