Es war der 11. März 2011, als ein Erdbeben und ein dadurch ausgelöster Tsunami Japan und die Welt in Alarmbereitschaft versetzten. Damals, vor knapp elf Jahren, folgte in Fukushima auf die Naturkatastrophe der GAU, der größte anzunehmende Unfall in einem Atomkraftwerk. Und in Deutschland ein Jahr der Anti-Atomkraft-Proteste – und die Entscheidung der Bundeskanzlerin Angela Merkel, den Ausstieg aus der Kernenergie zu beschleunigen.
Die EU-Kommission will Investitionen in Gas- und Atomkraftwerke nun unter bestimmten Bedingungen als klimafreundlich einstufen. Das geht aus dem Entwurf für einen sogenannten Rechtsakt hervor, der am Neujahrstag öffentlich wurde. Deutschland hatte sich gegen die Aufnahme der Atomkraft in die sogenannte Taxonomie ausgesprochen, aber gleichzeitig für ein grünes Label für Gas als notwendige Brückentechnologie gekämpft. Länder wie beispielsweise Frankreich sehen die Atomkraft als eine Schlüsseltechnologie für eine CO2-freie Wirtschaft.
Kurz gesagt: Setzt die EU ihre Pläne, die Atomkraft als "grün" einzustufen, durch, dürften Anleger künftig häufiger in Atomenergie investieren. Es wird außerdem damit gerechnet, dass die Einstufung weitreichende Auswirkungen hat, da sich als nachhaltig eingestufte Projekte deutlich leichter und günstiger finanzieren lassen dürften.
Das Europäische Parlament (mit der Mehrheit seiner Abgeordneten) oder der Europäische Rat (mit einer qualifizierten Mehrheit von mindestens 20 Staaten, die für mindestens zwei Drittel der EU-Bevölkerung stehen) könnten den Rechtsakt zur Atomkraft noch stoppen. Das erscheint momentan aber als unwahrscheinlich.
Auf watson-Nachfrage erklärt das von Grünen-Politiker Robert Habeck geführte Wirtschaftsministerium, die Bundesregierung wolle die Vorschläge der EU-Kommission prüfen und sich in der Bundesregierung abstimmen. Weiter heißt es vonseiten des Ministeriums:
Die Atomenergie ist also lautstark zurück – und mit ihr der Streit um sie. Um Strahlung, um Sicherheit. Um CO2-Bilanzen und Endlager. Der sozialdemokratische Kanzler Gerhard Schröder war es, der im Jahr 2000 den Atomausstieg mit den Energieunternehmen aushandelte.
In diesem Jahr, 2022, werden in Deutschland die letzten drei Atomkraftwerke vom Netz gehen – so zumindest der Plan. Ein Erfolg für die sozialen Bewegungen, die in Orten wie Wackersdorf, Gorleben und Brokdorf für das Ende der Kernenergie kämpften.
Fast hätte die schwarz-gelbe Bundesregierung unter Angela Merkel im Jahr 2010 diesen Sieg zunichtegemacht: Sie machte den Ausstieg rückgängig. Nach dem GAU im japanischen Fukushima hat sie diese Entscheidung allerdings revidiert. Die Anti-Atomkraft-Demonstrationen wichen Anti-Kohle-Demos und "Fridays for Future".
Nun aber ist die Kernenergie auch in der deutschen Debatte zurück. Watson hat für dich die wichtigsten Punkte zusammengefasst, die du über Atomenergie wissen musst – und Argumente für und gegen den Einsatz von Kernenergie gesammelt.
Der größte energetische Aufwand bei der Stromerzeugung durch Kernkraft, liege in der Anreicherung des Urans. Insgesamt sei die Kernenergie allerdings auch mit Blick auf die Emissionskette emissionsarm, sagt Mycle Schneider. Er ist Energie- und Atompolitikberater für zivile und politische Organisationen, darunter die EU-Kommission und Greenpeace. Er ist außerdem Koordinator und Herausgeber des World Nuclear Industry Status Report. Trotz der geringen Emissionen ist die Atomenergie aus Sicht des Experten nicht klimaeffizient.
Schneider sagt:
Was er damit meint: Der Bau von Kernkraftwerken dauert lange.
"Die reine Bauzeit für ein Atomkraftwerk sind im Schnitt zehn Jahre", sagt Schneider. Und diese zehn Jahre starteten erst, wenn das Fundament für die Meiler gegossen würde. Planungs- und Genehmigungsverfahren kämen dazu. Schneider fasst zusammen: "Das heißt: In der Regel haben wir mindestens 15 Jahre Vorlaufzeit, bis ein solches Werk steht."
Anders sieht es Rainer Klute, der Vorsitzende des Vereins Nuklearia, der für ein Comeback der Atomkraft wirbt. "Ich finde es richtig, dass die Kernenergie als grün klassifiziert worden ist, denn sie ist nun mal nahezu CO2-frei", sagt er.
Klute führt aus:
Auch Klute ist bewusst, dass es lange dauern wird, bis neue Reaktoren gebaut und ans Netz gegangen sind. Er zieht allerdings einen anderen Schluss als Schneider.
Klute sagt:
"Flatterstrom", so werden Wind- und Solarenergie hin und wieder genannt. Der Vorwurf zu den Erneuerbaren: Wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht, liefern sie keinen Strom. Anders soll es mit der Atomenergie aussehen. Hier ist die Zulieferung ins Netz garantiert. Zumindest dann, wenn keines der Werke ausfällt – geplant oder ungeplant.
Und das kommt laut den Aufzeichnungen Mycle Schneiders gar nicht mal so selten vor. "Wir schauen uns regelmäßig die Ausfälle von Atomkraftwerken in Frankreich an: und es kommt fast täglich zu ungeplanten Ausfällen", sagt Schneider. Das Problem: Fällt ein Kernkraftwerk aus, fehlen dem Netz mit einem Schlag tausend Megawatt.
Statt auf Atomenergie wird Deutschland auf Gas als Brückentechnologie setzen. Der fossile Brennstoff ist in dem Entwurf der EU ebenfalls grün eingestuft worden – geplant ist, dass Gaskraftwerke in Zukunft auf den Wasserstoffbetrieb ausgerichtet sein sollen. "Es kommt daher nun darauf an, den Hochlauf der grünen Wasserstoffwirtschaft und den Aufbau der Wasserstoff-Infrastruktur mit mehr Tempo als bisher voranzutreiben", heißt es aus dem Wirtschaftsministerium. Nach eigenen Angaben wurden dahingehend die ersten Projekte angestoßen – sowohl auf deutscher als auch auf internationaler Ebene.
Emmanuel Macron, Frankreichs Präsident, hat sie angekündigt: Mini-Kernkraftwerke (Small Modular Reactor / SMR). Die kleinen Meiler erzeugen zwar weniger Energie als die großen, sollen aber sicherer und klimafreundlich sein. Ein Gutachten, das das private Öko-Institut gemeinsam mit der Technischen Universität Berlin und dem Physikerbüro Bremen im Auftrag des Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung erstellt hat, kommt allerdings zu dem Schluss, dass die kleinen Kraftwerke keine Antwort auf die Klimakrise seien.
Der Grund dafür: Die SMR erzeugten zu wenig Strom. Dadurch müssten Tausende installiert werden. In dem Gutachten heißt es:
Wirtschaftlich würden sich die Meiler laut Gutachten ebenfalls nicht lohnen, da sie im Bau in Relation zu großen Anlagen unverhältnismäßig teuer seien. Auch für den schnelleren Bau, der immer wieder ins Feld geführt würde, finden die Autoren keine Anhaltspunkte. Vielmehr weisen sie darauf hin, dass die meisten Baustellen neuer Reaktoren sehr viel länger bestünden als angesetzt.
Christoph Hoffmann ist Referent für klimakompatible Finanzflüsse bei der Nichtregierungsorganisation Germanwatch und arbeitet unter anderem zur EU-Taxonomie. Er sieht keinen Sinn darin, Atomstrom als "grün" einzustufen. Als Gründe dafür nennt er die mangelnde Sicherheit der Reaktoren und den radioaktiven Müll – aber auch deren niedrige Wirtschaftlichkeit und geringen Beitrag zum Klimaschutz, die auch im Gutachten des Öko-Instituts genannt werden.
Für Germanwatch sei klar: Atomenergie sei wegen des Lobbydrucks aus Frankreich in die Taxonomie aufgenommen worden. "Beobachtet man die französische Debatte und Einstellung in der Bevölkerung, ist die Einstellung gegenüber Atomkraft eine ganze andere als in Deutschland", sagt Hoffmann. In diesem Jahr sind in Frankreich Präsidentschaftswahlen – und der Atomstrom könnte eine entscheidende klima- und energie- und wirtschaftspolitische Frage sein.
Der Atompolitikberater Schneider hält auch nichts von dem Vorstoß, auf kleine Kraftwerke zu setzen.
Er sagt:
Im Grunde genommen, meint Schneider, sei die Technologie der Atomenergie vom Aussterben bedroht.
Der Bau der Atomkraftwerke dauert also ohnehin schon lange – zusätzlich kommt es außerdem immer wieder zu Verzögerungen. Beispielsweise im Atom-Land Frankreich. Bereits vor zehn Jahren hätte hier ein dritter Reaktor in Flamanville ans Netz gehen sollen. Passiert ist das bis heute nicht. Frühestens 2023 soll er für die Stromerzeugung genutzt werden.
In Zukunft möchte Frankreich weitere, neue Reaktoren bauen. Ein Vorstoß, der aus Sicht Mycle Schneiders keine gute Idee ist.
Schneider sagt:
Wirkliche Klimaeffizienz sieht für Schneider anders aus. "Es reicht nicht, Milliarden in eine Industrie zu stecken, die es nicht fertigbringt, ein einziges Atomkraftwerk fertig zu stellen", sagt Schneider. Grund dafür: Es fehle am Know-How. "Wir leben nicht mehr in den 60er, 70er oder 80er Jahren. Damals wurden Atomkraftwerke noch in Serie gebaut. Alle Beschäftigten sprachen dieselbe Sprache und waren auf allen Ebenen qualifiziert: vom Zementarbeiter bis zum Manager", sagt Schneider.
Der Neubau von Reaktoren verschlimmert aus Sicht des Experten sogar die Klimakrise. Schneider sagt: "Das ist eine kontraproduktive Maßnahme. Jeder Euro, der in die Atomenergie investiert wird, kann nicht in Energieeffizienz und erneuerbare Energien investiert werden." Anders stehe es um Bestandsreaktoren: Hier müsse von Reaktor zu Reaktor geschaut werden, wie lange der Betrieb rein klimapolitisch sinnvoll sein könnte. Wie alt ein solcher Reaktor werden kann, sei bisher nicht klar.
Schneider sagt:
Unzufrieden ist Schneider auch mit dem Vorstoß, Gas als grüne Energie in die Taxonomie aufzunehmen.
Fukushima und Tschernobyl: Die Städte in Japan und der heutigen Ukraine stehen für die zwei verheerendsten Unfälle der Geschichte in Atomkraftwerken – und somit für das Unvorhersehbare, Unbeherrschbare der Kernenergie. Aus Sicht des Atomkraftbefürworters Klute stehen die Unfälle aber dafür, dass die Kernenergie extrem sicher ist.
Er sagt gegenüber watson: "Erst einmal ist es eine geringe Zahl an Unfällen. Und wenn man jetzt noch genauer hinguckt, dann merkt man, dass sich diese Unfälle gar nicht auf die Kernenergie als solche übertragen lassen."
In Tschernobyl sei ein Reaktortyp im Einsatz gewesen, der von Grund auf ein gewisses Risiko eingebaut hatte. Solche Reaktoren habe es nur in der damaligen Sowjetunion gegeben – heute noch habe Russland einige, allerdings nachgebesserte, Reaktoren dieses Typs im Einsatz.
Zum Unglück von Fukushima meint Klute:
Eine solche Aufsicht allerdings sei wichtig, meint Klute. Und auch die Frage der Endlagerung muss laut EU-Taxonomie-Beschlussvorlage geklärt sein.
Ein Projekt gibt es bereits in Finnland. Hier soll Mitte der 2020er Jahre erster Atommüll eingelagert werden. Klute sagt darüber:
Außerdem gebe es erste Modellprojekte mit Schnellreaktoren, die Abfälle aus Kernkraftwerken verarbeiten könnten.
Der FDP-Politiker Michael Kruse zeigt sich mit Blick auf die Kernenergie weniger optimistisch. "Die Einordnung von Kernenergie als nachhaltig ist nicht zukunftsorientiert", schreibt er. Warum er die Energieform nicht für zukunftsorientiert hält, erklärt er gegenüber watson damit, dass auf der einen Seite die Endlagerthematik jahrzehntelang nicht abschließend geklärt werden konnte – und Kruse nicht davon ausgeht, dass sie das zeitnah werde.
Als zweiten Punkt führt er folgenden an:
Nicht nur der Bau von Kernkraftwerken ist zeitintensiv und teuer, sondern auch der Rückbau. Laut dem Energieunternehmen Preussenelektra ist der Rückbau eine "enorme logistische Herausforderung". Besonders aufwändig werde er, weil bewertet werden müsse, ob das abzubauende Material radioaktiver Abfall sei oder nach einer entsprechenden Reinigung in den Wertstoffkreislauf zurückgeführt werden könne. "Dies bedeutet, dass alle Bestandteile des Kontrollbereichs zu 100 Prozent gemessen werden müssen, teilweise mehrfach", heißt es vonseiten Preussenelektras.
Weiter führt eine Sprecherin des Unternehmens aus:
Rund vier Jahre brauche außerdem der Abtransport der gebrauchten Brennelemente. Neben der strahlenden Brennelemente fielen beim Rückbau zudem schwach- und mittelradioaktive Abfälle an, die innerhalb der Anlage so aufbereitet würden, dass sie im Anschluss sicher zwischen- und später endgelagert werden könnten. "Für diese Abfallarten wird derzeit das Endlager Konrad errichtet, die Inbetriebnahme von Konrad ist nach Angaben der Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) ab 2027 vorgesehen", erklärt die Sprecherin.
Für Preussenelektra sei klar, dass Kernkraftwerke einen Beitrag zum Klimaschutz leisteten und eine wichtige Brückentechnologie hin zur reinen Versorgung durch erneuerbare Energien sein könnte. Aber: "Nur Deutschland hat sich für einen anderen Weg entschieden, den wir von der Preussenelektra nun konsequent umsetzen."
Es spricht manches dafür, dass die Aufnahme der Atomenergie in die Taxonomie möglicherweise nur ein letztes Aufbäumen eines alten Riesen ist. Durch lange Bauzeiten und Genehmigungsverfahren, durch Strahlung, Endlager und zu kleinen Energieausstoß, könnte diese Technologie für die Klimakrise zu spät kommen. Too little, too late sozusagen.