Darf ich oder nicht? Dass die Regeln zu Weihnachten schwer zu verstehen sind, liegt laut Sprachwissenschaftler Professor Stefan Müller am schlechten Satzbau.Bild: dpa-Pool / Bernd von Jutrczenka
Analyse
15.12.2020, 12:3217.12.2020, 09:14
anne diekhoff
Welche Besuchsregeln gelten denn nun genau an Weihnachten? Darüber gab es zuletzt einige Verwirrung, sogar bei Ministerpräsidenten, die doch an der Entwicklung der Beschlüsse beteiligt waren. Woran liegt's? Wir haben den Sprachwissenschaftler Professor Stefan Müller von der Berliner Humboldt-Universität gefragt.
81 Wörter zählt der Satz, an dem sich die Geister scheiden.
Es geht um die Regeln zwischen 24. und 26. Dezember. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, Mecklenburg-Vorpommerns Regierungschefin Manuela Schwesig und die Journalistin Kristina Dunz waren sich in der Talkshow "Anne Will" nicht einig über die Regelung. Dunz interpretierte diese so: "In dem Beschluss steht jetzt: Fünf Personen, zwei Hausstände, plus vier Menschen, plus deren Lebenspartner, plus Kinder bis 14" dürften sich treffen.
Laschet und Schwesig widersprachen. Nein, ein Hausstand plus vier weitere Menschen aus dem engsten Familienkreis. Die Ergänzung "Lebenspartner" sei nur darauf bezogen, dass unter den vier weiteren erlaubten Personen ausschließlich Mitglieder aus der "Kernfamilie" sein dürfen. Das ist also die Regeln, die die Ministerpräsidenten und Merkel erlassen haben.
Anne Will zeigte im Anschluss der Sendung Verständnis für Dunz, als sie den komplizierten Wortlaut der Regelung noch einmal bei Twitter postete.
Der Satz aus den Corona-Beschlüssen zum Nachlesen
In Abhängigkeit von ihrem jeweiligen Infektionsgeschehen werden die Länder vom 24. Dezember bis zum 26. Dezember 2020 – als Ausnahme von den sonst geltenden Kontaktbeschränkungen – während dieser Zeit Treffen mit 4 über den eigenen Hausstand hinausgehenden Personen zuzüglich Kindern im Alter bis 14 Jahre aus dem engsten Familienkreis, also Ehegatten, Lebenspartnern und Partnern einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft sowie Verwandten in gerader Linie, Geschwistern, Geschwisterkindern und deren jeweiligen Haushaltsangehörigen zulassen, auch wenn dies mehr als zwei Hausstände oder 5 Personen über 14 Jahren bedeutet.
Kein Grund, an der eigenen Intelligenz zu zweifeln
Sprachwissenschaftler Stefan Müller hat sich den Satz für watson angesehen – und er findet ihn "sehr interessant, weil er aus verschiedenen Gründen nicht gut zu verarbeiten ist." Es gibt also keinen Grund, an der eigenen Intelligenz zu zweifeln, wenn man auf dieses Wortgebilde starrt und nicht recht schlau daraus wird.
Müller, dessen Spezialgebiet Satzbau ist, urteilt eindeutig: Der Satz "ist zu komplex und damit unbrauchbar". Das hat ihm zufolge zwei Gründe.
Grund 1: Müller erinnert daran, dass in einem guten Satz sofort zu erkennen ist, wer oder was mit Pronomen gemeint ist. Also mit Wörtern wie "deren", "dessen", "ihre". In der Corona-Weihnachtsregelung sei nicht klar, worauf sich "deren" aus "deren jeweiligen Haushaltsangehörigen" beziehe. "Es kommt praktisch alles davor in Frage", sagt Müller. "Ehegatten, Lebenspartner etc. sowie die "Verwandten, Geschwister, Geschwisterkinder". Diese Unklarheit trägt dazu bei, dass der Satz schwer zu verarbeiten ist.
"An irgendeinem Punkt steigen die Hörer einfach aus"
Grund 2: Die Länge. Der Sprachforscher hebt eine Besonderheit der deutschen Sprache hervor, an der schon viele Menschen mit anderer Muttersprache im Deutschkurs verzweifelt sind: Warum steht das alles entscheidende Verb so oft ganz hinten? Es ist eben so, und wenn der Satz gut gemacht ist, lässt sich gut damit umgehen. Als Beispiel führt Professor Müller den schlichten Satz: "Anna hat das Buch gelesen" an. Man weiß vor dem Ende des Satzes nicht, was Anna mit dem Buch gemacht hat. Da der Satz aber schön kurz und klar ist, kommt das Gehirn damit zurecht. "Hat" und "gelesen" bilden hier die Satzklammer.
Im Corona-Satz gehe nun diese Satzklammer von "werden" bis "zulassen". Dazwischen stehen ganze 59 Wörter. Unter ihnen der Einschub "als Ausnahme von den sonst geltenden Kontaktbeschränkungen", der es syntaktisch noch komplizierter mache. Wer den Satz höre oder lese, so Müller, wisse von "werden" bis "zulassen" nicht, worum es geht. "Sie müssen alles, was kommt, im Hauptspeicher (Kurzzeitspeicher) halten", erklärt Müller. "An irgendeinem Punkt steigen die Hörer einfach aus." Er spricht von einer "Reduktion der Komplexität", die hier beim Lesen nicht stattfinden kann.
Als Beispiel für komplexe Informationen in einem Satz, der vom Gehirn gut zu verarbeiten ist, nennt er diesen: "Aicke liest ein Buch, das ich damals gekauft habe, als wir gemeinsam mit einem Freund an der Ostsee waren". Beim Lesen oder Hören passiere hier Folgendes: Aicke liest ein Buch, den Satzteil mit Hauptverb, "können Sie verstehen und sich merken und den syntaktischen Aufbau des Satzes bis zu diesem Punkt vergessen".
Der Teilsatz ist im Gehirn also als erledigt abgespeichert, man muss die Informationen nicht in der Schwebe halten, um ihre Bedeutung erst am Ende zu erfahren. "Mit den nachfolgenden Relativsätzen geht das genauso. Deshalb könnten Sie das beliebig so weitermachen", so Müller. Und genau das sei beim Corona-Weihnachtsregelsatz anders. "Der ist zu komplex und damit unbrauchbar."
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