Solidarität ist ein spannendes Thema. In der Theorie dient sie als Kitt für die Gesellschaft, als wichtige Tugend für ein funktionierendes Miteinander. Und darum eignet sie sich wunderbar als politische Waffe. Fordern Politiker:innen zum Beispiel etwas, reicht ein Verweis, um Gegenstimmen ins Stottern zu bringen. Wer Kritik übt, outet sich eben als Arsch.
Insofern wird das Solidaritäts-Argument heute ordentlich strapaziert. Längere Arbeitstage? Solidarität! Wehrpflicht? Solidarität! Eine höhere Lebensarbeitszeit? Na klar: Solidarität! Ein Wort, das in Haft nimmt. Dabei ist völlig egal, ob diejenigen, die fordern, sich selbst mitmeinen.
Das jüngste Beispiel dieses Irrsinns liefert der Soziologe Klaus Hurrelmann. In einem "Spiegel"-Interview machte er sich für ein Pflichtjahr am "Ende des Arbeitslebens" stark. "Wer fit ist, könnte durchaus länger arbeiten. Mit 65 – oder oft genug schon mit 63 – sind die Leute plötzlich nur noch Privat- und Urlaubsmenschen", sagt er.
Den Appell an die Fairness, die Solidarität, unterstreicht er mit der Wehrpflicht. Es sei nicht gerecht, nur von der Jugend zu erwarten, das Land zu verteidigen. Damit erklärt er die Verteidigungsfähigkeit zu einer generationsübergreifenden Aufgabe. Und wie das so mit Solidarität ist, müssen die Rentner:innen zu ihrem Glück gezwungen werden – via gesetzlicher Regelung.
Grünen-Politikerin Katharina Schulze schlägt in dieselbe Kerbe. Kürzlich verwies sie noch einmal auf einen verpflichtenden Freiheitsdienst für Menschen zwischen 18 und 67 Jahre. Mal abgesehen von der Gugu-Gaga-Rhetorik, wertet ihre – aber auch Hurrelmanns – Forderung jede Solidarität ab, die ohnehin viele an den Tag legen.
Wir denken an Suppenküchen, an Tafeln, an Obdachlosenunterkünfte – alles Einrichtungen, die nur dank Solidarität bestehen und nötig sind, weil Solidaritäts-Politiker:innen unsolidarische Politik betreiben. Übrigens sind es neben jungen Menschen eben auch Rentner:innen, die sich freiwillig und unentgeltlich für die Ärmsten der Gesellschaft einbringen.
Hurrelmann, Schulze, CDU-Leute, VWL-Promis, Medienschaffende – sie alle formulieren Regeln für ein funktionierendes Gesellschaftsgefüge. Dürfen sie. Seltsam ist nur, dass sich ihr soziales Bewusstsein immer dann zeigt, wenn sie was wollen.
Wo ist die Solidaritätsrhetorik bei Themen wie Armut, Erwerbsarmut und explodierende Mieten? Bis auf ein paar Krokodilstränen gibt es hier nicht viel zu sehen. Altersarmut klammern sie übrigens genauso aus. Rentner:innen da in die Pflicht zu nehmen, ist zynisch wie frech.
Mal abgesehen davon, dass dieses Solidaritätsgebot für die rund 900.000 Privatiers in Deutschland kaum gelten dürfte. Auch nicht für alle anderen, die Ansprüche stellen. Wer das nötige Kleingeld hat, kann das Land verlassen, wenn lästige Aufrufe eintrudeln.
Und klar, Rentner:innen stellen ebenfalls Ansprüche. Wenn sie zum Beispiel auf eine Wehrpflicht pochen – mehrheitlich, wie eine Umfrage 2024 zeigte. Junge Menschen könnten jetzt genauso ein Pflichtjahr nach Hurrelmann fordern. Aus Häme. Wirklich was gewonnen wäre so aber nicht.
Rentner:innen würden in soziale Tätigkeiten gezwungen und junge Menschen an die Waffe. Fein raus sind nicht nur viele Fordernde, sondern auch alle, die aufgrund von Stellung gesellschaftlich unverzichtbar sind, etwa CEOs. Statt also die Finger aufeinander zu zeigen, junge wie alte, wäre generationsübergreifender Protest sinnvoll.
Kommt er nicht, ist gut möglich, dass Babys demnächst auch noch in Solidaritäts-Gefangenschaft genommen werden. Wer eine Rassel halten kann, sollte ja wohl auch noch einen Beitrag zur Verteidigungsfähigkeit leisten können. Derlei Argumente scheinen beim aktuellen Diskursniveau nicht allzu fern. Klasse.