Italien hat seit dem Wochenende eine neue Regierung – mal wieder. Aber diesmal ist es ist ein besonderer Wechsel.
Der neue Premierminister heißt Mario Draghi. Er löste seinen Vorgänger Giuseppe Conte am Samstag mit einer pandemiekompatiblen Vereidigung ab: 23 Ministerinnen und Minister übernahmen ihr Amt, mit Masken über Mund und Nase und Sicherheitsabstand voneinander. Am Mittwoch und Donnerstag muss nun die Regierung beim Vertrauensvotum noch im Senat und dann im Abgeordnetenhaus die Mehrheit bekommen, aber das ist nur eine Formsache.
In der italienischen Demokratie sind Regierungswechsel deutlich häufiger als in der deutschen: Die Regierung Draghi ist die 67., seit die italienische Republik im Jahr 1946 gegründet wurde. Draghi ist der 30. Regierungschef. Zum Vergleich: Die Bundesrepublik hatte seit 1949 nur 24 Regierungen – und acht Regierungschefs.
Trotzdem ist dieser Regierungswechsel besonders – und wichtig, sowohl für Italien als auch für ganz Europa.
In der italienischen Regierung unter dem bisherigen Premierminister Giuseppe Conte brodelte es seit Anfang Januar. Angefangen hatte die Regierungskrise mit einem Streit, der mit der Coronakrise zu tun hat – und mit dem Ehrgeiz eines Politikers.
Contes Regierung bestand seit dem Spätsommer 2019 aus einer Mitte-Links-Koalition. Zu ihr gehörten die (früher sehr populistische und heute eher mittig-grüne) Partei "Movimento Cinque Stelle", zu Deutsch Fünf-Sterne-Bewegung, die Mitte-Links Partei "Partito Democratico" (Demokratische Partei) – und mehreren Kleinparteien, die teils links, teils irgendwo in der politischen Mitte zu Hause sind. Das Parteiensystem in Italien ist kompliziert, kleine Parteien spielen eine deutlich größere Rolle als in Deutschland.
Eine dieser Kleinparteien löste die Regierungskrise aus. Sie heißt "Italia Viva" (übersetzt: Lebendiges Italien), in Umfragen rangiert sie zwischen zwei und vier Prozent. Ihr Chef ist Matteo Renzi, der von 2014 bis 2016 Premierminister war. Renzi kritisierte, kurz gesagt, immer wieder öffentlich und lautstark die Art, wie sein Nachfolger Conte Italien durch die Corona-Krise führte.
Renzis wichtigster Kritikpunkt: Er verlangte mehr Mitsprache bei der Frage, wie die italienische Regierung das Geld aus dem europäischen Corona-Rettungspaket ausgibt (das watson im Sommer erklärt hat). Hinter Renzis Attacken gegen Conte steckte aber auch persönlicher Ehrgeiz: Schon 2014 hatte der 46-Jährige eine italienische Regierung mit listigen Manövern aus der Macht befördert – um danach selbst Premier zu werden.
Renzi zog Mitte Januar schließlich seine Minister ab – und machte deutlich, dass die Abgeordneten seiner Partei Conte im Parlament nicht mehr das Vertrauen aussprechen würden. Wenige Tage später trat Giuseppe Conte als Premier zurück.
In den Tagen darauf schmiedete Mario Draghi eine neue Regierungskoalition. Draghi ist in Deutschland seit Jahren bekannt – und umstritten. Von 2011 bis 2019 war er Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB). Er übernahm das Amt in der heißen Phase der Euro-Krise – und sorgte im Juli 2012 mit drei Wörtern dafür, dass die größte Gefahr vorüberging. Er werde, sagte Draghi damals in einer Rede auf Englisch, "whatever it takes" (alles Notwendige) tun, um den Euro zu erhalten. Danach beruhigten sich die Finanzmärkte, manche Beobachter sprachen danach vom "Draghi-Effekt".
Deutsche Kritiker warfen Draghi seither vor, mit seiner Geldpolitik verantwortlich für die niedrigen Zinsen in Europa zu sein, wegen derer Sparbücher und Festgeldkonten seit Jahren fast nichts mehr abwerfen (aber gleichzeitig auch Kredite historisch günstig sind).
Draghis neue Regierung ist aber nicht nur seinetwegen bemerkenswert.
Italien ist mit knapp 60 Millionen Einwohnern das drittgrößte Land der EU – und es ist wirtschaftlich und politisch eng verbunden mit Deutschland. Das bedeutet: Geht es Italien gut, profitiert meistens auch Deutschland davon – und umgekehrt. Italien ist (in nicht-pandemischen Zeiten) eines der beliebtesten Urlaubsziele der Deutschen. Laut der Studie "VuMA Touchpoints 2019" lag es an dritter Stille, fast fünf Prozent aller deutschen Touristen verbrachten ihren Urlaub in Italien.
Ein Regierungswechsel in Italien kann sich auf Deutschland auch deshalb direkt auswirken, weil in der Europäischen Union wichtige Entscheidungen nur getroffen werden können, wenn sich die 27 Mitgliedsstaaten einig werden. Das zeigte sich zum Beispiel zwischen 2018 und 2019: Die damalige Regierung aus zwei populistischen Parteien, der Fünf-Sterne-Bewegung und der Lega, betrieb unter Lega-Innenminister Matteo Salvini eine betont aggressive Migrationspolitik, verweigerte Schiffen mit Geflüchteten die Zufahrt zu italienischen Häfen – und wollte sich nicht mehr an einer Verteilung der Menschen in Europa beteiligen.
Dazu kommt: Populistische Politiker in Italien, rechte wie linke, nutzen Deutschland oft und gerne als Feindbild: Salvini etwa schimpfte während seiner Zeit als Minister im Tagesrhythmus über die Deutschen, die in der EU angeblich über alles alleine bestimmten und den Italienern ihre Regeln aufdrückten. Und bis heute hält sich in Italien die (von Populisten verbreitete) Verschwörungserzählung, dass Ende der 1990er-Jahre, bei der Einführung des Euro, angeblich ein 1:1-Wechselkurs zur Mark gegolten haben – um die deutsche Wirtschaft im Vergleich zur italienischen künstlich aufzuwerten. Häufen sich solche Aussagen prominenter Politiker, steigt auch die anti-deutsche Stimmung. Von Mario Draghi ist anti-deutsche Rhetorik nicht zu erwarten: Er ist überzeugter Europäer, durch seine lange EZB-Erfahrung international renommiert, für seine Kompetenz geschätzt – und kein Freund populistischer Parolen.
Seit Salvini und seine Lega im Sommer 2019 aus der Regierung flogen – und die Fünf-Sterne-Bewegung die deutlich moderatere Regierungskoalition mit dem Partito Democratico einging – hat sich das Verhältnis Italiens zu Deutschland und anderen EU-Staaten deutlich verbessert. Premier Conte und Bundeskanzlerin Angela Merkel entwickelten ein persönliches Vertrauensverhältnis. Auch unter dem international renommierten Draghi stehen die Zeichen zwischen Rom und Berlin gut.
Das ist vor allem deshalb wichtig, weil Europa in den kommenden Monaten vor einer gigantischen Aufgabe steht: der Überwindung der Corona-Krise.
Die Regierung Draghi hat einen Haufen drängender Probleme vor sich. Da sind zum einen die Pandemie und ihre Folgen. Italien wurde vor einem Jahr früher und härter als Deutschland vom Coronavirus getroffen: Über 90.000 Menschen sind in Italien an Covid-19 gestorben, über 400.000 Arbeitsplätze sind laut der italienischen Statistikbehörde Istat durch die Corona-Krise verloren gegangen. Getroffen hat es vor allem junge Menschen und Frauen, die überdurchschnittlich oft in prekären Verhältnissen arbeiten.
Zum anderen kommt Italien seit Jahrzehnten wirtschaftlich nicht vom Fleck – und den Preis dafür bezahlen vor allem junge Menschen. Die Arbeitslosigkeit unter Menschen bis 24 ist mit über 30 Prozent fast sechsmal so hoch wie in Deutschland. Halbwegs sichere und gut bezahlte Jobs zu bekommen ist selbst für Menschen mit hervorragenden Uni-Abschlüssen enorm schwierig. Hunderttausende gut ausgebildeter Italienerinnen und Italiener wandern deshalb Jahr für Jahr aus.
Für Mario Draghi wird die Aufgabe noch schwieriger, weil seine Regierung aus so unterschiedlichen Parteien besteht. Das hat sich schon kurz nach der Vereidigung der neuen Minister gezeigt. Am Montag griffen Vertreter der rechten Lega den Gesundheitsminister der Fünf-Sterne-Bewegung Roberto Speranza an. Der hatte beschlossen, die Skipisten in Italien wegen der Infektionsgefahr durch das Coronavirus bis 5. März geschlossen zu halten. Da war die neue Regierung gerade einmal zwei Tage lang im Amt.