Weltweit haben sich Menschen den Protesten angeschlossen und sind für die Freiheit Irans auf die Straße gegangen – aber wie sieht es sieben Monate später aus?Bild: IMAGO/NurPhoto / Allison Bailey
Analyse
Vor sieben Monaten begannen die Proteste in Iran. Seither ging der Ruf "Frau, Leben, Freiheit" um die Welt – doch ist er mittlerweile verstummt? So steht es um den Kampf gegen das Mullah-Regime und die Hoffnung iranischer Frauen und Männer auf einen Wandel im Land.
Experten erklären im Gespräch mit watson, dass die Proteste nachgelassen haben, aber auch das mediale Interesse. Hierbei rückt die Bundesregierung in die Kritik. "Zu dürftig und unglaubwürdig", bewertet CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter die momentane Unterstützung Deutschlands für die iranischen Demonstrierenden.
Auch in Deutschland demonstrierten Menschen gegen das Mullah-Regime, wie etwa am Brandenburger Tor.Bild: imago / Olaf Schuelke
Aus dem Auswärtigen Amt heißt es: Die Lage der Menschen in Iran bleibt eine Priorität. Doch von vorne, wie sieht die aktuelle Lage im Land aus?
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Inflation in Iran könnte Proteste anheizen
"Die Straßenproteste finden noch sporadisch sowie regional statt", erklärt der deutsch-iranische Politologe Ali Fathollah-Nejad. Die wirtschaftliche Krise verschärfe sich aufgrund hoher Inflationsraten. Dies könne früher oder später wieder zu größeren Demonstrationen führen – was auch das Regime befürchte.
Laut dem Iran-Analysten Adnan Tabatabai vom Orient-Forschungszentrum CARPO befindet sich der Iran in einem wirtschaftlich desolaten Zustand. Zudem sei nach der vergangenen Protestwelle die Kluft zwischen Staat und Gesellschaft größer geworden. Zwar könne man noch nicht von instabilen Verhältnissen sprechen, doch auch Tabatabai rechne mit einem neuen Protestzyklus, der in Unruhen münden könnte.
Die Experten sind sich einig: Ein Ende der Proteste ist nicht in Sicht. Das bestätigt auch Tareq Sydiq, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Konfliktforschung in Marburg. "Vergangene Protestwellen haben gezeigt, dass eine solche vermeintliche Ruhe selten lang hält", sagt er. Auch deshalb baue der Staat seine Repressionen aus, beispielsweise mit der verstärkten Überwachungen von Frauen ohne Hijab.
Eine Entwicklung, die CDU-Politiker Kiesewetter offenbar Sorgen bereitet.
Laut CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter muss die Bundesregierung mehr Druck auf den Iran ausüben. Bild: imago / Christian Spicker
CDU-Politiker Kiesewetter kritisiert Deutschlands Unterstützung
"Deutschland hat sich im Wesentlichen nicht vom iranischen Mullah-Regime distanziert", meint Kiesewetter. Die Bundesregierung setzt seiner Meinung nach weiterhin auf diplomatische Verhandlungen mit einem Regime, das immer härtere, repressivere Maßnahmen, Gewalt, Inhaftierungen von bis zu 18.000 Personen, Folter und Mord gegen die eigene Bevölkerung anwendet.
Jüngst kommt es in Iran immer wieder zu Giftanschlägen an Mädchen-Schulen. Die Journalistin Natalie Amiri teilt dazu ein Video auf Twitter.
Das Mullah-Regime nutze die Beschwichtigungsversuche auch aus Deutschland für eigene Zwecke, meint Kiesewetter. Der Iran wird ihm zufolge weiter an der Nuklearfähigkeit und dem Bau einer Atombombe festhalten. Bis auf die mündliche Verurteilung und die Ausweisung zweier Botschafts-Mitarbeiter – sei eine "glaubwürdige Reaktion" Deutschlands auf das Mullah-Regime ausgeblieben.
Eine Demonstrierende weist auf die brutale Gewalt des Mullah-Regimes hin. Bild: IMAGO/NurPhoto / Creative Touch Imaging Lt
"Die Iran-Politik Deutschlands ist deshalb unglaubwürdig", kritisiert Kiesewetter. Der Druck auf das Unrechtsregime müsse massiv erhöht werden. Dazu listet er folgende Maßnahmen auf:
- Die Revolutionsgarden auf die EU-Terrorliste setzen,
- das islamische Zentrum Hamburg (Blaue Moschee) als Drehscheibe der Operationen des islamischen Regimes des Iran in Deutschland schließen und
- vor allem die Sanktionen Deutschlands und der EU auf Mitglieder und Nutznießer des Regimes massiv erhöhen.
"Die EU hat bislang weniger als 200 Personen sanktioniert. Im Vergleich zu Kanada, das ungefähr 10.000 Personen sanktioniert hat, ist hier noch deutlich Luft", meint Kiesewetter. Auf watson-Anfrage, wie das Auswärtige Amt momentan iranische Demonstrierende unterstützt, heißt es: Die Lage der Menschen in Iran bleibe eine Priorität.
Auswärtiges Amt versichert: Protest in Iran bleibt Priorität
Das Auswärtige Amt halte das Thema fortlaufend auf der Tagesordnung – auch im Dialog mit europäischen und internationalen Partnern. Weiter heißt es:
"Gemeinsam mit unseren EU-Partnern haben wir seit Beginn der Proteste in Iran jeden Monat ein Sanktionspaket unter dem EU-Menschenrechtsregime verabschiedet, um die Verantwortlichen der schweren Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft zu ziehen. Anlässlich des Weltfrauentags am 8. März hat die EU zudem das Qarchak-Frauengefängnis gelistet."
Das Auswärtige Amt habe auch humanitäre Visa vergeben und Plätze für besonders bedrohte Iraner:innen in Schutzprogrammen zur Verfügung gestellt. "Der UN-Menschenrechtsrat hat auf unsere Initiative hin eine internationale Untersuchungskommission eingesetzt", heißt es weiter.
Doch Kiesewetter reiche das wohl nicht aus – besonders Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) zieht er hier in die Verantwortung.
Laut Kiesewetter ist Außenministerin Baerbock "zu unambitioniert"
Sie setze mit ihrer Strategie "Diplomatie und Härte" zwar richtige Punkte, bleibe aber in Bezug auf den Iran viel zu "unambitioniert", meint der CDU-Politiker.
Er führt aus:
"Gerade hier wäre es wichtig, weiterhin Courage zu zeigen und die mutige iranische Zivilgesellschaft, insbesondere die Frauen, die unter Lebensgefahr im Iran protestieren, in ihrem Kampf für Freiheit und Bürgerrechte auch mit konkreten Maßnahmen zu unterstützen."
Auch dem Iran-Experten Fathollah-Nejad zufolge ist die aktuelle Unterstützung Deutschlands und der EU "nur auf rhetorische Weise" zu erkennen.
Die EU lasse sich zu sehr vom Mullah-Regime einschüchtern
"Substantiell sehen wir die Fortsetzung einer europäischen Iran-Politik, die noch stark an dem Atomdeal festhält und sich dadurch von Teherans nuklearer Eskalation einschüchtern lässt", sagt Fathollah-Nejad.
Stattdessen wäre ihm zufolge ein Paradigmenwechsel hin zu einer einheitlichen transatlantischen Linie notwendig, die die Iran-Strategie über die Atomfrage hinaus umfassender aufstellt und die Menschenrechtsfrage stärker berücksichtigt. Iran-Analyst Tabatabai denkt hingegen, dass der Verlauf der Proteste in Iran nicht von der Unterstützung aus Deutschland oder der EU abhängen wird.
Iran-Proteste schaffen es immer weniger in die Schlagzeilen
"Das sind inneriranische Dynamiken, die gesellschaftspolitisch ohne Einmischung von außen am gesündesten verlaufen werden", meint er. Dass auch die mediale Aufmerksamkeit abnehme, wenn keine spektakulären Bilder mehr produziert werden, überrasche ihn nicht. Er sagt dazu:
"Die im Stillen weiterlaufenden Protestaktionen schaffen es nicht so leicht in die Schlagzeilen und werden von Ereignisse wie etwa dem Krieg in der Ukraine deutlich überschattet. Iran-Interessierte behalten das Land aber weiter im Blick."
Laut des Konfliktforschers Sydiq haben die Demonstrierenden frühzeitig auf eine geschickte Kommunikation über soziale Medien gesetzt, um internationale Aufmerksamkeit zu erzeugen. Doch diese hat ihm zufolge auch Grenzen. "Das wurde im März deutlich, als ein Iraner aus Deutschland abgeschoben wurde – trotz der akuten Bedrohungslage", sagt Sydiq. Die "Frankfurter Rundschau" berichtete über den Vorfall.
Wer in den Iran abgeschoben wird, dem droht möglicherweise Gefahr.Bild: IMAGO/ZUMA Wire / Thomas Krych
Keine Anzeichen für einen baldigen politischen Umsturz in Iran
Die Experten sind sich einig: Der Protest in Iran ist nicht vorbei – allerdings ist der Weg zum erhofften Wandel der Demonstrierenden noch lang.
Laut Tabatabai fehlen die Anzeichen eines politischen Umsturzes. Einerseits sei das Mobilisierungspotenzial noch zu gering, und andererseits weisen die Staatseliten noch keine Risse und Zerwürfnisse auf. Doch er betont: "Man darf nicht außer Acht lassen, dass es in weiten Teilen der Bevölkerung Solidarität für die Proteste gegeben hat." Die Frage werde nun sein, ob es eher dem Staat oder der Protestbewegung gelingt, die schweigende Mehrheit für sich zu gewinnen.