In Deutschland ist es in den vergangenen Jahren immer mehr in Mode gekommen, die Legitimität von deutschen Staatsorganen oder Institutionen anzuzweifeln. Eine Gruppe, die auch in der Corona-Pandemie einen Aufschwung erlebt hat, ist die Reichsbürgerszene. Kern ihrer Annahme ist: Deutschland sei kein legitimer Staat. Darauf fußen zahlreiche Verschwörungsmythen.
Dass die Bewegung der Reichsbürger populärer wird, zeigt sich auch im Lagebericht zu "Verfassungsfeinden in Sicherheitsbehörden", den das Bundeskriminalamt (BKA) Mitte Mai veröffentlicht hat. Darin wurden erstmals, neben Rechtsextremisten im Allgemeinen, auch "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" gesondert analysiert.
Diese Annahmen sind Quatsch, sagt Volker Boehme-Neßler im Gespräch mit watson. Er ist Rechtswissenschaftler mit dem Schwerpunkt Verfassungsrecht an der Universität Oldenburg. Dennoch, so Boehme-Neßler, würden Mythen über die Bundesrepublik Deutschland und ihr Grundgesetz immer wieder ausgekramt.
Anlässlich des Tages des Grundgesetzes hat watson zusammen mit Experten für Verfassungsrecht die am weitesten verbreiteten Verschwörungsmythen widerlegt.
Aus der Bezeichnung Grundgesetz leiten Querdenker und Reichsbürger ab, dass Deutschland keine Verfassung habe und somit kein legitimer Staat sei. Weil das Grundgesetz nicht Verfassung heißt und deshalb auch keine ist. So fasst es Boehme-Neßler zusammen. Das sei aber verfassungsrechtlich falsch.
Letztendlich sei der Name Grundgesetz nur ein Synonym für die Verfassung. "Das Grundgesetz ist unsere Verfassung", sagt Boehme-Neßler.
Verschwörungsgläubige seien psychologisch anfälliger dafür, sich auf solche vermeintlichen Unstimmigkeiten, wie die Namensgebung, zu konzentrieren. Dabei handele es sich lediglich um einen Namen. "Der Staat darf seine Verfassung nennen, wie er möchte", sagt Boehme-Neßler.
Die Namensgebung hatte historische Gründe.
Im Jahr 1949 trat das Grundgesetz in Deutschland in Kraft. Der Verzicht auf den Namen "Verfassung" sollte den vorläufigen Charakter unterstreichen. Denn zu dieser Zeit war Deutschland noch in vier Besatzungszonen unterteilt: die britische, die amerikanische, die französische und die sowjetische. Nach der erhofften Wiedervereinigung wollte man eine neue Verfassung erarbeiten. Als 1990 die DDR allerdings der BRD beitrat, wurde das Grundgesetz lediglich auf ganz Deutschland ausgeweitet und nicht ersetzt.
Auch zu anderen Staaten und ihren Verfassungen gebe es keinen Unterschied – "außer dem Namen", sagt Dieter Grimm, ehemaliger Richter des Bundesverfassungsgerichts (1987 bis 1999), zu watson. Die Verfassung der Niederlande zum Beispiel heiße "Grondvet".
Und generell sei eine Verfassung auch keine Bedingung für einen Staat. Manche Staaten hätten gar keine Verfassung, sagt Grimm.
Der vielleicht größte Unterschied zwischen den europäischen Verfassungen bestünde zu Großbritannien, erklärt Boehme-Neßler. Dort gebe es zwar eine Verfassung, die sei aber nie niedergeschrieben worden.
Zusammengefasst bedeutet das also: "Zwischen dem Grundgesetz und einer Verfassung gibt es keinen Unterschied", sagt Rupert Scholz, ehemaliger Bundesverteidigungsminister (1988 bis 1989), im Gespräch mit watson.
Dennoch bietet die Namensgebung Nährboden für zahlreiche Verschwörungsmythen, wie die aus der Selbstverwalter- und Reichsbürgerszene.
Ein verbreiteter Mythos ist, dass das Deutsche Reich noch existiere, weil das Grundgesetz nur eine Übergangslösung sei.
Ehemaliger Bundesverfassungsrichter Grimm sagt: "Das Grundgesetz sagt nirgends, es sei keine echte Verfassung."
Und weiter:
Alexander Thiele, Rechtswissenschaftler an der BSP Business School Berlin, sagt auf watson-Nachfrage: "Das Grundgesetz war von Anfang an eine vollwertige moderne Verfassung. Die Bundesrepublik ist als Rechtsnachfolger an die Stelle des ehemaligen Deutschen Reiches getreten."
Auch die Behauptung, dass das Grundgesetz keine Verfassung sei, weil es nicht durch das Volk legitimiert sei, hält sich hartnäckig.
Tatsächlich hatte das Gesetz damals aus dem Freistaat Bayern keine Zustimmung erhalten.
Die verfassungsgebende Versammlung, der "Parlamentarische Rat", hat das Grundgesetz im Auftrag der drei westlichen Besatzungsmächte erarbeitet. Zur Abstimmung wurden Landtagsabgeordnete aus den einzelnen Landesparlamenten geschickt. Sie wurden zuvor vom Volk gewählt. Damals gab es noch keinen Bundestag. Es wurde also tatsächlich nicht direkt vom Volk über die Verfassung abgestimmt.
Ex-Verteidigungsminister Scholz sagt: "Eine Verfassung kann direkt über eine Abstimmung oder indirekt über eine Versammlung in Kraft treten."
Eine Volksabstimmung über eine Verfassung komme zwar häufig vor, sie sei aber keine Bedingung für die rechtliche Geltung einer Verfassung, führt Grimm aus.
Gerade wenn man die Zeit um 1949 bedenke. Dann sei eine solche Abstimmung im Volk "schlicht nicht machbar", sagt Thiele. Generell gelte in Bezug auf die Legitimität von Verfassungen: Die durch sie kreierten Organe sehen sie als verbindlich an und fühlen sich an sie gebunden. "Das ist beim Grundgesetz von Anfang an der Fall gewesen", fügt er hinzu.
Dass Deutschland kein souveräner Staat sei, weil er keine Verfassung habe, ist ebenfalls eine verbreitete Behauptung in der Reichsbürgerszene.
"Deutschland hat natürlich eine (materielle) Verfassung", sagt Thiele. Und zwar eine, die funktioniere. Das sei – mit Blick auf andere Länder der Welt – nicht selbstverständlich.
Allerdings zeige das auch, dass sich eine Demokratie nicht von selbst erhalte. "Wenn wir in einer leben wollen, sollten wir uns für sie einsetzen", betont Thiele.