Viele Politiker und Netzexperten sehen das neue Bundesgesetz für Staatstrojaner kritisch. (Symbolbild).Bild: imago stock&people / Christian Ditsch
Analyse
Extremisten kommunizieren gerne über Messenger-Dienste. Auf die verschlüsselte Kommunikation dort soll der Verfassungsschutz nun stärker zugreifen dürfen. Der Preis dafür sei zu hoch, warnen Kritiker.
10.06.2021, 17:1111.06.2021, 07:39
Der Inlandsgeheimdienst bekommt mehr Rechte zum
Zugriff auf die Telekommunikation: Die entsprechende Novelle des
Verfassungsschutzgesetzes passierte heute den Bundestag. Es
gab 355 Ja-Stimmen, 280 Nein-Stimmen und vier Enthaltungen. Vertreter
von Union und SPD verteidigten die Pläne gegen scharfe Kritik der
Opposition.
Verfassungsschutz darf verschlüsselte Messenger-Dienste mitlesen
Künftig soll der Verfassungsschutz Kommunikation über WhatsApp und
andere verschlüsselte Messenger-Dienste mitlesen dürfen – falls eine
entsprechende Anordnung im Einzelfall erteilt wird. Der
Verfassungsschutz, das Bundesinnenministerium und die Innenpolitiker
der Unionsfraktion hatten argumentiert, damit wäre der
Inlandsgeheimdienst mit seinen Möglichkeiten bloß wieder auf dem
Stand angekommen, auf dem er vor der Erfindung von Internet und
Mobilfunk war. Damals genügte es, Festnetztelefone abzuhören.
"Diese Form der Überwachung ist ein fundamentaler Eingriff in unsere Freiheitsrechte und dazu ein Sicherheitsrisiko für unsere Wirtschaft."
SPD-Parteichefin Saskia Esken
Die neuen Überwachungsbefugnisse sind hochumstritten – auch innerhalb der Regierungspartei SPD. "Extremisten und Terroristen telefonieren nicht mehr miteinander,
schreiben sich keine SMS-Nachrichten, sondern kommunizieren
verschlüsselt über Messenger-Dienste", sagte der SPD-Abgeordnete Uli
Grötsch zur dpa. Die SPD-Parteichefin Saskia Esken gab am Mittwoch über ihren Twitteraccount an, dass sie den Einsatz von Staatstrojanern durch Nachrichtendienste generell für falsch halte. Auf Nachfrage von watson wollte sie sich dazu am Freitag nicht weiter äußern.
Weiter schrieb Esken auf Twitter: "Diese Form der Überwachung ist ein fundamentaler Eingriff in unsere Freiheitsrechte und dazu ein Sicherheitsrisiko für unsere Wirtschaft. Die Anwendung von Schadsoftware zur Überwachung verschlüsselter Kommunikation und die bewusste Aufrechterhaltung von Sicherheitslücken, um diese Software installieren zu können, schaden der Idee demokratischer Netze und unser aller Sicherheit." Sie respektiere aber die Entscheidung der SPD-Fraktionsmehrheit, obwohl sie die beschlossenen Mittel für falsch halte.
Der nun verabschiedete Gesetzentwurf sieht auch einen erweiterten
Austausch von Informationen zwischen dem MAD und den
Verfassungsschutzbehörden vor. Das soll vor allem helfen,
rechtsextreme Bundeswehrangehörige und Reservisten besser als bisher
zu identifizieren.
Reform löst Streit in der Koalition aus
Die Reform war in der Koalition sehr umstritten. Ein erster Entwurf
war den anderen Ministerien bereits im März 2019 zur Stellungnahme
übersandt worden. Damals sah er für die Geheimdienste auch noch die
Erlaubnis für Online-Durchsuchungen vor. Darunter versteht man den
verdeckten Zugriff auf Computer, Smartphones und andere IT-Geräte,
deren Daten dann ausgelesen werden können. Dieser Passus wurde auf
Druck der SPD gestrichen.
Oppositionsvertreter kritisierten die Reform als zu weitreichenden
Eingriff in die Bürgerrechte. Konstantin von Notz (Grüne) nannte den Beschluss "hochproblematisch". Damit wäre nicht ein einziger Anschlag verhindert
worden, sagte er. Scharfe Kritik gab es insbesondere an der Nutzung
von IT-Sicherheitslücken, sogenannten Staatstrojanern.
Diese "Sicherheitspolitik ist selbst ein Sicherheitsrisiko", sagte der
FDP-Politiker Stephan Thomae dazu. Kriminelle könnten diese
Schwachstellen nutzen, um Firmen zu erpressen und Identitäten zu
stehlen, und auch ausländische Nachrichtendienste könnten damit
spitzeln. Diese Sicherheitslücken beträfen 82 Millionen Menschen im
Land, unterstrich von Notz.
"Karlsruhe wird sich mit einem weiteren GroKo-Gesetz beschäftigen müssen."
FDP-Netzpolitikerin Ann Cathrin Riedel tritt seit Jahren als Fürsprecherin des Rechts auf die eigenen Daten und von Bürgerrechten im Internet auf. Sie erklärte gegenüber watson:
"Die Große Koalition zeigt abermals, dass sie eine absolute Katastrophe für Bürgerrechte und IT-Sicherheit ist. Abermals boxt sie kurz vor Schluss höchst problematische Gesetze durch den Bundestag. Dieses Vorhaben ist nicht zu unterschätzen: Selbst Unverdächtige können nun einen Staatstrojaner aufgespielt bekommen und Internet-Anbieter wie Google und Facebook sollen für die Behörden Hilfssheriffs spielen. Karlsruhe wird sich mit einem weiteren GroKo-Gesetz beschäftigen müssen."
Kritik am Eingriff in Bürgerrechte
Katharina Nocun, Politikwissenschaftlerin und Netzaktivistin, meinte zu watson über das neue Gesetz: "Beim Abbau von Freiheitsrechten geht es nicht nur um die Frage, ob wir unseren Institutionen, wie sie heute sind, vertrauen. Es geht vielmehr darum, was sich in 10 Jahren mit solchen Werkzeugen anstellen ließe. Im Worst-Case-Szenario. Wer das ausblendet, nimmt hin, einen schlüsselfertigen Überwachungsstaat zu bauen. Ohne zu wissen, wer den Schlüssel dazu eines Tages in der Hand halten wird."
"Bei jedem neuen Überwachungsgesetz und jeder neuen Datensammlung frage ich mich mittlerweile: Was würde die AfD damit anstellen?"
Nocun meinte weiter: "Bei jedem neuen Überwachungsgesetz und jeder neuen Datensammlung frage ich mich mittlerweile: Was würde die AfD damit anstellen? Ich würde mir sehr wünschen, dass sich mehr Bundestagsabgeordnete diese Frage stellen. Und Antworten darauf liefern. Aus so einer Perspektive heraus ist die Entscheidung zum Staatstrojaner eine Bankrotterklärung.", sagt die Autorin des Buches "Die Daten, die ich rief" weiter.
Konsequenzen aus Halle und Hanau
Durch die Reform werden zudem die Hürden für die Beobachtung von
Einzelpersonen durch den Verfassungsschutz gesenkt. Damit zieht die
Bundesregierung Konsequenzen aus den rechtsextrem motivierten
Terroranschlägen in Halle und Hanau. Beide Anschläge waren von Tätern
verübt worden, die nach bisherigen Erkenntnissen keiner Gruppierung
angehörten.
(mit Material von dpa)
Der Gazastreifen liegt in Schutt und Asche, das Sterben gehört dort zum Alltag, Kinder leiden massiv: Der Nahost-Konflikt und das brutale Agieren Israels im Gazastreifen spaltet die Gesellschaft. Es hagelt seit Monaten Kritik zur ungeheuren Brutalität, mit der das Land unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in der Enklave vorgeht. Auch in Israel wird der Widerstand größer.