Die Corona-Pandemie hat uns viele neue Begriffe lernen lassen. Einer davon ist die Reproduktionszahl, kurz R. Diese drückt aus, wie viele weitere Menschen jeder Infizierte im Schnitt ansteckt. Liegt sie über 1, steigt die Zahl der Neuinfektionen im schlimmsten Fall wieder exponentiell, liegt sie darunter, nicht.
Und genau diese magische Zahl wurde am Wochenende erstmals seit längerem in Deutschland wieder überschritten. Am Samstag meldete das Robert-Koch-Institut einen R-Wert von 1,1. Am Sonntag fiel er mit 1,13 noch etwas höher aus.
Heißt das etwa, dass die Kontaktbeschränkungen umsonst waren? Oder die Lockerungen vergangene Woche zu früh kamen? Nein, sagt Epidemiologe Timo Ulrichs von der Akkon Hochschule in Berlin. Es sei überhaupt noch zu früh, sich Sorgen zu machen. Erst dann, wenn der Trend bei Reproduktionszahl und Neuinfektionszahlen dauerhaft nach oben gehe, sei das angebracht, erklärte er gegenüber watson.
Auf die neuesten Maßnahmen seien die höheren R-Werte also noch nicht zurückzuführen. "Aber durchaus auf die Tage nach dem Osterwochenende. Und möglicherweise auch auf größere Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen", sagt der Experte. Die epidemiologischen Auswirkungen der Lockerungen werde man erst zwei bis drei Wochen ab Beginn der Lockerungen sehen. "In dieser Zeit hoffen wir, dass die Zahlen im Rahmen bleiben und keine Trendumkehr erfolgt."
Auch die am Wochenende erfolgten Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen hatten noch keinen Einfluss auf die gestiegenen R-Werte. Es könne aber sein, dass dies mit dem entsprechenden Zeitverzug noch sichtbar werde, meint Ulrichs.
Der Epidemiologe vergleicht die Proteste mit einem leichtsinnigen oder ignoranten Bergsteiger in einer Seilschaft, die auf einer gefährlichen Gratwanderung unterwegs ist. "Obwohl der breitere und sicherere Weg nach dem Grat schon in Sicht ist, lehnt er sich stark über den Abgrund und gefährdet die anderen gleich mit." Durch dieses Verhalten werde der breitere Weg für die ganze Seilschaft vielleicht gar nicht oder erst verzögert erreicht.
Zudem rät Ulrichs, R richtig einzuordnen. Der Wert sei nicht als einziger ausschlaggebend.
Zum Hintergrund der höheren R-Werte merkt der Epidemiologe außerdem an, dass die Zunahme relativ zu verstehen sei. "Erfreulicherweise nehmen die Neuinfektionszahlen ja weiterhin ab", so Ulrichs. "Diese niedrigen Zahlen erhöhen die Schwankungsbreite bei der Berechnung der Reproduktionszahl." Daraus folge: "Die Angabe von R wird unsicherer." Weitere Schwankungen sind in den kommenden Tagen also nicht ausgeschlossen, sollten aber zunächst nicht überbewertet werden.
Korrektur: Zunächst hatten wir geschrieben, das RKI habe R am Sonntag mit 1,3 ausgegeben. Richtig ist aber der Wert 1,13.