Politik
Analyse

Ukraine-Krieg: Zweifel der USA an Selenskyj und Kritik von Amnesty am Militär

"Amnesty International" kritisiert das ukrainische Militär und die USA soll angeblich Zweifel gegenüber dem ukrainischen Präsident Wolodymyr Selenskyj haben.
"Amnesty International" kritisiert das ukrainische Militär und die USA soll angeblich Zweifel gegenüber dem ukrainischen Präsident Wolodymyr Selenskyj haben. Bild: picture alliance /The Presidential Offi | The Presidential Office of Ukraine / Sven Simon
Analyse

Selenskyj in der Kritik – zweifeln jetzt die USA an ihrer Ukraine-Beziehung?

Der US-Journalist Thomas Friedman berichtet von Zweifeln amerikanischer Beamter an der ukrainischen Regierung. Der Tenor: Man habe Sorge vor Korruption und Waffenschleuser-Tätigkeiten. Auch "Amnesty International" übt heftigste Kritik an der Ukraine – vor allem am Militär.
05.08.2022, 18:49
Mehr «Politik»

"Lassen die USA Selenskyj fallen" trendete am Donnerstagabend auf Twitter. Der renommierte US-Journalist Thomas Friedman schreibt in seinem Meinungsartikel für die "New York Times": Zwischen dem Weißen Haus und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj herrsche ein tiefes Misstrauen.

Gleichzeitig sorgte ein Bericht der Menschenrechtsorganisation "Amnesty International" für Aufregung. Das ukrainische Militär gefährde eigene Zivilistinnen und Zivilisten und verstoße damit gegen das humanitäre Völkerrecht.

Was hat es mit den Vorwürfen auf sich und kippt jetzt die Stimmung in Bezug auf Selenskyj und seine Regierung? Watson hat sich das für euch genauer angeschaut.

Behauptungen eines US-Journalisten

Thomas Friedman arbeitet als Journalist und Kolumnist bei der "New York Times". In seiner Kolumne kritisiert er den Besuch Pelosis in Taiwan als "absolut rücksichtlos" und verpackt zudem brisante Informationen über die Beziehung der US-amerikanischen Regierung und der Ukraine.

Er schreibt:

"Im privaten Gespräch sind US-Beamte viel besorgter über die Führung der Ukraine, als sie zugeben. Zwischen dem Weißen Haus und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj herrscht tiefes Misstrauen – erheblich mehr als bisher berichtet."

Zudem bezeichnet Friedman die jüngsten Personalentscheidungen von Selenskyj als "seltsame Vorgänge" und erklärt: "Am 17. Juli entließ Selenskyj die Generalstaatsanwältin seines Landes und den Leiter des Inlandsgeheimdienstes – die bedeutendste Erschütterung seiner Regierung seit der russischen Invasion im Februar."

Der US-Journalist und Kolumnist Thomas Friedman schreibt für die "New York Times".
Der US-Journalist und Kolumnist Thomas Friedman schreibt für die "New York Times".Bild: IMAGO / Xinhua

Daraus zieht Friedman das Fazit, dass die US-Regierung in Kiew nicht zu genau unter die Decke schauen wolle, "aus Angst vor Korruption oder Skandalen, die wir entdecken könnten – nachdem wir dort so viel investiert haben". Der in Washington sehr gut vernetzte Journalist wolle demnächst mehr zu den "Gefahren" berichten.

"Die Biden-Regierung ist sich bewusst, dass jeglicher öffentlicher Zweifel an der Ukraine Konsequenzen hätte [...]. Der Nutznießer wäre Putin."
US-Experten Dominik Tolksdorf, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Poltik

US-Experten bewerten die Beziehung

Michael Desch gibt jedoch Entwarnung. Die Beziehung zwischen den USA und der Ukraine sei stabiler, als die Rhetorik Friedmans sie darstellt. "Die Biden-Administration ist sich seit langem bewusst, dass sie wichtige Meinungsverschiedenheiten mit der ukrainischen Regierung hat", erklärt er gegenüber watson. Desch arbeitet als Professor für Internationale Beziehungen an der Universität von Notre Dame im Bundesstaat Indiana.

Auch US-Experte Dominik Tolksdorf zufolge, gibt es innerhalb der US-Regierung immer mal wieder Zweifel an Selenskyj und Mitgliedern seiner Regierung. Diese werde die US-Regierung aber nicht öffentlich äußern. "Die Biden-Regierung ist sich bewusst, dass jeglicher öffentlicher Zweifel an der Ukraine Konsequenzen hätte und schnell Debatten zur Entschlossenheit des Westens auslösen würde. Der Nutznießer wäre Putin", erklärt der Wissenschaftler gegenüber watson.

Weiter sagt er:

"Die USA haben die Ukraine bisher in großem Maß unterstützt, vielmehr als die meisten anderen westlichen Länder. Die Unterstützung wird auch von vielen republikanischen Senatoren mitgetragen. Allerdings wird im Kongress zunehmend die Frage diskutiert, inwiefern es genügend Rechenschaftspflichten über die gelieferte Militärhilfe gibt, um sicherzustellen, dass die Waffen künftig nicht in die Hände der falschen Akteure landen."

Diese Fragen werden laut Tolksdorf auch bei der US-Präsidentschaftswahl 2024 eine Rolle spielen. "Gerade im Repräsentantenhaus gibt es insbesondere auf Seiten der Republikaner Kandidatinnen und Kandidaten, die die US-Hilfe für ein aus ihrer Sicht korruptes Land kritisieren", meint der Politikwissenschaftler bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.

Viele republikanische Senatoren haben die bisherige Unterstützung der Ukraine mitgetragen. Einige von ihnen, die neu in den Senat gewählt werden möchten, werden die Hilfen als zu großzügig und intransparent kritisieren. "Sie werden grundsätzlich in Frage stellen, warum sich die USA überhaupt in den Krieg einmischen", erklärt Tolksdorf.

In einen Krieg, den Putin mit dem völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine begonnen hat. Die Menschenrechtsorganisation "Amnesty International" wirft Russland bereits Kriegsverbrechen vor.

Kritik einer Menschenrechtsorganisation

Doch auch auf das ukrainische Militär wirft die Organisation ein Auge und übt jetzt Kritik – wie ein aktueller Bericht zeigt. Dort heißt es, die ukrainischen Kampftaktiken gefährdeten eigene Zivilistinnen und Zivilisten, weil die Ukrainer ihre Militärbasen in besiedelten Wohngebieten aufstellen. Dadurch werden auch Schulen und Krankenhäuser zur Zielscheibe militärischer Angriffe. Das Vorgehen sei ein Verstoß gegen humanitäres Völkerrecht.

Zwischen April und Juli dieses Jahres hat "Amnesty International" mehrere Wochen damit verbracht, russische Angriffe in den Regionen Charkiw, Donbass und Mykolajiw zu untersuchen. Laut der Organisation inspizierte sie Angriffsorte, befragte Überlebende, Zeugen und Angehörige der Opfer von Anschlägen.

Die Untersuchungen zeigen, dass ukrainische Streitkräfte Angriffe von besiedelten Wohngebieten aus gestartet und sich in zivilen Gebäuden stationiert haben. Die Organisation hat dazu auch Satellitenbilder analysiert, um einige dieser Vorfälle weiter zu untermauern.

Schulen und Krankhäuser als Zielscheibe

Weiter kritisiert der Bericht, dass sich ukrainische Soldaten in Krankenhäusern zurückziehen. Die Nutzung dieser Einrichtungen für militärische Zwecke sei ein klarer Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht. Zudem richtet sich das Militär routinemäßig Stützpunkte in Schulen etwa im Donbass und in der Region Mykolajiw ein. Schulen wurden seit Beginn des Konflikts vorübergehend geschlossen, aber in den meisten Fällen befanden sich die Gebäude in der Nähe von besiedelten Wohnvierteln.

"Die Verteidigungsposition befreit das ukrainische Militär nicht davon, das humanitäre Völkerrecht zu respektieren."
Agnès Callamard, Generalsekretärin Amnesty International

"Wir haben ein Muster von ukrainischen Streitkräften dokumentiert, die Zivilisten gefährden und gegen Kriegsgesetze verstoßen, wenn sie in besiedelten Gebieten operieren", sagt Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International. "Die Verteidigungsposition befreit das ukrainische Militär nicht davon, das humanitäre Völkerrecht zu respektieren."

Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International, steht hinter der Kritik am ukrainischen Militär.
Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International, steht hinter der Kritik am ukrainischen Militär.Bild: picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Christophe Ena

Die Ergebnisse der Recherche lagen laut Amnesty dem ukrainischen Verteidigungsministerium Ende Juli vor. Es habe bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht darauf reagiert.

Leiterin des ukrainischen Büros verteidigt eigenes Militär

Oksana Pokalchuk, die Leiterin von "Amnesty International Ukraine" kritisiert dieses Vorgehen. "Vertreterinnen und Vertreter des ukrainischen Büros haben alles getan, um zu verhindern, dass dieses Material veröffentlicht wird", stellt die ukrainische Anwältin in ihrem Statement auf Facebook fest.

Oksana Pokalchuk, die Leiterin von "Amnesty International Ukraine" übt starke Kritik an den Vorwürfen gegen das ukrainische Militär.
Oksana Pokalchuk, die Leiterin von "Amnesty International Ukraine" übt starke Kritik an den Vorwürfen gegen das ukrainische Militär.Bild: picture alliance / AA / Dogukan Keskinkilic

Das ukrainische Büro sei weder an der Vorbereitung noch am Verfassen des Textes beteiligt gewesen. Pokalchuk kritisiert, dass die Argumente ihres Teams bezüglich der Unzulässigkeit und Unvollständigkeit der erfassten Daten nicht berücksichtigt wurden.

Sie schreibt:

"Wir haben darum gebeten, uns alle Versionen des Materials im Voraus zuzusenden. Leider ist dies nicht geschehen. Wir haben unsere Kolleginnen und Kollegen davon überzeugt, eine offizielle Stellungnahme des Verteidigungsministeriums der Ukraine anzufordern, aber gleichzeitig haben sie uns nicht genug Zeit gegeben, um eine Antwort zu erhalten, und veröffentlichten die Recherche ohne eines Kommentars des Ministeriums."

Der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak reagiert auf den Bericht empört. Er unterstellt Amnesty eine Beteiligung an einer russischen Propagandakampagne, mit welcher die westlichen Waffenlieferungen gestoppt werden sollen. Bewohner werden aus frontnahen Städten evakuiert – eben weil das Leben der Zivilbevölkerung für die Ukraine Priorität habe, erklärt der ukrainische Politiker auf Twitter.

Auch der ukrainische Präsident Selenskyj äußert sich über "Amnesty International" am Donnerstag in seiner täglichen Ansprache: "Wenn jemand einen Bericht anfertigt, in dem Opfer und Angreifer gewissermaßen auf eine Stufe gestellt werden, wenn gewisse Dinge über das Opfer analysiert und die Taten des Angreifers ignoriert werden, dann kann das nicht toleriert werden."

Krieg in Syrien flammt wieder auf: Was die Türkei damit zu tun hat

Der Krieg in Syrien spitzt sich wieder zu. Es sind die schwersten Kämpfe zwischen islamistischen Rebellen und Regierungstruppen seit Jahren. Aktivist:innen der syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte melden 231 Tote innerhalb von nur zwei Tagen.

Zur Story