Feiern in den Straßen von Philadelphia, Hupkonzerte in New York City, Sprechchöre vor dem Weißen Haus in Washington: So viele glückliche Demokraten wie am vergangenen Samstag hat man in den USA wohl nicht mehr gesehen, seit im November 2008 Barack Obama die US-Präsidentschaftswahl gewonnen hat.
Die Abwahl des amtierenden Präsidenten Donald Trump, der Sieg des Demokraten Joe Biden und seiner Vizepräsidentschaftskandidatin Kamala Harris: Das war das politische Ziel, auf den die Demokratische Partei seit vier Jahren hingearbeitet hatte. Um es zu erreichen, war die Partei monatelang so einig wie selten aufgetreten, von den konservativsten Abgeordneten in Virginia bis zu den linken Stars der Partei wie dem zweifachen Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders und der Abgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez.
Aber eine knappe halbe Woche später, so scheint es, ist die Partylaune schon verflogen. Die Demokraten streiten darüber, wie es weitergehen soll – und vor allem, wie links die Regierungszeit von Biden und Harris werden soll.
Das Wahlergebnis der Demokraten hat viele Menschen in den Straßen begeistert. Aber für viele Kandidatinnen und Kandidaten der Demokraten für den Kongress war es eine Enttäuschung: In der einen Kammer, dem Repräsentantenhaus, haben sie mindestens vier Sitze im Vergleich zur letzten Wahl von 2018 verloren. In der anderen, dem Senat, können sie maximal genauso viele Sitze wie die Republikaner erreichen – und das nur, falls sie die zwei Stichwahlen im Bundesstaat gewinnen, die im Januar anstehen. Die blaue Welle, den von vielen erhofften überragenden Demokraten-Sieg, hat es bei dieser Wahl nicht gegeben.
Und die Frage, die die Demokraten jetzt wieder heftig streiten lässt, ist: Wer ist schuld daran?
Für mehrere mittig-konservative demokratische Politiker ist die Antwort eindeutig: Es waren Parteilinke wie Ocasio-Cortez, die der Partei das Leben schwer gemacht haben, mit ihren Rufen nach "demokratischem Sozialismus" und Slogans wie "defund the police" – also nach Kürzungen der Polizeibudgets. Das, so das Argument der selbsternannten Moderaten, habe viele Wähler verschreckt.
Abigail Spanberger, demokratische Abgeordnete aus dem Bundesstaat Virginia, hat ihren Sitz nur knapp gegen einen Republikaner verteidigt. In einer Telefonkonferenz – dessen Mitschnitt die "Washington Post" veröffentlicht hat – hat sie am Mittwoch, am Tag nach der US-Wahl, ihren Frust über das knappe Rennen herausgelassen. Spanberger sagte unter anderem, mit Blick auf die nächste Kongresswahl in zwei Jahren:
Ocasio-Cortez will den Vorwurf nicht auf sich sitzen lassen – und wirft in Interviews mit mehreren US-Medien den Abgeordneten, die ihre Wahl gegen Republikaner verloren haben vor, einfach zu wenig in den Wahlkampf auf sozialen Netzwerken wie Facebook investiert zu haben – während ihre republikanischen Gegner dort viel stärker präsent gewesen seien. Die 31-jährige Ocasio-Cortez behauptet das Gegenteil dessen, was die moderaten Demokraten sagen. "Jeder Kandidat in einem umstrittenen Wahlbezirk, der sich für eine allgemeine Gesundheitsversorgung eingesetzt hat, hat gewonnen", erklärte sie in einem Interview mit CNN.
Ihre These, die andere linke Demokraten teilen: Wer sich für linke Themen einsetzt, gewinnt.
Ocasio-Cortez hat in einem Interview mit der "New York Times" erkennen lassen, dass sie frustriert ist wegen des Widerstands in ihrer Partei gegen linke Positionen – und dass sie deshalb vor der Wahl in diesem Jahr sogar darüber nachgedacht hatte, nach nicht einmal zwei Jahren im Kongress aus der Politik auszusteigen.
Der linke Flügel der Demokratischen Partei ist in den vergangenen Jahren gewachsen. Er ist einflussreicher geworden: Forderungen wie die nach einem Mindestlohn von 15 Dollar pro Stunde oder nach einem ökologischen, klimafreundlichen Umbau der US-Wirtschaft sind inzwischen Mainstream in der Partei, Biden selbst hat sie in TV-Duellen mit Donald Trump vorgetragen.
Und die linken, progressiven Politikerinnen und Politiker haben viele Wähler mobilisiert: Dass Joe Biden etwa die Wahlmännerstimmen in Georgia und Pennsylvania geholt hat, hat viel mit der Mobilisierung afroamerikanischer Wählerinnen und Wähler in den Metropolen Atlanta und Philadelphia zu tun.
Jetzt wollen die Parteilinken auch, dass ihre Forderungen Teil der Regierungspolitik Bidens und Harris' werden. Die linke Senatorin und vormalige Präsidentschaftskandidatin Elizabeth Warren hat schon kurz nach Bidens Sieg gefordert, die Demokraten hätten jetzt den Auftrag für "mutige Pläne", um die Gesundheits- und Wirtschaftskrise in den USA zu überwinden.
Biden hat schon angekündigt, dass sein Regierungskabinett ethnisch divers sein soll, viele Frauen und nicht-heterosexuelle Menschen darin Platz finden sollen. Doch den progressiven Demokraten reicht das nicht: Sie wollen, dass Vertreter ihres Flügels wie Warren oder Sanders Ministerposten bekommen.
Sanders selbst hat schon klargemacht, dass er in den kommenden Monaten und Jahren die Politik der USA nach links verschieben will. In einer Videobotschaft auf Twitter sprach er – nach seiner Gratulation für Biden – davon, er werde im Senat ein Gesetzespaket einbringen, mit dem unter anderem "Hungerlöhne" abgeschafft, massiv in Infrastruktur investiert und so Millionen Jobs geschaffen werden. Außerdem will er den Energiesektor in den USA klimafreundlich umbauen.
Für Joe Bidens Wahlsieg entscheidend waren mehrere Staaten im sogenannten Rostgürtel der USA, in nordöstlich gelegenen Staaten wie Michigan, Wisconsin, Pennsylvania. Donald Trump hatte diese ehemals stark von Industriearbeitsplätzen und Gewerkschaften geprägten Staaten 2016 von den Demokraten erobert, Biden holte sie zurück.
Die konservativeren Demokraten sagen, das sei den Demokraten nur gelungen, weil sie Wähler von den Republikanern zurückgewonnen hätten. Und das hätten sie nur schaffen können, weil diese Wähler keine große Angst gehabt hätten vor allzu linken Positionen, wie der nach der Abschaffung privater Krankenversicherungen oder einem besonders schnellen Ausstieg aus der Erdölförderung.
Rahm Emanuel, ehemaliger Stabschef im Weißen Haus unter Barack Obama und früherer Bürgermeister von Chicago sagte:
Emanuel selbst ist dabei eine Reizfigur für viele linke Demokraten – unter anderem, weil er als Bürgermeister Chicagos die Aufklärung eines Polizeiverbrechens verzögert zu haben scheint, um seine Wiederwahl nicht zu gefährden.
Der Streit innerhalb seiner eigenen Partei könnte also zu einem ernsten Problem für Joe Biden werden – noch bevor er überhaupt am 20. Januar 2021 seinen Amtseid schwört und ins Weiße Haus einzieht.
Es gibt aber immerhin zwei Gründe, die dafür sprechen, dass Biden den Streit entschärfen kann.
Wie ein Ausweg aus dem Streit zwischen Linken und Konservativen aussehen könnte? Mehrere moderate Demokraten haben laut "New York Times" Biden dazu aufgerufen, möglichst schnell politische Projekte zu verwirklichen, die beide Seiten unterstützen. Ein Beispiel: einen US-weiten Mindestlohn von 15 Dollar pro Stunde.