Radikal schnell fürs Klima: Alexander Grevel, Landtagskandidat für die Klimaliste Baden-Württemberg, beim Wahlkampf in Freiburg. Bild: dpa / Philipp von Ditfurth
Analyse
sebastian heinrich, watson, und liesa wölm, t-online
Bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg tritt erstmals eine Klimaliste an. Was will die neue Partei, wie groß sind ihre Chancen – und müssen sich die Grünen Sorgen machen?
11.03.2021, 08:5811.03.2021, 15:44
Winfried Kretschmann bietet gerne Spektakel. Bei seinen regelmäßigen Auftritten in der Landespressekonferenz in Stuttgart steigert sich der grüne baden-württembergische Ministerpräsident gerne in Themen hinein. Der ruhig dahinschwäbelnde Ton seiner Stimme wechselt dann ins Krächzende, er wird laut. So wie am 6. Oktober 2020.
"Das ist eine ernste Angelegenheit", sagte er zunächst. Dann, lauter: "Es kann gravierende Folgen haben – zum Beispiel, dass es nicht für eine Regierung reicht, weil es sich zersplittert." Und schließlich: "Dann haben diese Leute mit Zitronen gehandelt und man bekommt noch weniger, als man glaubte." Das "noch weniger" schrie Kretschmann fast ins Mikrofon. Ein paar hundert junge Menschen hatten den ersten und bisher einzigen grünen Ministerpräsidenten Deutschland so in Rage gebracht: Sie nennen sich Klimaliste Baden-Württemberg.
Im September 2020 hat sich die neue Bewegung gegründet. Klimalisten gibt es auch in anderen Bundesländern, sowohl in Rheinland-Pfalz als auch in Baden-Württemberg treten regionale Klimalisten für die Landtagswahlen am 14. März an. Für Nervosität bei den Grünen sorgt die Partei aber vor allem in Baden-Württemberg. In 67 der 70 Wahlkreise nehmen Kandidatinnen und Kandidaten der Klimaliste nun den Kampf auf, eine Landesliste gibt es hier wegen des besonderen Wahlrechts im Bundesland nicht.
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Es dreht sich alles um ein Ziel und das heißt: 1,5 Grad
Das Programm der Klimaliste hat sich einer Zahl verschrieben: 1,5. Das 1,5-Grad-Ziel soll zum Zentrum des politischen Handelns werden: das Ziel also, die Erderhitzung auf höchstens 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen. Die Staaten der Erde haben es sich selbst auferlegt, als sie im Jahr 2015 das Pariser Klimaschutzabkommen unterzeichneten. Diesem Ziel haben sich in Deutschland alle größeren Parteien außer der AfD verschrieben. Die Vertreter der Klimaliste Baden-Württemberg aber sind überzeugt, dass das längst nicht reicht.
Seit 2011 ist der Grüne Kretschmann hier Ministerpräsident, seit 2016 führt er eine Koalition mit der CDU an. Sogar führende CDU-Politiker haben anerkannt, dass die Ökorebellen von gestern zwischen Bodensee und Kurpfalz heute die größte Volkspartei sind. Die Grünen verweisen darauf, dass unter Kretschmanns Führung der Windenergie-Ausbau angezogen hat, dass Bus- und Bahnfahrten heute komfortabler sind und es im Südwesten besonders viele Ladepunkte für Elektroautos gibt, dass der Landtag ein ambitioniertes Gesetz zum Bienenschutz verabschiedet hat. Vertretern der Klimaliste sind die Grünen trotzdem nicht mehr grün genug.
Alexander Grevel sagt es gegenüber watson so: "Trotz grüner Landesregierung ist zu wenig passiert." Der Freiburger Grevel ist 32 Jahre alt, Landtagskandidat für die Klimaliste – und eines ihrer bekanntesten Gesichter. Grevel meint, die Grünen hätten in ihrer Regierungszeit ein "Vakuum" entstehen lassen. Gerade für junge Menschen, die für die Klimaschutzbewegung auf die Straße gehen, sei die Klimaliste deshalb attraktiv. "Wir haben ein großes Potenzial, Menschen zu mobilisieren, die ansonsten nicht zur Wahl gehen würden", sagt er.
Zur Windenergie – deren Ausbau seit 2018 nach einer Änderung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes ins Stocken geraten ist – erklärt Grevel: "Wir werfen den Grünen vor, dass sie den Menschen den Bau von Windrädern vor Ort nicht genug schmackhaft gemacht haben." Auf allen Neubauten in Baden-Württemberg müssten Fotovoltaikanlagen verpflichtend werden. Schließlich sei viel Strom nötig, um alle Bereiche der Wirtschaft zu elektrifizieren, sagt Grevel: von der Mobilität bis zum Beheizen und Kühlen von Gebäuden.
Geht es nach ihm und seinen Mitstreitern, dann soll das mit der Elektrifizierung atemberaubend schnell passieren. Bis 2030, so lautet das Ziel der Klimaliste, soll Baden-Württemberg CO2-neutral sein, also nicht mehr Treibhausgase in die Atmosphäre ausstoßen als ihr entzogen werden können.
Im aktuellen Klimaschutzgesetz des Landes ist das deutlich vorsichtiger formuliert: Dort steht, dass der CO2-Ausstoß um 90 Prozent sinken soll – bis 2050. Die Grünen versprechen in ihrem Wahlprogramm zwar, dass sie es verschärfen und die Klimaneutralität bis 2050 als Ziel verankern wollen. Die Klimaliste aber will 20 Jahre schneller sein als die Grünen. Die Partei um Ministerpräsident Kretschmann hält solche Pläne für Fantasterei.
Ministerpräsident Winfried Kretschmann auf einem Grünen-Wahlplakat in Stuttgart. Bild: dpa / Christoph Schmidt
Die Angst der Grünen vor dem Machtverlust
"In den Parlamenten gibt es nur eine Partei, die für ambitionierten und wirksamen Klimaschutz steht: Bündnis 90/Die Grünen", heißt es in einem Statement der Landesvorsitzenden von Baden-Württemberg, Sandra Detzer und Oliver Hildenbrand, gegenüber watson. Sie schließen sich den Aussagen von Ministerpräsident Kretschmann an: "Klimaschutz muss politisch konkret gestaltet werden, um wirksam zu sein. Dies geschieht nur durch harte politische Arbeit und durch die Suche nach politischen Mehrheiten. Mit Forderungen alleine kann das Klima nicht geschützt werden", sagen die beiden Grünen-Politiker.
Zwischen den Zeilen liest man also: Die Klimaliste hat aus Sicht der Grünen keine Chance, Ziele durchzusetzen – zumindest nicht im Alleingang. Klimaschützer müssten zusammenstehen. "Eine Stimme, die nicht an uns geht, ist eine verlorene Stimme für den Klimaschutz", meinen Detzer und Hildenbrand. Das unterstützt die Befürchtung Kretschmanns, dass die Gründung der Klimaliste seine Partei wichtige Stimmen kosten könnte. Detzer und Hildenbrand vertrauen auf die langjährige Erfahrung ihrer Partei: "Wir stellen uns selbstbewusst dem politischen Wettbewerb", sagen sie.
Der frühere Landessprecher der Grünen Jugend Baden-Württemberg und der Sprecher der LAG Demokratie, Recht und innere Sicherheit, Marcel Emmerich, hinterfragt das Vorhaben der Klimaliste ebenso kritisch: Letztlich spiele das Wahlergebnis die entscheidende Rolle. "Wer da für den Klimaschutz auf die Klimaliste setzt, dem kann ich nur sagen: Gut gemeint ist hier nicht gut geholfen", sagt Emmerich zu watson. Zudem rechnet Emmerich ohnehin nicht mit einem großen Erfolg für die neue Bewegung: "Die Klimaliste ist mit Blick auf die Wahlumfragen weit entfernt vom Einzug in den Landtag", meint der Grünen-Politiker.
"2,5 Prozent wäre ein starkes Signal"
Marc Debus, Professor für Politikwissenschaft und vergleichende Regierungslehre an der Universität Mannheim, ist auch eher skeptisch. Gegenüber watson meint er, es sei "eher unwahrscheinlich, dass eine realistische Chance für die Klimaliste besteht, in den Stuttgarter Landtag einzuziehen". Zwar sei Klimaschutz "von großer Bedeutung für weite Teile der Wählerschaft". Doch zum einen überlagerten momentan die Covid-19-Pandemie und ihre Folgen das Thema – zum anderen wiesen die Wähler in Baden-Württemberg den Grünen nach wie vor eine "hohe Problemlösungskompetenz" bei Umwelt-, Energie-, Verkehrs- und Klimapolitik zu.
Klimalisten-Kandidat Alexander Grevel sagt aber, selbst ein Ergebnis von 2,5 bis 3 Prozent wäre schon ein "starkes Signal". Unzufrieden am Wahlabend wäre er nur, erklärt Grevel zu watson, wenn die Klimaliste weniger als 1 Prozent der abgegebenen Stimmen bekäme. Ein Prozent, das ist die Schwelle, ab der Parteien Geld aus der öffentlichen Parteienfinanzierung zusteht – wodurch sie eine deutlich größere Chance bekommen, sich zu etablieren.
Wahlplakat der Klimaliste in der Stuttgarter Innenstadt. Bild: imago images / Tabea Guenzler/Eibner-Pressefoto
Selbst solche Prozentzahlen für die Klimaliste könnten den Grünen wehtun. Es gibt schließlich mehrere zumindest halbwegs realistische Szenarien, wie es nach der Landtagswahl in Baden-Württemberg weitergeht. Eines davon ist eine sogenannte "Deutschland-Koalition", ein schwarz-rot-gelbes Bündnis aus CDU, SPD und FDP – ohne die Grünen. Was, wenn die Klimaliste mit ihrem Stimmenanteil dafür sorgt, dass das Realität wird? Wie realistisch ist also der Grünen-Alptraum, den Ministerpräsident Kretschmann im Oktober beschrieben hat?
Politologe Debus hält die möglichen Schäden für die Grünen für begrenzt. Gegenüber watson erklärt er:
"Selbst wenn die Klimaliste 2 bis 3 Prozent der Stimmen gewinnen würde und diese Wählerinnen und Wähler ansonsten die Grünen gewählt hätten, würde – wenn die momentanen Umfragen richtig liegen – der Vorsprung der Grünen vor der CDU zwar kleiner werden, aber nicht dazu führen, dass die CDU vor den Grünen liegt."
Klimalisten-Kandidat Grevel wiegelt ab: Dort, wo Klimalisten bei Kommunalwahlen angetreten seien, hätten sowohl die Grünen als auch die Klimaliste profitiert, meint er. Und selbst, wenn es am Ende zu einer CDU-geführten Landesregierung käme, hielte er das nicht für ein allzu großes Problem: In Hessen und Bayern, wo die Union stärkste Regierungspartei ist, gehe der Ausbau erneuerbarer Energie schließlich schneller voran als in Baden-Württemberg.
Fridays for Future hat sich scharf distanziert
Es gibt Mitbegründer der Klimaliste Baden-Württemberg, die das deutlich weniger entspannt sehen. Genauer gesagt sind das vier von sechs Mitgliedern des Vorstands der neuen Partei, die die Klimaliste im Januar verlassen haben. Eine von ihnen, Sandra Overlack, erklärte danach gegenüber den "Badischen Neuesten Nachrichten", dass sie nicht mehr zur Landtagswahl antrete, um Grünen, SPD und Linken keine wertvollen Stimmen abzunehmen. Die drei Parteien hätten sich klar zum Pariser Klimaschutzabkommen bekannt, die Klimaliste habe dadurch ihr "Alleinstellungsmerkmal" verloren.
Kandidat Grevel sieht das anders. Die Wahlprogramme mit dem Bekenntnis zum 1,5-Grad-Ziel seien nur "Absichtserklärungen", meint er zu watson. Und von einer Spaltung der Klimaliste könne wegen des Abgangs der vier Vorstandsmitglieder keine Rede sein. Man habe eine "einstellige Zahl an Mitgliedern" verloren, das Ganze sei "aufgebauscht" worden. 440 Mitglieder habe die Klimaliste heute insgesamt in Baden-Württemberg.
Druck hat die Klimaliste Baden-Württemberg inzwischen aber auch von einer anderen Seite bekommen: von Fridays for Future. Die regionale Sektion der Klimaschutzbewegung hat sich Ende Februar in einer Mitteilung scharf von der neuen Partei distanziert. Darin heißt es unter anderem: "Wir tolerieren es nicht, dass die KlimalisteBW immer noch mit Fridays for Future Wahlkampf auf der Straße und im Netz betreibt und Plattformen unserer Bewegung (zum Beispiel Whatsapp-Gruppen) übergriffig für gezielte Parteiwerbung instrumentalisiert." Am Ende des Statements steht: "Wir unterstützen keine Partei, sondern das Klima."
Fridays-for-Future-Sprecherin Line Niedeggen meint dazu gegenüber watson:
"Progressive demokratische Mehrheiten sind essenziell, um in den nächsten fünf Jahren den notwendigen Wandel zu tragen. Das müssen wir von den großen Parteien und Fraktionen als Gesellschaft einfordern und im Wahlkampf für gemeinsame Veränderung stehen. Kleinstparteien wie die Klimaliste dürfen diese Mehrheit nicht aufs Spiel setzen."
Eines gesteht Fridays for Future der Klimaliste allerdings zu: Den Druck, den die Neulinge auf die etablierten Parteien ausgeübt haben, hält die Bewegung für wertvoll. Sprecherin Niedeggen erklärt dazu: "Die Klimaliste hat dabei als neue Partei eins klar gezeigt: Die etablierten Parteien müssen einen großen Zahn zulegen, um der Klimakrise gerecht zu werden. Keine Partei hat bis heute einen Plan, wie 1,5°C Erderhitzung eingehalten werden können. Die Klimaliste hat dafür gesorgt, dass einige Parteien ihre Forderungen entsprechend angepasst haben."