Ein deftiges Chaos während des Wahlsonntags beschäftigt Deutschlands Hauptstadt. In Berlin wurde am 26. September nicht nur der neue Bundestag gewählt. Auch für die künftigen Mitglieder des Abgeordnetenhauses – das ist das Berliner Landesparlament – gaben die Menschen ihre Stimme ab. Und dass gerade im politischen Berlin so viele Fehler gemacht wurden, dass nun sogar eine Anfechtung der Ergebnisse im Raum steht, gilt als beschämend für die Hauptstadt. Rechtsprofessor Christian Waldhoff von der Humboldt-Universität in Berlin bezeichnete diesen Umstand sogar als "gravierendes Demokratieproblem".
Aber was ist passiert? Und welche Konsequenzen folgen daraus? Ein Überblick:
Am großen Wahltag, dem 26. September, meldeten bereits mittags einige Wahllokale in Berlin Probleme: Beispielsweise wurden in Friedrichshain-Kreuzberg Stimmzettel aus Charlottenburg-Wilmersdorf verteilt. Einige Menschen hatten aber bereits ihr Kreuzchen gemacht – diese Stimmabgaben mussten für ungültig erklärt werden.
Außerdem sorgten extrem lange Schlangen für Ärger unter den Wählerinnen und Wählern. Dass die Menschen teilweise bis zu zwei Stunden warten mussten, soll vor allem an den Problemen mit den Stimmzetteln gelegen haben. Auch fehlende Wahlkabinen und die Tatsache, dass in Berlin gleichzeitig mehrere Wahlen stattfanden und daher eine Vielzahl an Stimmzetteln auszufüllen war, sollen Gründe für die Warteschlangen gewesen sein.
Dann, am Nachmittag, das nächste Problem: Die Stimmzettel gingen in mehreren Wahllokalen aus. Weil am selben Tag der Berlin-Marathon stattfand und deshalb einige Straßen gesperrt waren, dauerte die Nachlieferung noch einmal extra lange. Teilweise wurden Wählerinnen und Wähler sogar nach Hause geschickt.
Zu all den Pannen kam noch hinzu: Obwohl schon erste Prognosen und Hochrechnungen veröffentlicht wurden, ließen einige Wahllokale die Menschen noch weiter wählen. In einigen Wahllokalen wurden – wegen der vorab beschriebenen Probleme – Urnengänge bis teilweise nach 20 Uhr zugelassen.
Das ist insofern problematisch, als die Gleichheit der Wahl, die verfassungsrechtlich festgeschrieben ist, damit nicht vollends eingehalten wurde. In Deutschland gibt es per Bundeswahlgesetz eine Veröffentlichungssperre über das Wahlverhalten am Wahltag – und zwar bis die Wahllokale schließen. Das ist normalerweise um 18 Uhr. Menschen, die vormittags gewählt haben, könnten weniger Informationen zur Verfügung gehabt haben, als jene, die Prognosen und Hochrechnungen kannten.
Schon am Wahlabend häuften sich die Vorwürfe gegen die – nun zurückgetretene – Berliner Wahlleiterin Petra Michaelis. Vor allem Wahlhelfer kritisierten die Ehrenamtliche für die Pannen und forderten ihren Rücktritt.
Der Rechtsprofessor Christian Waldhoff schrieb beispielsweise im Internetforum "Verfassungsblog" von "professionellem Versagen" und "gravierendem Organisationsverschulden der Landeswahlleitung". Es habe in dem Wahllokal, wo er als Helfer arbeitete, viel zu wenige Kabinen gegeben, obwohl vorhersehbar gewesen sei, dass Wähler wegen fünf Stimmzetteln und sechs Stimmen deutlich mehr Zeit brauchen würden. Es habe die Gedankenlosigkeit der Organisatoren überrascht. Zum Mangel an Stimmzetteln sagte er: "Eine solche Panne ist beispiellos und unerklärbar."
Die Behinderungen bei der Stimmabgabe hätten rechtlich gesehen "den Grundsatz der Freiheit der Wahl" beeinträchtigt, so Waldhoff. Er wolle die Gültigkeit der Wahlen nicht infrage stellen, die Vorkommnisse seien aber rechts- und damit zugleich verfassungswidrig.
Michaelis aber sah zunächst keinen Grund für einen Rücktritt. Am Dienstagabend sagte sie in der RBB-"Abendschau" zwar, dass sie für die Durchführung und Organisation der Wahlen die Verantwortung trage, machte aber im nächsten Satz die Bezirkswahlämter für die Pannen verantwortlich: "Wenn da was schiefgegangen ist, dann muss ich leider sagen, sind es die Bezirkswahlämter gewesen. Aber ich will da keine Schuldzuweisungen machen, weil die Bezirkswahlämter heillos überlastetet sind."
Am Ende war es doch zu viel: Erklärungsversuche und Entschuldigungen der Landeswahlleiterin kamen offenbar nicht so an wie erhofft. Petra Michaelis stellte am Mittwoch nach der Wahl ihr Amt dann doch zur Verfügung. Der Senat möge sie nach Feststellung der endgültigen Wahlergebnisse Mitte Oktober abberufen und einen Nachfolger bestimmen, erklärte sie.
Am Mittwoch nach der Wahl werden weitere Pannen öffentlich: Der RBB berichtete von mindestens 99 Wahllokalen, bei denen auffällig viele Stimmzettel ungültig gewesen seien. Es gehe um mindestens 13.120 Stimmen. Vermutlich hätten die Wähler falsche Stimmzettel aus anderen Bezirken erhalten.
Außerdem lagen bis Mittwoch für 22 Wahlbezirke im Stadtteil Wilmersdorf noch immer keine Ergebnisse der Wahl vor. Allerdings wurden bereits Zahlen veröffentlicht, und zwar für jeden Bezirk dieselben. Wie der Bezirkswahlleiter zugegeben hatte, hatte man hier Schätzungen veröffentlicht.
Am Freitag dann der nächste Kracher: Weil das Wahlergebnis im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf sehr knapp war, hat das Wahlamt die Stimmen erneut gezählt – und tatsächlich änderte sich das Ergebnis der Direktkandidatur. Zunächst lag die SPD-Politikerin Franziska Becker mit 6441 Stimmen vor dem zweitplatzierten Grünen-Politiker Alexander Kaas-Elias (6433). Ein knapper Vorsprung also von 8 Stimmen.
Dann wurde erneut gezählt und Kaas-Elias gewann letztlich mit einem Vorsprung von 23 Stimmen.
Auf watson-Anfrage schreibt die SPD-Politikerin Becker:
Die Politikerin überlegt, ob sie das Ergebnis möglicherweise anfechten möchte. Auf die watson-Frage zu Konsequenzen nach den Pannen schrieb sie:
Sie fordere eine schonungslose Aufklärung und wenn es nötig sei, sollten ihrer Ansicht nach verantwortliche Personen die Konsequenzen ziehen. "Ich gehe davon aus, dass das nicht nur ein parlamentarisches Nachspiel haben wird. Eine externe Untersuchung wurde bereits angekündigt", schrieb sie und fügte hinzu: "Das ist die richtige Richtung. Es geht hier nicht nur um mich, sondern um die Reputation parlamentarischer Prozesse."
Die Demokratie sei ein hohes Gut, das es täglich zu verteidigen und zu "leben" gilt. Sie sei keinesfalls selbstverständlich. "Unsere Verfassung ist Ergebnis schlimmster Erfahrungen mit und Folgen der Nazi-Diktatur. Das sollten wir uns immer wieder vor Augen halten. Wir müssen die Fehler schonungslos aufklären und alles dafür tun, dass wir für das nächste Mal einwandfrei vorbereitet sind und dass sich sowas nicht wiederholt. Keinesfalls dürfen wir so tun, als sei das 'Wahlchaos' eine Bagatelle", so Becker.
Muss die Wahl nach so vielen Pannen nun wiederholt werden? Davon wird – zumindest als Ganzes – nicht ausgegangen. In einzelnen Wahlkreisen oder -bezirken könnte aber eine Neuwahl erforderlich werden, wenn sich Unregelmäßigkeiten "mandatsrelevant" ausgewirkt haben, etwa bei knappen Ergebnissen.
Die Prüfung aller Ergebnisse in den Bezirken wird wegen der 1,8 Millionen gültigen Stimmen allein bei der Abgeordnetenhauswahl Zeit brauchen. Spätestens am 14. Oktober sollte es allerdings Gewissheit geben: Dann – also bei der Sitzung des Landeswahlausschusses – wird nämlich das endgültige Ergebnis festgestellt. Und dann erst wäre auch das Wahlergebnis der Abgeordnetenhauswahl anfechtbar. In diesem Fall müsste der Verfassungsgerichtshof angerufen werden.
Bei der Bundestagswahl wäre es der Bundestag. Jedoch wies der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, darauf hin, dass nicht jeder Mangel eine Wahl ungültig mache.
(mit dpa)