Lange konnten sie im Ungefähren bleiben und von einer anderen Gesellschaft philosophieren, nun müssen sie liefern. Die Grünen haben ihr Wahlprogramm für die Bundestagswahl 2021 vorgelegt. Zwar ist noch immer nicht klar, welcher der beiden Parteichefs – Annalena Baerbock oder Robert Habeck – als Spitzenkandidat antreten soll; das werde entschieden, "wenn die Bäume wieder grün sind", wie Baerbock erklärte. Aber wie eine Regierung unter einem grünen Kanzler oder einer grünen Kanzlerin aussehen kann, lässt das Wahlprogramm schon einmal erahnen. "Deutschland. Alles ist drin" heißt es und ist 136 Seiten lang.
Watson hat die wichtigsten Teile des Programms ausgewertet und analysiert.
Klimaschutz und Nachhaltigkeit waren schon immer von zentraler Bedeutung für die Grünen, die als Umweltschutzpartei gegründet wurden und sich selbst auch so verstehen. Deshalb nehmen diese Themen auch einen zentralen Platz im Wahlprogramm für die Bundestagswahl ein. Allerdings werden die Grünen hier auch am stärksten kritisiert.
"Mit dem vorgestellten Programm bleiben die Grünen meilenweit hinter ihren Versprechen an eine 1,5-Grad-konforme Politik zurück", sagte Carla Reemtsma von Fridays for Future am Freitag der Deutschen Presse-Agentur. Der im Programm geforderte CO2-Preis in Höhe von 60 Euro sei viel zu niedrig.
Auch Klimaexpertin Lisa Göldner von Greenpeace sieht in einigen Punkten Nachbesserungsbedarf. Gegenüber watson erklärt sie: "Die Grünen haben in ihrem Programm selbst das Ziel definiert, Deutschland auf einen Pfad zu führen, der kompatibel mit dem 1,5-Grad-Ziel ist. Dafür gehen ihre Forderungen in einigen Punkten aber noch nicht weit genug." So fehle beispielsweise eine "konkrete Zielmarke, bis wann die Stromversorgung komplett aus erneuerbaren Energien erfolgen soll."
Generell begrüßt Göldner aber, "dass die Grünen ein Wahlprogramm vorgelegt haben, in dem sie Klima- und Artenschutz in den Mittelpunkt stellen." Und es setze die Latte hoch für die anderen Parteien: 2021 werde Klimapolitik wesentlicher Bestandteil des Wahlkampfs sein. Göldner wörtlich: "Die Grünen haben den Wettbewerb um klimagerechte Wahlprogramme eingeleitet. Daran werden die anderen Parteien sich nun messen lassen müssen."
In Sachen Verkehrspolitik bleiben die Grünen bei ihren alten Grundsätzen: mehr Bahn und Fahrrad, weniger Auto (mit Verbrennungsmotor) und Flugzeug. Ob dieser Ansatz mehrheitsfähig ist, ist fraglich. Insbesondere das Tempolimit auf Autobahnen war in der Vergangenheit heftig umstritten und könnte ein Problem bei Koalitionsverhandlungen mit den möglichen Koalitionspartnern FDP und CDU/CSU darstellen.
Anderen sind die Forderungen im Bereich Verkehr wiederum nicht weitreichend genug. Greenpeace-Klima-Expertin Göldner hätte einen früheren Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor begrüßt: "Das Ende von Neuzulassungen von Autos mit Verbrennungsmotor ist für 2030 angesetzt, notwendig wäre das aber schon 2025. Hier sind die Grünen nicht ambitioniert genug."
Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann von der Hertie School of Governance begrüßt den Vorschlag der Grünen, eine Kindergrundsicherung einzuführen. Gegenüber watson erklärt er: "Durch eine Kindergrundsicherung kann sichergestellt werden, dass wirklich jedes Kind unabhängig von der familiären Konstellation in den Genuss staatlicher Zuwendung kommt." Die bisherige Regelung habe es ihm zufolge nicht geschafft, die Kinderarmut zurückzudrängen: "Eine Erhöhung des Kindergeldes kommt zum Beispiel gegenwärtig gerade den Familien nicht zugute, die sie dringend brauchen. Das sind diejenigen, die von den Transfergeldern nach Hartz IV abhängig sind."
Außerdem bringe eine Kindergrundsicherung auch symbolisch zum Ausdruck, "dass jedes einzelne Kind als ein Bürger und eine Bürgerin des Landes wahrgenommen wird, vom ersten Lebenstag an."
Kritik gibt es für die Vorschläge vom möglichen Koalitionspartner. FDP-Chef Christian Lindner warnte vor den Kosten der Grünen-Forderung: "Das Grünen-Programm wird für viele Menschen und viele Familien teuer werden." Sollte es zu Sondierungen zwischen Grünen und FDP kommen, etwa bei einem Jamaika- oder Ampelbündnis, würden diese Punkte sicherlich für Zündstoff zwischen den beiden Parteien sorgen.
Aber auch aus der Wirtschaft gibt es Kritik: Die Grünen wollten "eine andere Gesellschaft", erklärte der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Für ein Wiederanlaufen der Wirtschaft nach der Corona-Pandemie benötige Deutschland aber "eine deutlich wachstumsfreundlichere Politik". Und die Vermögensteuer schmälere die Investitionschancen.
Georg Kurz, Sprecher der Grünen Jugend, verteidigt das Wahlprogramm in diesem Punkt. Gegenüber watson erklärt er: "Das Programm ist ein wichtiger Schritt, um die Zeit des Neoliberalismus endlich zu beenden: Viel zu lange wurde bei dem gespart und privatisiert, was wir alle zum Leben brauchen. Das muss sich jetzt ändern, und es ist richtig, dass dafür auch die Schuldenbremse geöffnet werden muss."
Für Kurz ist es ein wichtiger Schritt in Richtung Generationengerechtigkeit, dass nun mehr investiert wird: "Auch marode Schulen, stillgelegte Bahnhöfe oder wegrationalisierte Krankenhäuser sind Schulden, die meiner Generation gerade aufgebürdet werden – die mir im Gegensatz zu einer höheren Staatsverschuldung aber sehr konkret schaden, und deshalb angegangen werden müssen."
Die Haltung der Grünen zum Thema Migrationspolitik ist wenig überraschend und innerhalb der Partei auch wenig umstritten. Die Grünen setzen sich bereits seit langem für eine Reform der europäischen Migrationspolitik und des deutschen Asylrechts ein. Für Vereine und Interessengruppen wie Pro Asyl oder Sea Watch ist die Partei daher auch erste Anlaufstelle, wenn es um politische Interessenvertretung geht.
Georg Kurz von der Grünen Jugend findet es "gut, dass es ein klares Bekenntnis zu den hohen Aufnahmekapazitäten Deutschlands gibt." Er erklärt: "Wir müssen nicht auf die europäische Ebene warten, sondern können hier und heute Schutzsuchende aufnehmen und damit Menschenrechte sichern."
Ihm fehlt allerdings ein "Klimapass", der Menschen, deren Lebensraum durch die Klimakrise gefährdet ist, ein Anrecht auf legale Migration bietet. "Wenn das eigene Land im Meer versinkt oder in eine Wüste verwandelt wird, wird es keine Rückkehr geben: Hier muss statt unsicherem Asylstatus die Staatsbürgerschaft greifen. Die Konzepte dafür haben wir in der Grünen Jugend in den letzten Jahren erarbeitet – jetzt werden wir dafür sorgen, dass sie auch ihren Weg ins Wahlprogramm finden."
Beim Thema Sicherheits- und Außenpolitik hat sich die Partei hingegen schon immer gerne und heftig gezankt. Der erste Auslandseinsatz der Bundeswehr, 1999 im Kosovokrieg, führte zu einem der größten Grundsatzdiskussionen, die die Partei je erlebt hat. Der damalige Außenminister Joschka Fischer von den Grünen erlebte eine Welle von Parteiaustritten und sah sich körperlichen Attacken auf Parteitagen ausgesetzt, dafür, dass er für einen Militäreinsatz der Bundeswehr auf dem Balkan geworben hatte.
Entsprechend vorsichtig wird das Thema Nato und Rüstungsausgaben auch heute noch innerhalb der Partei behandelt. Zuletzt hatte Parteichefin Annalena Baerbock die Nato in Schutz genommen und dafür geworben, wieder mehr in funktionierende Ausrüstung bei der Bundeswehr zu investieren. Offenbar konnte sie sich mit einer positiveren Besetzung der Bundeswehr bei den Grünen aber nicht durchsetzen. Die Ablehnung des Zwei-Prozent-Ziels scheint eine Kompromisslösung zwischen ihrer Position und den Kräften zu sein, die Auslandseinsätze und militärisches Engagement generell ablehnen.
(mit Material von afp)