Agent:innen des russischen Geheimdienstes leben, rekrutieren und morden in Deutschland, Europa und der ganzen Welt. Der Kreml hat ein weltweites Netz gesponnen. Gegenspionage durch den deutschen Auslandsgeheimdienst BND gab es lange nicht. Denn nach den Anschlägen des 11. September 2001 sei die Gefahr, so berichtet der "Spiegel", anderswo gesehen worden.
Seit 2006 häufen sich die mutmaßlichen russischen Geheimdienstaktionen in Europa. Der "Spiegel" erwähnt in seiner Recherche diverse Morde, unter anderem den Tiergartenmord in Berlin 2019, Hackerangriffe, Destabilisierungen, beispielsweise auf der Krim, Industriespionage, unter anderem in Deutschland.
Mit dem Angriff auf die Ukraine hätten die Aktivitäten auch in Deutschland weiter zugenommen.
Der jährliche Bericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), dem innerdeutschen Geheimdienst, benennt mittlerweile die von russischen Geheimdiensten ausgehende Gefahr sehr deutlich. Der Verfassungsschutz ist zuständig für die Spionageabwehr. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) hat die Cybersicherheit weit nach oben auf die Agenda gesetzt. Deutschland rüstet sich.
Aus dem Innenministerium heißt es auf watson-Anfrage, dass die Aktivitäten der russischen Nachrichtendienste sehr ernst genommen würden. In der Vergangenheit seien Gegenmaßnahmen ergriffen worden. Beispielsweise als im vergangenen April vierzig Diplomaten ausgewiesen worden sind, weil sie russischen Nachrichtendiensten zugerechnet werden konnten.
Innenministerin Nancy Faeser (SPD) erklärt:
Daher seien die Kräfte nun gebündelt und die Schutzmaßnahmen hochgefahren worden. Der Verfassungsschutz sei beispielsweise personell aufgestockt worden.
Für den CDU-Politiker und Geheimdienstexperten Roderich Kiesewetter ist klar: Die größte russische Bedrohung geht von Cyberangriffen und Cybererpressungen, wie auch Sabotage aus.
Er stellt auf watson-Anfrage klar:
Seit mehr als zwei Jahrzehnten habe es Warnungen aus den osteuropäischen und baltischen Staaten, sowie den USA gegeben. Sie seien ungehört geblieben.
Kiesewetter macht die Gründe dafür an drei Punkten fest:
Für die Zukunft müssen die Nachrichtendienste besser für die Abwehr und Aufdeckung hybrider Bedrohungen ausgestattet werden, fordert Kiesewetter. Auch die Gesetze müssten an die Bedrohungslage angepasst werden.
Vor allem sei Kiesewetter wichtig, dass die Gesellschaft für die hybride Bedrohung sensibilisiert werde. Denn: Eine wehrhafte Demokratie hänge auch mit der Resilienz der Bürger:innen zusammen. Russland und China griffen "unser Lebensmodell von Demokratie und Freiheit an".
Entscheidend sei, die politische Bewertung in Deutschland. "Hier muss endlich begriffen werden, dass Russland seine Interessen mit Staatsterrorismus, mit hybrider Kriegsführung und konventionell militärisch durchsetzt", sagt Kiesewetter. Er fordert den massiven Ausbau der Spionageabwehr, die in Deutschland bisher vernachlässigt worden sei.
Auch der Grünen-Politiker und Geheimdienstexperte Konstantin von Notz wirft Deutschland Versäumnisse in der Spionageabwehr vor. Dem Nachrichtendienst BND könne nur bedingt ein Vorwurf gemacht werden, denn er untersteht dem Kanzleramt. Dort sei "falsche, sicherheitspolitisch naive Politik verfolgt" worden.
"Wir waren vielfach unaufmerksam und haben uns nicht ausreichend um die zahlreichen Hinweise gekümmert", erklärt von Notz auf watson-Anfrage. Die weitreichende Abhängigkeit von russischem Öl und Gas hätte dazu geführt, dass nicht genau hingeschaut worden wäre. Genauso die "naive Hoffnung", dass Wandel durch Handel funktionieren könne.
Aus heutiger Sicht sei es ein schwerer politischer Fehler gewesen, die Gegenspionage nach den Attentaten des 11. September 2001 einzustellen. Nun müsse nachvollzogen werden, welchen Einfluss Russland in den vergangenen Jahren in Deutschland hatte. Von Notz nennt in diesem Zusammenhang auch die umstrittene Ostseepipeline Nord Stream II.
Wichtig ist es, in Zukunft die deutsche Spionageabwehr neu auszurichten, meint der Grünen-Politiker. Verstärkt in den Blick genommen werden müssten neue hybride Bedrohungen. Genauso wie Diskursverschiebungen mit dem Ziel, die Gesellschaft zu spalten. Außerdem müsse das Know-How der Zivilgesellschaft bei der Erkennung und Abwehr einbezogen werden.
Der Geheimdienstexperte der FDP-Fraktion, Stephan Thomae, erklärt auf watson-Anfrage, dass russische Spione eben nicht unbehelligt blieben. Das werde dadurch deutlich, dass immer wieder russische Agenten in Deutschland identifiziert und ausgewiesen würden.
Thomae fügt an:
Aus diesem Grund müsse alles daran gesetzt werden, russische Spione ausfindig zu machen – auch in Zusammenarbeit mit europäischen Partner:innen. Thomae fordert außerdem, über eine finanzielle, wie personelle Stärkung zu sprechen. So könnte Deutschland den wachsenden Herausforderungen gerecht werden.
Der Linken-Politiker André Hahn zeigt sich gegenüber watson skeptisch bezüglich der deutschen Spionageabwehr – auch wenn das BfV behaupte, gut aufgestellt zu sein. Hahn führt aus:
Sollten sich Missstände in diesem Fall erhärten, müsse die Organisation der Spionageabwehr auf die Tagesordnung des für die Geheimdienste zuständigen Parlamentarischen Kontrollgremiums gesetzt werden.
Welche Auswirkungen eine Neuausrichtung der Spionageabwehr auf die Beziehungen Deutschlands haben könnte, bleibe abzuwarten. "Realistisch betrachtet ist Spionage sozusagen ein diplomatisches Alltagsgeschäft – leider", sagt Hahn. Es komme aber darauf an, was herausgefunden wurde und welche Bedeutung diesen Informationen beigemessen wird. Bisher könne Hahn keine über das bekannte Maß herausgehende internationalen Erschütterungen erkennen.
Die Bestrebungen, die deutschen Geheimdienste neu aufzustellen, sind also da. Ebenso der neue Blick auf Russland – verbunden mit größerer Vorsicht. Denn: Sowohl Innenministerin Faeser (SPD), als auch Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) haben die von Russland ausgehende destabilisierende Gefahr mittlerweile benannt.