Seit Jahrzehnten schwelt der Konflikt zwischen China und Taiwan. Die Volksrepublik sieht den demokratischen Inselstaat nicht als autonomes Land an, sondern als abtrünnige Provinz und will ihn sich wieder einverleiben. Taiwans größter Freund und Unterstützer: die USA.
Immer wieder ploppt der Konflikt auf und droht zu eskalieren. Etwa, wenn China Militärmanöver vor der Küste Taiwans durchführt oder in taiwanesisches Hoheitsgebiet eindringt. Seit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine häufen sich die sorgenvollen Stimmen: Was, wenn sich China Russland zum Vorbild nimmt und die Insel angreift?
Der Militärexperte Ralph Thiele vom Institut für Strategie-, Politik-, Sicherheits- und Wirtschaftsberatung (ISPSW) beschäftigt sich seit Jahren mit der Gefahr, die von Peking ausgeht. Im Gespräch mit watson sagt er: "China denkt strategisch."
Laut Thiele plant die Volksrepublik langfristig, bereitet selbst militärische Schritte Dekaden im Voraus vor. "Die Vereinigung mit Taiwan ist – wie in Korea oder früher auch Deutschland – ein langfristiges, aber selbstverständliches Ziel für China." Zwar rücke die Realisierung dieses Zieles näher, "aber man hat strategische Geduld".
China nehme eine Beobachter-Rolle ein und prüfe sorgfältig, was es aus der Auseinandersetzung des Westens mit Russland in der Ukraine lernen kann. Bislang gibt es aus dieser Beobachtung wenig Anreize, die Wiedervereinigung Taiwans kurzfristig ins Auge zu fassen. Thiele meint: "Das Getöse ist größer als die reale Gefahr einer kurzfristigen bewaffneten Auseinandersetzung."
Und außerdem:
Grundsätzlich gehen Expert:innen davon aus, dass es irgendwann zu einer Invasion Chinas in Taiwan und damit auch zu einer militärischen Auseinandersetzung kommen wird. Allerdings glaubt Thiele nicht an einen großen Knall. Er sagt: "Das wird kein rein militärischer Überfall sein. China arbeitet hybrid."
Damit meint er, dass die Volksrepublik auf den unterschiedlichsten Ebenen an ihrem Ziel, die Insel einzunehmen, arbeitet. Etwa werden Menschen mit großem Einfluss bestochen; der Regierungsapparat und die Öffentlichkeit werden zermürbt; politische Parteien, die aus Taiwan heraus eine Wiedervereinigung anstreben, werden unterstützt.
"Und durch diese Mischung aus hybrider Einflussnahme, Korruption und politischer Bewegung wird dann das Narrativ einer 'Befreiung' verbreitet. Im Sinne von: In Taiwan wird das Volk unterdrückt, bitte China, helft uns", erklärt der Experte.
"Nichts ist 100-prozentig." Das sagt der US-amerikanische Politikwissenschaftler Andrew Denison vom "Transatlantic Networks" auf watson-Anfrage. "Manchmal ist Unklarheit ein wirksames Abschreckungsmittel." Die Chinesen seien sich demnach nicht sicher, dass die USA keinen militärischen Beitrag leisten werden.
US-Präsident Joe Biden wurde von einem Journalisten gefragt, ob amerikanische Soldat:innen die Taiwaner:innen im Falle einer Invasion verteidigen würden. Bidens Antwort: "Ja". So klar hat noch kein Präsident auf eine solche Frage geantwortet. Denison meint: "Die Formulierung ist klarer als zuvor, weil auch die chinesischen Drohungen klarer sind als zuvor."
Thiele meint: "Abschreckung beruht auf Glaubwürdigkeit." In der Weltpolitik gehe es um Macht und Prosperität, also Wohlstand und wirtschaftlichen Aufschwung. Letzterer werde zurzeit in Asien zwischen China und den USA entschieden. Und die Vereinigten Staaten haben im Zuge ihrer nationalen und insbesondere auch ihrer wirtschaftlichen Interessen ein sicherheitspolitisches Versprechen gegeben: Länder wie Südkorea, Japan, Australien, Neuseeland und viele andere vor einer etwaigen chinesischen Aggression zu schützen.
"Die USA sind hier Gefangene ihrer eigenen Ziele: Sie müssen Taiwan unterstützen – auch militärisch – um gegenüber ihren pazifischen Verbündeten nicht ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren", sagt Thiele. Laut Denison haben die Vereinigten Staaten außerdem jahrzehntelang in die Sicherheit und Unabhängigkeit des Inselstaats investiert. Die Bindungen und Verpflichtungen mit Taiwan seien demnach breiter und tiefer als etwa mit der Ukraine.
Eigentlich nicht. Aber – wie immer - hänge es auch davon ab, wie die realen Geschehnisse interpretiert werden, meint Thiele. Sollten die Chinesen einen US-Flugzeugträger versenken, könnte das unterschiedlich aufgefasst werden: Zu einem als ein regionaler Konflikt, mit dem man in Europa nichts zu tun habe. Zum anderen als ein Angriff auf den freien Westen.
Laut Thiele versuchen die USA derzeit, den Westen gegenüber China politisch hinter sich zu versammeln. Damit könne man ein Narrativ bauen: Hier kämpft eine Autokratie gegen den freien Westen. Demnach könnte ein Angriff auf ein US-Flugzeugträger als Angriff auf den Westen gedeutet werden.
"Sprich, je nach Interpretation der Lage könnte das zu einem Nato-Fall werden, obwohl es vordergründig erst einmal keiner ist", erklärt Thiele.
In einer weltweiten hybriden Auseinandersetzung sind wir bereits, meint Thiele. Das heißt aber zunächst nicht, dass wir einen Dritten Weltkrieg im Sinne von einem globalen Schlachtfeld fürchten müssen. Der Sicherheitsbegriff habe sich ausgedehnt.
Technologie, Wirtschaft, Gesellschaft – all diese Bereiche werden bereits in einem aggressiven Systemwettbewerb angegriffen und verteidigt, erklärt Thiele. "Cyberraum, Weltraum, kritische Infrastrukturen oder auch Mikrochips, von denen die Weltwirtschaft abhängig ist" seien etwa Bereiche, in denen bereits "Kämpfe" stattfänden.
Hauptproduzent der Mikrochips ist Taiwan. Würde ein bewaffneter Konflikt aus- und die Produktion zusammenbrechen, würde die gesamte Weltwirtschaft darunter leiden. "Inzwischen beginnt Taiwan, in Europa und in Amerika Fabriken aufzubauen. Für den Fall, dass es zu dieser Aggression seitens China kommt", sagt Thiele. All solche Faktoren werden in diese Auseinandersetzung mit einbezogen. Daher müsse sich auch die Unterstützung der USA entsprechend ausweiten.
Thiele meint auch:
Der Kampf werde sich über Wirtschaft, Likes und Technologien abspielen. Laut Thiele sind die entscheidenden Weltmächte China und die USA. Taiwan sei in der Hinsicht – nach der Ukraine – ein möglicher nächster Frontstaat. Experte Denison hält die Eskalationsgefahr für eine direkte Konfrontation aber für gering.
Denn: China sei militärisch abgeschreckt und könne es sich nicht leisten, sich vom Westen abzukoppeln. "Ohne Energie- und Agrarimporte, ohne westliche Märkte und Technologien wären die Chinesen aufgeschmissen", sagt Denison.
Ihm zufolge muss China gerade jetzt Vorsicht walten lassen. Durch den Krieg in der Ukraine sei der Westen geeint und mobilisiert. Das heißt aber nicht, dass die USA die Gefahr einer Eskalation ignorieren dürfen. "Kommunikation und Krisenmanagement müssen stets auf Hochtouren laufen", sagt Denison.