CDU und CSU haben gerade einen der schmerzhaftesten Wahlsonntage ihrer Geschichte erlebt.
Nur 24,1 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen sind am vergangenen Sonntag an die Unionsparteien gegangen, es ist das mit Abstand schlechteste Ergebnis der Geschichte bei einer Bundestagswahl. Die zwei Parteien haben in 52 von 72 Jahren Bundesrepublik den Kanzler oder die Kanzlerin gestellt. Jetzt retten sie sich entweder – enorm geschwächt – noch einmal in eine Regierungskoalition. Oder sie müssen, zum ersten Mal seit 2005, wieder in die Opposition.
So oder so, die konservativen Parteien stehen vor einem Scherbenhaufen. Sie müssen jetzt Antworten auf zwei wichtige Fragen finden. Wie diese Antworten ausfallen, ist auch für Menschen wichtig, die nicht mit CDU und CSU sympathisieren.
Armin Laschet ist seit Januar 2021 CDU-Vorsitzender und seit Sonntag gescheiterter Kanzlerkandidat. Seine Lage erinnert momentan an die eines Frosches in einem Topf mit kaltem Wasser, das von unten erhitzt wird. Und der droht, zu verbrühen, weil er zu spät merkt, dass es lebensgefährlich heiß geworden ist.
Die Hitze kommt von Laschets Parteifreunden: von den CDU- und CSU-Politikern, die hinter verschlossenen Türen oder ganz offen in Interviews sagen, dass der Kandidat versagt hat.
„Die Personalie Laschet lag wie Blei auf unserem Wahlkampf“, das hat der sächsische CDU-Bundestagsabgeordnete Carsten Körber gesagt. Zwei halbwegs prominente CDU-Frauen haben inzwischen Laschets Rücktritt gefordert. Ellen Demuth, die für die CDU im rheinland-pfälzischen Landtag sitzt und die im Januar an der Seite Norbert Röttgens CDU-Vizechefin werden wollte, tat das öffentlich auf Twitter.
Gitta Connemann, Vizechefin der Unionsfraktion im Bundestag, sagte laut "Bild" hinter verschlossenen Türen: "Wer übernimmt denn Verantwortung wann?"
Mit den Rücktrittsforderungen ist es in der deutschen Politik üblicherweise so: Brenzlig für die betroffene Person wird es dann, wenn die Forderungen von wirklich mächtigen Köpfen kommen. Für Laschet heißt das: Wenn CDU-Ministerpräsidenten oder sonstige Mitglieder des Präsidiums der Partei seinen Kopf fordern, dann wird er sich nicht mehr halten können.
Das Wasser, in dem der Frosch Armin Laschet sitzt, ist inzwischen mindestens lauwarm geworden.
Die bayerische Schwesterpartei, die CSU, ist momentan in einer für sie angenehmeren Situation. Klar, auch die Christsozialen haben mit 31,7 Prozent der Stimmen in Bayern ihr schlechtestes Bundestagswahlergebnis seit 1949 geholt.
Aber erstens hat die Partei im Vergleich zur Wahl 2017 nur einen einzigen Sitz im Bundestag verloren (von 46 auf 45) – weil alle CSU-Direktkandidierenden bis auf einen ihren Wahlkreis gewonnen haben. Das bedeutet, dass die CSU-Abgeordneten innerhalb einer deutlich geschrumpften Unionsfraktion mächtiger werden: Im neuen Bundestag machen die bayerischen Konservativen fast ein Viertel der Abgeordneten aus, im 2017 gewählten Parlament waren sie weniger als ein Fünftel.
Und zweitens haben die Christsozialen die für sie wichtigste Wahl noch vor sich: 2023, in zwei Jahren, wird ein neuer Bayerischer Landtag gewählt. Dort will die CSU mit Abstand stärkste Fraktion werden – und dafür ein ähnlich starkes Ergebnis holen wie die fast 40 Prozent von SPD-Ministerpräsidentin Manuela Schwesig in Mecklenburg-Vorpommern am vergangenen Sonntag. Nur, wenn die CSU das schafft und die nächste bayerische Landesregierung machtvoll anführt, behält sie ihre Sonderrolle als kraftstrotzende bis arrogante Anwältin Bayerns im Rest Deutschlands. Ob die CSU auf Bundesebene Teil einer Jamaika-Koalition wird, ist für sie weniger interessant.
Deswegen ist CSU-Chef Markus Söder – den sie bei der CDU ja nicht als Kanzlerkandidaten haben wollten – auch weiterhin fest im Sattel. Für die CSU stellt sich die Führungsfrage momentan nicht.
Spätestens seit der Bundestagswahl 2017 beschäftigt die Unionsparteien ein Streit um die Richtung, in die sie steuern sollen. Mal wird er heftiger ausgetragen – etwa im Frühsommer 2018, als der von der CSU angestoßene Streit um die Rückweisung Geflüchteter an der deutschen Grenze die Union aus CDU und CSU fast zertrümmert hätte. Mal köchelt er eher vor sich hin.
Jetzt, nach dem Wahldebakel vom 26. September 2021, wird dieser Streit wieder lauter werden. Nach 2017 war die Union ja in Panik geraten, weil rechts von ihr die AfD auf über 12 Prozent der Stimmen gewachsen war. Diesmal ist nicht die AfD die größte Gefahr für die Union – im Gegenteil. Die Wahlergebnisse liefern zum wiederholten Mal deutliche Hinweise darauf, dass es keine gute Idee ist, der AfD hinterherzulaufen, um ihr Wähler abzujagen. Der thüringische Wahlkreis, in dem CDU-Rechtsaußen Hans-Georg Maaßen um Stimmen warb, indem er AfD-Positionen vertrat, war bundesweit der Wahlkreis mit den höchsten Zweitstimmen-Zugewinnen der Rechtspopulisten.
2021 müssen CDU und CSU Grafiken ansehen, die eine millionenfache Massenwanderung von Wählern in Richtung SPD, Grüne und FDP bezeugen. Die Union hat diesmal an Linke und Liberale verloren.
Es gibt einzelne Unionspolitiker, die jetzt – aller Wählerwanderung zum Trotz – mehr kernig-konservative Positionen in der Union fordern. Aber das sind derzeit vor allem Vertreter der in der Partei fast bedeutungslosen rechtskonservativen "Werteunion".
Norbert Röttgen zielt in eine ganz andere Richtung. Er hat nach der Wahl eine Rundum-Erneuerung der CDU gefordert. Röttgen, den bei seiner Kandidatur auf den Parteivorsitz im Januar vor allem Vertreter des liberalen Flügels der Partei unterstützt hatten, setzt sich dafür ein, dass Ökologie, digitaler Wandel und Außenpolitik eine deutlich größere Rolle spielen.
In eine ähnliche Richtung zielt Diana Kinnert, 30 Jahre alt, Autorin und eine der spannendsten jungen CDU-Politikerinnen vom liberalen Flügel der Partei. Kinnert erklärt gegenüber watson, mit Blick auf das Ende der Ära der scheidenden CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel:
Kinnert fordert eine Neubesinnung der Partei mit Blick auf Themen, die die kommenden Jahre bestimmen werden. Sie meint:
Sie findet, dass sich diese Neuausrichtung auch im Führungspersonal widerspiegeln muss. Wörtlich meint sie, es brauche "ein diverses Team aus etablierten Parteikennern und selbstbewussten Parteienthusiasten aus allen unseren Lagern."
Kinnert ergänzt:
Watson hätte darüber gerne auch mit Vertretern der anderen Strömungen in CDU und CSU gesprochen – und hat bei Politikern unterschiedlicher Flügel angefragt, jungen wie erfahrenen. Aber nur Kinnert wollte sich äußern.
Viele Anhänger anderer Parteien blicken mit Häme auf das derzeitige Elend von CDU und CSU, nur wenige tun das mit echtem Mitleid. Dabei ist es auch für Menschen, die es eher mit Grünen, Liberalen, Sozialisten oder Sozialdemokraten halten, keine gute Nachricht, wenn die Konservativen in Deutschland gerade schwächer und schwächer werden.
Das politische System in einem vielfältigen Deutschland funktioniert nur dann gut, wenn möglichst viele Bürgerinnen und Bürger eine oder mehrere Parteien finden, die zu ihrer Lebenseinstellung und zu ihrer Sicht auf die Welt passen: Diejenigen, die auf Veränderung und Umbrüche mit Begeisterung reagieren, die weltoffenen Reisefreaks, diejenigen, denen vor allem der menschengemachte Klimawandel Angst macht.
Aber es müssen auch diejenigen eine Heimat finden, denen althergebrachte Werte wichtig sind, die sich wohlfühlen in traditionellen Familien – die jungen Menschen, die niemals das Schützenfest oder die Kirchweih im Heimatdorf verpassen würden und denen das Getümmel in Berlin oder Hamburg viel zu hektisch ist.
Die beiden letztgenannten Gruppen sind nicht weniger wichtig für dieses Land als die anderen. Und bisher hat ein erheblicher Teil dieser Menschen eben seine politische Heimat bei CDU oder CSU gefunden.
Anders gesagt: Konservatismus hat eine wichtige Rolle in demokratischen Gesellschaften. Moderne konservative Parteien stehen an der Seite der Menschen, die auf manche Veränderungen skeptisch blicken. Es ist keine gute Nachricht, wenn diese Begleiter wegbrechen.
Bei allen Unterschieden in den politischen Systemen: Wohin es führen kann, wenn es konservative Parteien zerlegt, kann man in mehreren europäischen Ländern beobachten. Sie selbst können in den Nationalismus abdriften (wie in Großbritannien), sich an Rechtsextreme anbiedern (wie in Österreich oder Spanien) – oder vollständig explodieren und den Raum freimachen für radikal rechte Parteien, die ihren Platz einnehmen (siehe Italien und Frankreich).
Das wären keine guten Aussichten für Deutschland.