Selten ist ein beliebter deutscher Politiker so schnell unbeliebt geworden wie Jens Spahn zwischen Januar und März 2021. Anfang des Jahres war der Bundesgesundheitsminister und CDU-Politiker nach Bundeskanzlerin Angela Merkel das zweitbeliebteste Mitglied der Bundesregierung. Laut einem "Spiegel"-Bericht soll Spahn sich vor dem CDU-Parteitag im Januar sogar noch intern erkundigt haben, wie seine Chancen stünden, selbst Parteichef zu werden.
Im ZDF-Politbarometer Ende Februar war er zuletzt nur noch auf Rang sechs, hinter Grünen-Bundeschef Robert Habeck. Und es hat seither weitere unangenehme Nachrichten rund um Spahn gegeben.
Was wird dem Bundesgesundheitsminister überhaupt vorgeworfen? Und wie berechtigt sind die Vorwürfe? Ein Überblick.
Impfen und Testen geht zu langsam voran
Wer sich Ranglisten anschaut, in denen Länder nach dem Anteil der geimpften Menschen an der Gesamtbevölkerung gelistet werden, muss relativ lange scrollen, bis Deutschland erscheint – unter anderem hinter Israel, Großbritannien, den USA und Ungarn. Nur gut 8,5 Prozent der Bevölkerung hatten hier am Freitag zumindest eine Impfstoff-Dosis gegen Covid-19 erhalten – fast drei Monate nach der allerersten Impfung mit einem zugelassenen Corona-Vakzin. In Ungarn waren es knapp 15, in den USA 22,5, in Großbritannien knapp 38, in Israel 59,5.
Dazu kommt: Die Teststrategie in Deutschland ist zumindest holprig gestartet. Die versprochenen Antigen-Schnelltests (die zum Beispiel in Apotheken gemacht werden können) sind immer noch nicht so weit zugänglich, wie Minister Spahn das versprochen hatte – obwohl eigentlich jeder Bürger seit März Anspruch auf einen Schnelltest pro Woche hat. Als Anfang März öffentlich wurde, dass die von Spahn seit Längerem angekündigten Schnelltests langsamer als versprochen geliefert werden, soll Bundeskanzlerin Angela Merkel erbost reagiert haben.
Aus der Opposition kommt deshalb deutliche Kritik an Spahn. FDP-Gesundheitspolitikerin Christine Aschenberg-Dugnus wirft dem Minister gegenüber watson "Fehler bei der Maskenbeschaffung" und "eine unzureichende Impfstoffbestellung" vor. Schnelltests habe man "man nur beim Discounter, aber nicht vom Bund" erhalten, das Impfmanagement sei "chaotisch" gewesen.
Das Fazit der Grünen-Gesundheitsexpertin Kordula Schulz-Asche klingt gegenüber watson vernichtend: "Die Krise ist komplex und übersteigt ganz offensichtlich die Kapazitäten des Bundesgesundheitsministers." Harald Weinberg von den Linken meint zu watson: "Spahn hat in der Bevölkerung massiv Vertrauen eingebüßt. In der jetzigen Situation, in der die Zahlen wieder hoch gehen, ist das eine Katastrophe.
Auch Politiker des Noch-Koalitionspartners SPD haben in den vergangenen Wochen nicht an Kritik gespart. SPD-Fraktionschef Ralf Mützenich nannte Spahn wegen der Versäumnisse bei den Schnelltests "Ankündigungsminister". Auf eine aktuelle Anfrage von watson sagte eine Sprecherin, die SPD-Abgeordneten wollten sich momentan nicht über Spahn als Person äußern. Es gehe jetzt um die gemeinsame Pandemiebekämpfung.
Aus der Unionsfraktion kommen immerhin noch verteidigende Worte für Spahn. Karin Maag, gesundheitspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, erklärte gegenüber watson: "Die Kritik an unserem Bundesgesundheitsminister halte ich für wohlfeil und unangemessen." Maag verweist auf die Länder, die etwa für die Durchführung der Impfungen vor Ort zuständig seien.
Spahn selbst verweist ebenfalls immer wieder darauf, dass sein Haus bei Impfungen und Tests nur für einen Teil der Arbeit zuständig sei. Laut mehreren Medien hat er sich in internen Runden immer wieder genervt darüber geäußert, dass die Bundesländer ihre Aufgaben etwa bei der Testbeschaffung nicht wahrnehmen würden – und stattdessen auf den Bund zeigten.
Spahn liegt mit dieser Feststellung grundsätzlich richtig: Der Bund ist, grob gesagt, beim Impfstoff wie bei den Schnelltests nur für einen Teil der Arbeit zuständig. Er sorgt dafür, dass der Impfstoff nach Deutschland kommt – während die Länder für den Betrieb der Impfzentren und für die Verteilung der Impfstoffdosen auf Städte und Landkreise zuständig sind. Der Bund kümmert sich darum, Schnelltests zu besorgen – aber auch die Bundesländer können dies tun. Manche kaufen mehr davon, manche weniger.
Und auch der Impf-Vergleich mit anderen Ländern ist nur ein Teil der Wahrheit: USA und Großbritannien impfen deutlich schneller – aber in beiden Ländern sind, auf die Gesamtbevölkerung gerechnet, bis heute deutlich mehr Menschen an Covid-19 gestorben. Und der Lockdown war in Großbritannien, wie in anderen europäischen Ländern, über lange Zeit deutlich härter als in Deutschland.
Trotzdem entlastet das Spahn nur teilweise, seine Fehler bleiben. Spahn hatte etwa im Februar angekündigt, ab 1. März könne jeder Bürger sich zweimal wöchentlich testen lassen. Und er hatte laut "Spiegel" Anfang Januar gesagt, bis Ende des zweiten Quartals, also bis Ende Juni, rechne er damit, dass jedem Bürger eine Impfung angeboten werde. Beide Versprechen kassierte Spahn später wieder.
Spahns Abendessen im Herbst – und der Streit um seine Immobilien
Es sind nicht nur fachpolitische Verfehlungen, die Jens Spahn momentan unangenehme Schlagzeilen bescheren. Es geht auch um sein Verhalten in den Monaten der Corona-Krise.
Da ist ein Abendessen in Leipzig, an dem Spahn am 20. Oktober teilnahm – und über das mehrere Medien berichtet haben. Eingeladen war ein Dutzend Unternehmer. Brisant sind daran zwei Dinge: Zum einen fand das Abendessen am selben Tag statt, an dem Spahn wenige Stunden zuvor die Menschen in Deutschland vor "Feiern" und "Geselligsein" gewarnt hatte, weil sich bei solchen Gelegenheiten besonders viele Menschen mit dem Virus ansteckten. Und just am Tag nach dem Abendessen wurde Spahn positiv auf das Coronavirus getestet.
Zum anderen wurden die Unternehmer auf dem Abendessen gebeten, für Spahns Bundestagswahlkampf zu spenden – und zwar, laut "Bild", nach Möglichkeit genau 9.999 Euro: ein Betrag, der gerade noch unter dem Betrag von 10.000 Euro liegt, ab dem die Parteien ihre Spender beim Namen nennen müssen. Der Gesundheitsminister wurde seit 2002 immer direkt aus seinem Wahlkreis im Norden Nordrhein-Westfalens in den Bundestag gewählt.
Unerfreulich für Spahn sind auch die Medienberichte über seine privaten Immobilienkäufe. Dabei geht es um eine mehrere Millionen Euro teure Villa im Berliner Stadtteil Dahlem, die Spahn im Sommer 2020 zusammen mit seinem Ehemann kaufte – und um eine Wohnung, die Spahn von einem mit ihm privat bekannten früheren Pharmamanager erwarb. Dieser Manager wurde danach Geschäftsführer einer Firma, an der das von Spahn geleitete Gesundheitsministerium mehrheitlich beteiligt ist. Über die Geschäfte hatte unter anderem der "Tagesspiegel" ausführlich berichtet. Spahn wiederum wollte daraufhin vom Grundbuchamt wissen, welche Journalisten sich über seine Immobilienkäufe informiert hatten - was die Bundesvorsitzende der Deutschen Journalistinnen- und Journalistenunion Tina Groll als "verstörend" bezeichnete.
In keinem der genannten Fälle gibt es bisher Hinweise darauf, dass Spahn gegen gesetzliche Bestimmungen verstoßen hat. Aber das Spenden-Dinner in einer Zeit, in der die Ansteckungszahl rapide stiegen war mindestens taktlos gegenüber dem Rest der Bevölkerung – und Spahns Vorgehen gegen recherchierende Journalisten fragwürdig.
FFP-2-Masken für Apotheken: "Dumm und dämlich verdient"
Kritik an Spahn ist in der vergangenen Woche auch wegen der kostenlosen Verteilung von FFP-2-Masken an die Bevölkerung laut geworden – genauer gesagt, wegen des Preises, den Spahns Ministerium auf den Wunsch des Ministers an die Apotheken gezahlt hat, damit sie die Masken in der Weihnachtszeit an besonders schutzbedürftige Menschen verteilen.
Sechs Euro bekamen die Apotheken vom Staat pro Maske – und bestellten sie selbst aber zu deutlich niedrigeren Preisen. Laut Recherchen von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" hat sich Spahn persönlich dafür eingesetzt, dass der Bund den Preis für die Masken schnell erstattet. Und auf den Preis von sechs Euro sollen Berater des Wirtschaftsprüfungsunternehmen Ernst & Young laut NDR, WDR und SZ unter anderem durch die Recherche auf Portalen wie Idealo.de und Geizhals.de gekommen sein. Das Ergebnis der Aktion: Viele Apotheker verdienten sich "dumm und dämlich", wie ein Berliner Apotheker NDR, WDR und SZ sagte. Und für den Bund – und damit für alle Steuerzahler in Deutschland – entstanden Kosten von wohl mehr als zwei Milliarden Euro.
Nach allem, was bisher bekannt ist, scheint Spahn bei der schnellen Beschaffung der Masken die Ungeduld angetrieben zu haben. Er soll in einem Aktenvermerk gefordert haben, die Erstattung "kurzfristig" in die Wege zu leiten – obwohl Experten im Ministerium ihn vor Geldverschwendung gewarnt hatten. Spahn, soviel scheint sicher, hat einen gravierenden Fehler begangen.
Wie Spahn mit der Kritik an sich umgeht
Die Kritik, die auf Spahn einprasselt, ist seit Wochen massiv, sein Verlust an Popularität ist krass. Wie geht der Minister damit um?
Öffentlich versucht er, die Vorwürfe an sich abperlen zu lassen. Am Freitag in der Bundespressekonferenz, in der Spahn neben SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach saß und Fragen der Hauptstadt-Journalisten beantwortete, sagte der Minister auf die Frage von watson, wie er selbst umgehe mit der Kritik an seiner Person:
"Eine Pandemie ist für den Gesundheitsminister kein Schonwaschgang. Das ist es aber für die allermeisten Bürgerinnen und Bürger nicht, die ja alle in dieser Pandemie sehr unterschiedliche Situationen erleben. Es ist aber am Ende auch nicht der Maßstab. Ich habe eine Aufgabe zu erledigen als Bundesminister für Gesundheit: mitzuhelfen, dass wir alle bestmöglich durch diese Pandemie kommen. Entscheidungen zu treffen in der konkreten Situation und da eben mit diesen Entscheidungen Verantwortung zu übernehmen. Das ist am Ende das, worum es geht."
Und Lauterbach, der in sozialen Netzwerken seit Tagen als Nachfolger Spahns gehandelt wird, sagte nur: "Ich bewerte nichts und niemanden, insbesondere nicht den Minister."
Intern scheint man Spahn aber hin und wieder anzumerken, dass er gereizt ist. Die "Bild" berichtete Anfang März über eine Runde der "Taskforce Testlogistik", in der Spahn und Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer sich um die Beschaffung von Schnelltests kümmern sollten. Spahn soll in der Runde patzig auf den Vorschlag mehrerer Konzernchefs reagiert haben, sie würden ihre Logistikzentren zur Verfügung zu stellen und die Verteilung übernehmen – der Bund müsse die Tests nur zentral beschaffen. Er verstehe nicht, warum der Bund sich um die Beschaffung kümmern müsse und nicht die Länder, soll Spahn gesagt haben.
Die Zeit Anfang des Jahres, als Spahn der heimliche Favorit auf die Kanzlerschaft war, scheinen heute weit entfernt.
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