Es ist Krieg in Europa.
Flucht, Luftangriffe, tote Familienangehörige, tote Freunde – das gehört zum Alltag der Ukrainer:innen.
Deutschland bekommt die Auswirkungen des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine ebenfalls zu spüren. Energiekrise, Inflation, atomare Bedrohung, Cyberangriffe und Sabotage – wie sicher ist die Lage für die Bundesrepublik?
"Wir stellen uns auf hybride Bedrohungen ein. Das ist der Zustand zwischen nicht mehr ganz Frieden, aber auch noch nicht richtig Krieg", sagt der Bundeswehrgeneral Carsten Breuer im Gespräch mit "Bild am Sonntag".
Unter "hybride Bedrohungen" zählen Einflussnahme durch fremde Staaten, etwa durch Cyberattacken, Sabotagen und Propaganda in den sozialen Netzwerken. Der Befehlshaber des neuen territorialen Führungskommandos der Bundeswehr warnt, dass diese Arten von Einflussnahmen zunehmen werden.
"Es geht hier nicht um eine feindliche Armee mit Soldaten und Panzern, die unser Land angreift", sagt er. Aber es gebe Einflussnahmen durch Anschläge auf Infrastrukturen und Cyberangriffen. Mit diesen sogenannten "Nadelstichen", soll die Bevölkerung verunsichert werden und das Vertrauen in den Staat verlieren, meint Breuer.
Daher will er sein Kommando auf hybride Bedrohungen einstellen.
Damit liegt er laut Ralph Thiele absolut richtig. Allerdings sei dieses Unterfangen eine große Herausforderung für die Bundeswehr, sagt der Vorsitzende der "Politisch-Militärischen Gesellschaft" im Gespräch mit watson.
Er führt aus:
Thiele zufolge sind kritische Infrastrukturen betroffen, ebenso der Cyberspace und der Weltraum. Geheimdienste seien involviert. Viele Gefahren können nur in multinationaler Zusammenarbeit erfolgreich bekämpft werden. Da die Angreifer laut Thiele zerstörende Technologien nutzen, muss auch Deutschland mit der Zeit gehen: "Die eigene Modernität in Strukturen, Fähigkeiten und Prozessen ist der Schlüssel zum Erfolg", sagt er. Laut des Militärexperten wird das eine große Hausnummer für General Breuer. Für Deutschland sei es wichtig, dass er Erfolg hat.
Die Frage, ob die Bundeswehr im Notfall schnell genug handlungsfähig sei, bejaht Breuer. Für Thiele klingt das etwas beschönigend. Der Experte erklärt, dass diese Antwort nur auf wenige Katastrophenszenarien zutreffe – und auch nur dann, wenn die Truppe in der Nähe genügend Personal aufweise und ausreichend ausgerüstet sei. "Zerstörende hybride Szenarien" sind davon kaum abgedeckt, meint Thiele.
Zudem sei der Öffentlichkeit der "beängstigende, mangelhafte Ausrüstungsstand der Bundeswehr" bekannt. Die kontinuierlichen Abgaben an die Ukraine ohne Nachbestellung der abgegebenen Ausrüstung verstärke die Mangelsituation weiter. Auch ist die Abstimmung mit anderen Bundesbehörden oder ausländischen Partnern im hybriden Kontext kaum oder nicht geübt, sagt Thiele. Damit seien schwerwiegende Bruchstellen zu erwarten.
Auf die Frage, ob sich Deutschland im Ernstfall verteidigen könne, antwortet General Breuer mit "Ja". Militärexperte Thiele nennt dies ein Schönreden der Realität. Er sagt dazu:
Obwohl der russische Angriff auf die Ukraine nun schon fast acht Monate zurückliegt, gibt es laut Thiele kaum ernsthafte Maßnahmen, die Bundeswehr wieder fit zu machen. "Selbst das 100-Milliarden-Paket ist bislang nur eine Liste. Noch nicht einmal die Bestellungen sind raus", meint er.
Als ein hoher militärischer Vorgesetzter sei General Breuer zur Loyalität und Verschwiegenheit verpflichtet. Entsprechend darf er laut Thiele nicht alles sagen, was er weiß. Mit einer "Prise Euphemismus" überdecke er Problembereiche. Doch bei einem Punkt gibt Thiele ihm recht: Die atomaren Drohungen durch Russland müssen ernst genommen werden.
Im Interview mit der "Bild am Sonntag" sagt Breuer, "unsere Lebensweise, unsere Werte, unsere gesamte Gesellschaft sind bedroht. Wenn wir das nicht alles aufgeben wollen, müssen wir diese Bedrohungen sehr ernst nehmen." Dabei heißt es aber besonnen handeln. Hysterie sei Breuer zufolge ein schlechter Ratgeber. Dieser Aussage stimmt Thiele zu.
Auch bei den zunehmenden hybriden Bedrohungen gilt es, einen kühlen Kopf zu bewahren.
Unbekannte Täter haben am Samstag wichtige Kommunikationskabel der Deutschen Bahn zerstört. Daraufhin stand der Bahnverkehr in Norddeutschland über mehrere Stunden größtenteils still. Unzählige Fahrgäste strandeten an den großen Bahnhöfen. Eine Sprecherin der Deutschen Bahn erklärt, dass der Ausfall auf Sabotage zurückfalle.
Der Sicherheitsexperte Peter Neumann hält auch einen Angriff Russlands für möglich. "Russland hat schon ein Interesse daran, in Europa Panik zu verursachen und zu signalisieren, dass es ganz heftig das Leben lahmlegen kann", sagte der Wissenschaftler dem Sender RTL. Allerdings gebe es natürlich keine eindeutigen Beweise. "Momentan ist es noch eine Theorie."
Auch der mutmaßliche Anschlag auf die Nord-Stream-Pipelines ist weiter ungeklärt. Jedoch geht man auch hier deutlich von einer Sabotage aus. Der Generalbundesanwalt ermittelt mittlerweile.
Die Sicherheitsbehörden müssen sich laut General Breuer auf diese Bedrohungslage einstellen. Er sagt:
Zugleich fordert Breuer alle Deutschen auf, ihr Verhalten angesichts der neuen Bedrohungslage anzupassen: "Dem ganzen Land ist klar geworden: Krieg in Europa ist wieder möglich. Das hat Konsequenzen für jeden Staatsbürger."
Konkret empfiehlt Breuer die Anschaffung einer Taschenlampe und genügend Batterien. Thiele unterstützt diesen Tipp Breuers und meint: "Smarte Bürgerinnen und Bürger haben einen Generator und Vorräte zu Hause."
Zum weiteren Verlauf des Ukraine-Krieges äußert sich Breuer optimistisch. Die Welt sehe ein unglaublich tapfer und klug kämpfendes Militär, das aktuell große Erfolge mit sehr beeindruckenden und wichtigen Geländegewinnen erringe. "Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen", sagt Breuer.
(Mit Material von dpa)