Vom zurechtgeruckelten Mikro wandern Lena Schillings glasige blaue Augen nach oben in die Ferne. Sie schüttelt ihren Kopf, ihre braunen Locken baumeln. Mit Vorsicht tasten sich ihre Worte nach vorne: "Ich glaube, da sind viele Dinge drin, die von Gerüchten kommen."
Die 23 Jahre alte Lena Schilling war lange Shootingstar der Aktivist:innenszene in Österreich. Dann wurde sie zur Spitzenkandidatin der Grünen für die Europawahl ernannt. Doch kurz vor der Wahl steht sie noch aus ganz anderen Gründen im Rampenlicht: Der Jung-Politikerin wird vorgeworfen, sich Geschichten über häusliche Gewalt und sexuelle Belästigung ausgedacht zu haben.
Auf einer Pressekonferenz am 8. Mai äußert sie sich nach den Enthüllungen zusammen mit der Grünen-Spitze öffentlich. Zunächst nennt Parteichef und Vizekanzler Werner Kogler die Anschuldigungen "anonymes Gemurkse und Gefurze". Anschließend entgegnet eine Journalistin, man könne in jedem Punkt "den Wahrheitsbeweis antreten".
Dann spricht Schilling selbst. Vieles sei aus dem Zusammenhang gerissen. Ihre hinter dem Körper verschränkten Arme lösen sich aus der Abwehrhaltung. Für einen Moment fuchtelt die 23-Jährige mit ihnen, als würde sie Luftschlösser nachbilden. Zu privaten Dingen, "die da zum Teil offengelegt werden oder zum Teil formuliert werden", wolle sie sich nicht äußern.
Wenig später ist die spontan anberaumte Pressekonferenz vorbei. Der Ärger für die Grünen jedoch noch lange nicht.
Ebenjener Auftritt ereignete sich am 8. Mai 2024. Vorausgegangen waren Enthüllungen des "Standard", einer österreichischen Qualitätszeitung, zu Lena Schilling.
Darin ging es um die Frage, ob der politische Shootingstar systematisch im privaten Umfeld Lügen verbreite. Und darum, ob Schilling ihre eigene Partei hasse – diese womöglich sogar verlassen wolle.
Wie konnte es zu einem solchen Skandal kommen?
Berühmt wurde Lena Schilling als Klimaaktivistin bei Fridays for Future. Dort war sie jahrelang eines der bekanntesten Gesichter, später engagierte sie sich in einer Initiative für ein Lieferkettengesetz.
Vor einigen Monaten entschied sie sich dann zur Spitzenkandidatur bei den Grünen für die Europawahl. Mit einer jungen Aktivistin in den Wahlkampf zu gehen – davon erhoffte sich die Grüne Parteispitze frischen Wind.
Wind weht nun zur Genüge, er bläst den Grünen jedoch geradewegs ins Gesicht.
Unter anderem soll Schilling Lügen über ihre alte Weggefährtin Veronika Bohrn Mena verbreitet haben. Beide waren bis 2023 zusammen Sprecherinnen der "Initiative Lieferkettengesetz Österreich" – und sollen so zu Freundinnen geworden sein.
Schilling soll jedoch in ihrem privaten Umfeld behauptet haben, ihre ehemalige Kollegin sei Opfer häuslicher Gewalt. Dessen Mann Sebastian Bohrn Mena hätte sie gar in den Bauch geschlagen, wodurch sie eine Fehlgeburt erlitten hätte.
Auch den "Standard" erreichte diese Geschichte. Die Tageszeitung recherchierte und sprach nach eigenen Angaben mit rund 50 Personen aus Schillings Umfeld. Den Journalist:innen bestätigten mehrere Personen, die Story von Schilling erzählt bekommen zu haben. Schilling unterschrieb auf Bohrn Menas Wunsch hin gar eine Unterlassungserklärung.
Die Spitzenkandidatin selbst erklärt, sie habe sich bloß "Sorgen um eine Freundin gemacht". Veronika Bohrn Mena äußerte gegenüber dem "Standard" Zweifel an dieser Erklärung. Falls sie sich tatsächlich gesorgt hat, kommt eine Frage auf: Warum hat Schilling sich nicht an sie selbst gewandt und gefragt, ob es ihr gut gehe?
Der "Standard" selbst gibt im Podcast "Inside Austria" zu: "Das Ehepaar Bohrn Mena ist in der österreichischen Öffentlichkeit bekannt und nicht unumstritten. Sie gelten durchaus als konfrontationslustig." Einige Kritiker:innen sollen sogar eine gezielte Kampagne des Paares gegen Schilling vermuten.
Die Tageszeitung erklärt jedoch, erst nach mehreren Wochen Recherche auf Veronika Bohrn Mena zugekommen zu sein. Zudem ergaben sich aus den Untersuchungen noch mehr Fälle, in denen Schilling ähnliches Verhalten vorgeworfen wird. Sie soll "mehrfach falsche Behauptungen über Dritte aufgestellt und diese damit in teils existenzgefährdende Probleme gebracht" haben.
Unter anderem geht es um Schillings Vorwurf der sexuellen Belästigung gegen einen Journalisten. Nachdem dieser dem entsprechenden Medienhaus bekannt geworden sei, habe es eine interne Untersuchung gegeben. "Rasch sei klar gewesen, dass der Mann kein relevantes Fehlverhalten an den Tag gelegt habe", so der "Standard".
Der "Standard" resümiert: Es ergebe sich "das Bild einer angehenden EU-Politikerin, die ein problematisches Verhältnis zur Wahrheit pflegt."
Als wäre all das nicht schlimm genug, folgten neue Vorwürfe: Chats zwischen Schilling und Veronika Bohrn Mena belegen demnach, dass die Spitzenkandidatin noch vor wenigen Monaten schrieb, sie habe in ihrem Leben "niemanden so sehr gehasst wie die Grünen".
Die Wochenzeitung "Falter" fällte nach Einsicht des Chatverlaufs dazu ein mildes Urteil. Einzelne Nachrichten seien aus dem Zusammenhang gerissen, andere Aussagen ironisch gemeint. Als Beispiel nennt der "Falter" folgendes Zitat:
Schilling erklärte gegenüber dem "Spiegel", sie habe "lange ein sehr kritisches Verhältnis" gegenüber der Partei gehabt. Dies habe sich jedoch "insbesondere durch die Annäherung im Rahmen meiner Kandidatur – stark verändert".
Weiter wird ihr vorgeworfen, sie habe nach der Europawahl im Parlament von der Grünen- zur Linksfraktion wechseln wollen. Derartige Pläne habe sie mit Menschen in ihrem Umfeld geteilt. Eine Person hat dazu gar eine eidesstattliche Erklärung abgegeben.
Schilling verneinte die Vorwürfe. Um ihre Loyalität zu beweisen, stellte die vorher parteilose Spitzenkandidatin einen Mitgliedsantrag bei den Grünen.
Seit der oben erwähnten Pressekonferenz von Österreichs Grünen-Spitze sind mittlerweile knapp drei Wochen vergangen. Die Partei steht weiter hinter ihrer jungen Spitzenkandidatin und will diese schützen.
Ihre Kommunikationsstrategie scheint es zu sein, in jede Richtung zu treten – was mit Schritten von einem Fettnäpfchen ins nächste endet.
So wurde unter anderem Koglers "anonymes Gemurkse und Gefurze"-Aussage negativ in der Öffentlichkeit aufgenommen – auch wenn die Partei laut "Standard" in Umfragen bisher nur kleine Verluste zu beklagen hat.
Dennoch ist das ganze Spektakel längst zu einem maßlosen Streit über die Wahrheit geworden. Wäre nicht gerade Wahlkampf, könnte sich ganz Österreich mehr Zeit nehmen, um alle Zusammenhänge zu durchblicken.
Stattdessen spielt derzeit jeden Tag ein Orchester aus glaubhaften Medien, Klatschpresse, Parteien, bedächtigen oder grölenden Kritiker:innen ein lautes Durcheinander mit teils schiefen Tönen.
Fundiert recherchierte Enthüllungen und schnell geschriebene Gerüchte verfließen dabei miteinander. Die "Süddeutsche Zeitung" spricht daher auch von einer "Geschichte über Medienethik und Politik".
Klar ist: Schilling selbst hat in der Sache nur wenig zur Aufklärung beigetragen. Ebenso hat die Polter-Strategie der Grünen-Spitze den Diskurs unnötig angestachelt.
Dass jedoch eine so junge Politikerin von der Öffentlichkeit zerrissen wird, ist so auffällig wie bedrückend. Es bleibt die Feststellung: In diesem Skandal gibt es fast ausschließlich Verlierer:innen.