Die Grünen halten dicht. Mit bemerkenswerter Disziplin hat es die Partei, die fünf Monate vor der Bundestagswahl eine realistische Siegchance zu haben scheint, hinbekommen, die Antwort auf ihre wichtigste Personalfrage geheimzuhalten: Wer wird Bundeskanzlerin, falls die Grünen die nächste Bundesregierung anführen – oder Bundeskanzler?
Es wirkt bis kurz vorher wie die perfekt geplante Inszenierung, wie das Gegenprogramm zum Hauen und Stechen zwischen CDU und CSU, zwischen den Parteichefs Armin Laschet und Markus Söder. Am Montagvormittag wollen die Grünen ihre Entscheidung bekannt geben, in einem Livestream auf der eigenen Website und über einen E-Mail-Verteiler, in den sich jeder Interessierte eintragen kann. Am Abend danach wird sie oder er dann in einem TV-Interview bei Pro Sieben zu Gast sein. Fest steht, dass es einer der beiden Grünen-Bundesvorsitzenden wird: Annalena Baerbock oder Robert Habeck.
Was spricht für sie, was für ihn? Wo liegen die Stärken und Schwächen des ehemaligen Umweltministers von Schleswig-Holstein und der früheren Landeschefin der Brandenburger Grünen?
Mal ganz grundsätzlich: Annalena Baerbock hat Bock auf Macht. Man kann das immer wieder erleben, wenn sie spricht, in Fernsehinterviews, in Talkshow-Auftritten. Oder Ende Februar 2020, beim politischen Aschermittwoch, in der baden-württembergischen Kleinstadt Biberach. Baerbock sprach in einer mit 750 schwäbischen Grünen-Anhängern gefüllten Halle. Es war einer der letzten Großtermine, bevor die Corona-Pandemie über Deutschland hereinbrechen sollte.
Annalena Baerbock sagte damals Sätze wie diesen: "Wir nörgeln nicht nur, wir packen es an, wir machen die Dinge zum Besseren!" Sie erntete danach lauten Applaus, einzelne Zuhörer jubelten sogar. Winfried Kretschmann, der erste und einzige grüne Ministerpräsident, trat nach Baerbock ans Podium und sagte zu ihr: "Wir können dir vertrauen, du wirst dieses Land gut führen."
Im Januar 2018 haben die Grünen-Delegierten auf dem Bundesparteitag erstmals Baerbock, die damals kaum jemandem als Spitzenpolitikerin galt, zur Parteichefin gewählt. Seither hat sie an politischer Wettkampfhärte, an Souveränität und rhetorischem Können gewonnen, auch im Streit mit Gegnern. Man konnte das im November 2020 sehen, als sie neben Friedrich Merz saß, damals Kandidat auf den CDU-Vorsitz und damit auch möglicher Bundeskanzler. Baerbock hielt ihm vor, nichts über die Hürden zu wissen, die Frauen im Alltag erleben. Und einmal fuhr sie ihn mit diesen Worten an: "Sie müssen jetzt mal ein bisschen zuhören."
Für Baerbock spricht auch: Sie hat sich einen Ruf als fleißige Sacharbeiterin erarbeitet. Baerbock war Teil des Verhandlungsteams der Grünen bei den Verhandlungen für eine Jamaika-Koalition mit Union und FDP im Herbst 2017. Auch Menschen, die ihren politischen Ansichten eher fern sind, haben ihr seither immer wieder Respekt für ihren Fleiß und ihre Sachkenntnis gezollt – zum Beispiel der CDU-Bundestagsabgeordnete und frühere Bundesinnenminister Thomas de Maizière, der sie im Sommer 2020 in einer Episode des Podcasts "Alles gesagt" von "Zeit Online" ausdrücklich lobte.
Dazu kommt ein offensichtlicher Faktor: Baerbock ist eine Frau. Macht sie es, dann ist sie die einzige aussichtsreiche Kandidatin auf die Nachfolge Angela Merkels – im Dreikampf gegen Olaf Scholz (SPD) und Söder oder Laschet für die Union. Silke Mertins, Autorin für die linke Zeitung "taz", hat sich in einem Kommentar zwar gegen Baerbock ausgesprochen, aus feministischer Perspektive, weil das Frausein allein eben kein Grund für Baerbock sein dürfe. Aber es wäre für die Partei, die schon in den 1980er Jahren als erste bedeutende politische Kraft eine strenge interne Frauenquote festgelegt hat, warum sie jetzt auf diese realistische Chance verzichtet: zum ersten Mal eine grüne Bundeskanzlerin zu stellen.
Es gibt ein gewichtiges Argument gegen Baerbock: Sie hat keine Regierungserfahrung. Würde sie Bundeskanzlerin, dann wäre sie der erste Mensch seit 1949, der das mächtigste Regierungsamt erreicht, ohne vorher zumindest ein Ministerium auf Bundes- oder Landesebene geleitet zu haben. Die fehlende Erfahrung ist keine Kleinigkeit: Zu wissen, wie man ein Ministerium oder eine Behörde mit hunderten oder tausenden Mitarbeitern leitet, das ist eine enorm wertvolle Vorerfahrung für jemanden, der den wichtigsten und kompliziertesten politischen Job Deutschlands antritt.
Robert Habeck hat Regierungserfahrung. Er hat das Umweltministerium in Schleswig-Holstein geleitet, rund sechs Jahre lang, von 2012 bis zum Sommer nach seiner Wahl zum Parteichef 2018. Habeck hat in Kiel Erfolge bei Themen erreicht, die Grünen besonders wichtig sind: beim Ausbau der erneuerbaren Energien, der in seiner Amtszeit einen deutlichen Sprung nach vorne gemacht hat und bei der Förderung der ökologischen Landwirtschaft.
Und Habeck scheint momentan der populärere Kanzlerkandidat als Baerbock zu sein, zumindest in der Gesamtbevölkerung. Darauf deuten mehrere Umfragen hin, unter anderem das ZDF-"Politbarometer" vom Freitag vor der Entscheidung der grünen K-Frage: Demnach glauben 42 Prozent der Befragten, die Grünen könnten mit Habeck ein besseres Ergebnis erreichen, bei Baerbock glauben das nur 29 Prozent.
Solche Werte können sich im Wahlkampf natürlich noch deutlich verändern – und entscheidend dafür, wer die Wahl gewinnt, ist am Ende nur eines: Welche Partei oder Parteienfamilie deutschlandweit die meisten Zweitstimmen bekommt.
Dass Habeck erfolgreiche Wahlkämpfe bestreiten kann, das hat er grundsätzlich aber auch schon bewiesen. 2019, vor den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen tourte er durch Ostdeutschland, sprach unter anderem auf Plätzen, an deren Rand Rechtsradikale standen, die versuchten, ihn niederzubrüllen. Und zumindest in Sachsen und Brandenburg holten die Grünen danach Achtungserfolge – und sind nun in beiden Ländern Teil der Landesregierung.
Robert Habeck gilt andererseits aber auch als Weitdenker: als jemand also, dem es weniger um knackige Forderungen und schlagzeilentaugliche Zitate geht – und mehr um eine Vision davon, wie die Welt morgen und übermorgen aussehen soll. Er wirft gerne Forderungen wie diese in die Welt: "Selbstkritik und Selbstreflexion, um Selbstkritik und Selbstreflexion durchzusetzen". Er schreibt Bücher über eine gerechtere Wirtschaftsordnung und über grüne Heimatliebe. Manche, wie der grüne Europapolitiker Daniel Cohn-Bendit und der linke Politikwissenschaftler Claus Leggewie sind überzeugt, dass ein begabter Nachdenker wie Habeck der beste Bundeskanzler wäre.
Christian Lindner, Vorsitzender der FDP, hat Habecks Stil dagegen einmal "cremig" genannt, weich, anschmiegsam, angenehm, aber eben ein bisschen zu wenig konkret für die Probleme des 21. Jahrhundert. Lindner sagte das 2018 in der Talkshow "Anne Will", Habeck saß neben ihm. Er fand das gar nicht lustig, reagierte beleidigt. Womit wir bei Habecks größter Schwäche wären: Er hat sich nicht immer im Griff.
Da wären die grenzwertigen Wahlkampf-Tweets, die er versendet hat, als er noch bei dem Kurznachrichtendienst angemeldet war: 2019, vor der Landtagswahl in Thüringen, forderte er, die Wähler sollten dafür sorgen, dass das Bundesland ein "offenes, freies, liberales, demokratisches Land wird“. Und 2018, vor der Wahl in Bayern, wünschte er sich, dass "endlich wieder Demokratie herrscht im Freistaat". Habeck hat sich für beide Äußerungen entschuldigt. Und er hat, merklich zerknirscht, Anfang 2019 seine Accounts bei Twitter und Facebook gelöscht.
Aber auch in traditionelleren Medien sind Habeck immer wieder peinliche Aussetzer passiert: 2019 in einem ARD-Interview, in dem er bewies, wenig Ahnung davon zu haben, wie die Pendlerpauschale funktioniert. Und im Sommer 2020, als er falsch beschrieb, worum sich die Finanzaufsichtsbehörde Bafin kümmert.
Für einen Kanzlerkandidaten können solche Fehler fatal sein.