Der schwedische Politiker Rasmus Paludan verbrennt einen Koran – Kriminalität nimmt in Schweden immer weiter zu. Bild: Getty Images Europe / Jonas Gratzer
Analyse
Yasmin Müller / watson.ch
Mord und Totschlag, Bandenkriminalität und Kinder, die sich als Auftragskiller anbieten. Und mittendrin geht ein Koran in Flammen auf. Was nach einem Endzeitfilm klingt, ist Realität in Schweden.
Der skandinavische Staat scheint gerade im großen Stil zu versagen bei der Eindämmung einer Gewaltwelle, die über das Vorzeigeland schwappt – die Situation scheint zu eskalieren. Und das, obwohl die neue Regierung eigentlich alles besser machen wollte als bisher.
Was ist da los?
Die Gangs
Während die Mordrate mit Schusswaffen in vielen europäischen Ländern in den vergangenen Jahren gesunken ist, ist die Rate in Schweden gestiegen, wie eine 2021 veröffentlichte Vergleichsstudie des schwedischen Nationalen Rates für Kriminalprävention zeigt.
2022 verzeichnete Schweden sogar eine Rekordzahl an Todesfällen durch Schusswaffen – die Zahl stieg im Vergleich zum Vorjahr um rund ein Drittel. Besonders die Vororte der Hauptstadt Stockholm werden von Schießereien und Explosionen erschüttert.
Der US-Zeitschrift Politico beschreibt eine junge Mutter ihre Ängste, während sie ein Loch in der Außenwand ihres Wohnblocks betrachtet, das Sprengstoff dort hinterlassen hat:
"Wir haben Angst. Wir wissen, dass der Sprengstoff wahrscheinlich auf eine Person abzielte, die in unserem Gebäude lebt, aber es betrifft uns alle."
Explosion in einem Restaurant, Stockholm, 17. Januar 2023.Bild: Imago/TT / imago images
Das prominenteste Opfer des Bandenterrors ist der Rapper Nils "Einár" Grönberg, der im Oktober 2021 in Stockholm erschossen wurde. Gegen den mutmaßlichen Drahtzieher der Tat – den Anführer der Vårbynätverket – beginnt am Mittwoch der Prozess.
Der 19-jährige Rapper Nils "Einár" Grönberg wurde 2021 ermordet. Bild: imago images/TT / imago images
Die für die Gewalteskalationen verantwortlichen Gangs sind häufig im Drogenmilieu tätig. Besonders viele Taten sollen laut SVT in der Rivalität zweier Banden um den Drogenmarkt in Sundsvall verwurzelt sein.
Doch das Phänomen schlägt auf das ganze Land über: "Ich würde sagen, dass die 'Gangster-Identität' wie ein Trend ist, der sich überall ausbreitet", sagt der Szenekenner Diamant Salihu bei einer Leserfragenrunde des öffentlich-rechtlichen Senders SVT.
Der Landespolizeichef, Anders Thornberg, sagte während einer Pressekonferenz am Montag, dass die Situation mittlerweile "extrem ernst" sei.
Die Bandenmitglieder seien häufig Teenager aus Einwandererfamilien, so Salihu. Die Hälfte der Verdächtigen sei unter 18, sagte die ermittelnde Kommandantin Hanna Paradis kürzlich. Thornberg spricht sogar von "Kindern". Carin Götblad, Polizeikommissarin der Provinz Stockholm, schildert den Fall eines 13-Jährigen, der sich den Gangs angeboten habe, um "umsonst jemanden zu töten", damit er "jemand werde".
Schwedens Polizeipräsident, Jale Poljarevius, sagte über die Bandenmitglieder bereits vor einem Jahr während einer Podiumsdiskussion an der Universität Uppsala:
"Sie schießen aufeinander und zielen manchmal so schlecht, dass völlig unschuldige Menschen, sogar Kinder, verletzt oder getötet werden."
Die Polizei an einem Tatort in Solna, an dem ein Mann auf offener Straße erschossen wurde, 20. Januar 2023.Bild: Imago/TT / imago images
Der Kurs der neuen Regierung
Für die Schweden ist das alles nicht wirklich neu. Denn ihr Land hat schon seit Langem mit einer zunehmenden Waffengewalt zu kämpfen, die größtenteils mit organisierten Netzwerken und der organisierten Kriminalität zusammenhängt.
Neu ist jedoch die politische Ausrichtung der Regierung, die im September gewählt wurde und für die Eindämmung der Gewalt verantwortlich ist. Doch die Situation scheint ihr zu entgleiten.
Der Ministerpräsident Ulf Kristersson kam nach den Parlamentswahlen im vergangenen September an die Macht, wobei er unter anderem stark von den rechtspopulistischen Sverigedemokraterna (SD) gestützt wird.
Sowohl Kristerssons Moderate-Partei als auch die SD traten hauptsächlich mit dem Versprechen an, hart gegen die Bandenkriminalität vorzugehen. Unter anderem versprachen sie schärfere Einwanderungskontrollen oder sogar einen "Paradigmenwechsel" in der Strafjustiz – Haftstrafen sollten verlängert werden.
Und dieser Kurs kam so gut an bei den Wählern, dass die populäre Ministerpräsidentin Magdalena Andersson und ihre Mitte-Links-Minderheitsregierung abgesetzt wurden.
Der Ministerpräsident Ulf Kristersson und seine konservative Regierung planten hart durchzugreifen.Bild: AP / Jean-Francois Badias
Doch wie die Koalitionsregierung jetzt lernen muss, ist die Umsetzung des Wahlversprechens nicht ganz so einfach, wie mit Versprechen Wahlen zu gewinnen. Denn 112 der 388 Schießereien, die es 2022 in Schweden gab, haben im September oder später stattgefunden.
Am 20. Dezember präsentierten die Vorsitzenden der drei Regierungsparteien sowie der rechtsextreme Führer der SD, Jimmie Åkesson, eine Reihe von politischen Änderungen, die der Gewalt ein Ende setzen sollen. Unter anderem dürfe die Polizei bald nach Waffen und Sprengstoff suchen, selbst wenn sie kein Fehlverhalten feststellen kann.
Die Polizei kündigte am vergangenen Freitag an, dass sie aufgrund der Gewaltwelle zusätzliche Ressourcen aus anderen Regionen nach Stockholm berufen hätte. Sie betont aber, dass dies bloß einen kurzfristigen Effekt haben werde, denn auf längere Sicht liege der "Schlüssel zur Überwindung der Bandengewalt" darin, der Neurekrutierung ein Ende zu setzen, so Thornberg.
Der brennende Koran und die Gangs
Während die schwedische Polizei sich in Stockholm konzentriert, um gegen die Gang-Gewalt anzukämpfen, ging in Schweden ein heiliges Buch in Flammen auf: Der rechtsextreme Provokateur Rasmus Paludan hatte am Samstag einen Koran in der Nähe der türkischen Botschaft angezündet – die Aktion war von der Polizei bewilligt gewesen.
Rasmus Paludan verbrennt einen Koran vor der türkischen Botschaft, 21. Januar 2023.Bild: IMAGO/TT / imago images
Die Aktion stieß in der gesamten muslimischen Welt auf Verständnislosigkeit und löste Proteste aus, bei denen unter anderem die schwedische Flagge verbrannt wurde. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan reagierte ebenfalls empört auf den "islamfeindlichen Akt in Stockholm" – und drohte Schweden, das Land beim angestrebten NATO-Beitritt nicht mehr zu unterstützen.
Während sich Ministerpräsident Kristersson bei der muslimischen Gemeinschaft entschuldigte und den Vorfall "beleidigend" nannte, hat der SD-Vorsitzende Åkesson via Facebook noch mehr Öl ins Feuer gegossen, als er auf die Worte des Ministerpräsidenten reagierte:
"Es gibt Grenzen, wie sich eine Regierung ausdrücken sollte, nicht zuletzt, weil Schweden eine nicht zu unterschätzende islamistische Bedrohung im Inland hat."
Muslimische Kinder und Männer demonstrieren gegen die Koranverbrennungen in Schweden, Gaza, 24. Januar 2023.Bild: IMAGO/APAimages / Ashraf Amarax
In Schweden selbst gab es in den vergangenen Tagen ebenfalls Ausschreitungen während Gegendemonstrationen, es kam zu Sachbeschädigungen und Angriffen auf die Polizei.
Dabei ist es nicht das erste Mal, dass Paludan im Zentrum einer solchen Situation in Schweden steht. So gab es im April 2022 grosse Ausschreitungen im ganzen Land, nachdem der Hardliner angekündigt hatte, Korane verbrennen zu wollen – und die Polizei seine Veranstaltung schützte.
Damals hieß es, dass die schwedischen Gangs Drahtzieher hinter den Ausschreitungen seien und aus den Tumulten und Gewaltakten gegen die Polizei Profit schlagen würden. Das Hauptziel der Randalierer sei nicht etwa Paludan, sondern die schwedische Polizei sowie die Gesellschaft, so Thornberg.
Ausschreitungen in Malmö 2022.Bild: johan Nilsson/tt / imago images
Die Kritik am Regierungskurs
Dass die neue Regierung die vielschichtige Gewalt im Land in den Griff bekommt, daran zweifeln Kritiker.
Polizeipräsident Poljarevius tut die Versprechungen à la "Verbrechen zu vernichten" als leere Rhetorik ab. Kriminalität habe es immer gegeben und werde es immer geben, meint er. Was es seiner Meinung nach wirklich braucht, wäre eine gesellschaftliche Mobilisierung. Und man benötige mehr Ressourcen, um Einzelpersonen den Ausstieg aus dem kriminellen Leben zu ermöglichen – und nicht zuletzt brauche es eine gezielte Wiederherstellung des Vertrauens in die Behörden.
Die schwedische Journalistin Karin Pettersson analysiert in einem Gastbeitrag im britischen Magazin New Statesman, dass die neue Regierung den Fokus falsch lege – so sei "eine zunehmende Segregation" der "Schlüsselfaktor" für die Gewalt. Doch die Regierung preise als Lösung bloß die Einführung strengerer Anforderungen für die schwedische Staatsbürgerschaft oder das Einschränken des Rechts auf Familienzusammenführung an.
"Dieser kurzsichtige Fokus auf Einwanderung und Kriminalität hat andere, aber ebenso wichtige und problematische große Veränderungen in der schwedischen Gesellschaft verdeckt."
Die Journalistin sieht eine Lösung der Bandengewalt nicht in Abschiebungen, sondern in einem Bekämpfen der wachsenden Ungleichheit durch etwa die Privatisierung von Schulen oder den Mangel an sozialen Diensten und bezahlbarem Wohnraum.
Justizminister Gunnar Strömmer von der Moderate-Partei spricht mittlerweile auch von einem gesellschaftlichen Versagen.Bild: Fredrik Sandberg / TT/ imago images
Die jüngste Umfrage des schwedischen Meinungsforscherinstituts Novus, die Anfang Januar veröffentlicht wurde, zeigt, dass die Unterstützung für die Regierung stetig abnimmt – während die Opposition zulegt.
Justizminister Gunnar Strömmer von der Moderate-Partei spricht mittlerweile auch von einem gesellschaftlichen und politischen Versagen:
"Unser Umgang mit Jugendlichen, die auf der Kippe stehen, in die Kriminalität abzurutschen, ist nicht auf die Realität ausgelegt. Daher ist eine Verschiebung in diesem System erforderlich."
Szenekenner Salihu bekräftigt das: Abschieben sei keine Lösung, denn die Täter seien ein "Produkt unserer gemeinsamen Gesellschaft".
Und so wurde laut "Politico" neben einem kürzlich Erschossenen die Notiz gefunden:
"Wir haben Sie als Gesellschaft im Stich gelassen."