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Russlands Krieg in der Ukraine: Das steckt hinter den Evakuierungen aus Cherson

20.05.2022, Ukraine, Cherson: Ein russischer Soldat bewacht einen Verwaltungsbereich des Chersonwodokanals (Wasserkanal). Die Region Cherson steht seit den ersten Tagen der russischen Milit
Ein russischer Soldat bewacht einen Wasserkanal in Cherson.Bild: dpa / Uncredited
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"Russland will die ukrainische Ethnie ausrotten" – das steckt hinter Chersons Evakuierung

Kriegsrecht und Deportationen: Putins Entscheidungen wirken, als würden sie immer panischer gefällt. Ein Überblick in vier Punkten.
21.10.2022, 16:35
Dennis Frasch / watson.ch
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Die Lage in der Ukraine ist derzeit unübersichtlich. Während sich die ukrainische Regierung gezwungen sieht, im ganzen Land Stromabschaltungen durchzuführen, scheinen sich die Russen fast schon panisch aus der Großstadt Cherson an der Südfront zurückzuziehen. Die Zivilbevölkerung nehmen sie dabei gleich mit.

Was das alles zu bedeuten hat und wie es jetzt weitergehen könnte.

Russland bereitet sich auf weitere Niederlage vor

Die militärische Lage wird immer brenzliger für die Russen. Nach riesigen Verlusten an der Ostfront rund um Charkiw scheinen sich die Truppen an der Südfront auf eine weitere Niederlage vorzubereiten.

Ungewöhnlich offen warnen russische Militärs und die Fernseh-Propaganda vor einer heftigen Niederlage in Cherson. Wichtige Kommandostellen wurden bereits vor zwei Wochen in den Süden von Cherson verlegt. Am Mittwoch folgten alle militärischen und zivilen Behörden. Laut Informationen des "Institute for the Study of War" (ISW) will Moskau das ganze rechte Ufer des Dnipro evakuieren. Mit der offenen Kommunikation wolle man die Bevölkerung zu Hause auf einen kompletten Rückzug der Stadt einstellen. Russland warnt bereits seit Tagen vor einer Großoffensive der ukrainischen Truppen.

In der politischen Talkshow "60 Minuten" im russischen Staatsfernsehen warnte der Korrespondent Alexander Kots zudem, dass es in den nächsten zwei Monaten "keine guten Nachrichten" geben werde. Die russischen Truppen würden herbe Verluste einstecken müssen.

Ungewohnt scharfe Kritik kam auch von der Moderatorin der Sendung, Olga Skabejewa. Die Hardlinerin fragte verbittert, wie Russland sich so täuschen konnte. "Wieso haben wir uns zu Beginn unserer militärischen Spezialoperation nicht genügend vorbereitet? Wieso dachten wir, Selenskij würde abhauen und die Nato der Ukraine nicht helfen?"

Während Moskau eindringlich vor einer Großoffensive rund um Cherson warnt, schweigt die Führung in Kiew. Bisher steht die Front auch noch, die russischen Truppen scheinen sich in gut ausgebauten Stellungen verschanzt zu haben. Die durch Russland platzierte Regionalverwaltung der Region spricht aber bereits von Angriffen mehrerer hundert Soldaten nordöstlich von Cherson.

Wie die NZZ berichtet, ist ein Großangriff der Ukrainer aber alles andere als sicher. Er stünde im völligen Widerspruch zur bisherigen Taktik, denn: Die zahlenmäßig unterlegenen Ukrainer haben urbane Kämpfe bisher tunlichst vermieden. Gegen einen überhasteten Angriff spreche auch, dass die Brücken über den Dnipro durch ukrainischen Beschuss praktisch unpassierbar gemacht wurden. Die Ukrainer könnten sich also Zeit lassen.

Wie das britische Verteidigungsministerium auf Twitter verlauten ließ, müssten sich die russischen Truppen höchstwahrscheinlich stark auf eine temporäre Brücke aus Lastkähnen verlassen, die nahe Cherson kürzlich fertiggestellt wurde, sowie auf militärische Ponton-Fähren. Diese befänden sich jedoch alle in Reichweite der ukrainischen Artillerie.

Zivilisten werden nach Russland deportiert

Dennoch führt Moskau seinen Rückzug fort. Der von Russland eingesetzte Verwalter Wladimir Saldo kündigte am Mittwoch an, bis zu 60.000 Menschen in den nächsten Tagen aus Cherson "evakuieren" zu wollen. Die Menschen sollen zum Teil nach Russland gebracht werden. Die Aktion solle dem Schutz der Zivilisten dienen, heißt es von russischer Seite.

Die Besatzungsverwaltung rief die Menschen auf, sich am Hafen von Cherson einzufinden. Von dort verkehrten tagsüber kleine Dampfer ans linke Ufer. "Jede Person darf 50 Kilo Gepäck mitführen", hieß es in der Information. "Tiere dürfen mitgenommen werden." Auf Videos ist zu sehen, wie sich am Hafen lange Schlangen bilden. Bereits 7000 Menschen sollen umgesiedelt worden sein.

Sowohl westliche Akteure als auch die ukrainische Führung sprachen derweil von Deportationen der ukrainischen Bevölkerung. Russland ziehe eine "Propagandashow" durch, hieß es aus Kiew.

Präsidialamtschef Andrij Jermak sprach von Falschnachrichten, mit denen Russland die Einwohner verängstigen wolle. "Die Russen versuchen, die Einwohner von Cherson mit Falschnachrichten über den Beschuss der Stadt durch unsere Armee einzuschüchtern, und veranstalten außerdem eine Propagandashow mit Evakuierungen", schrieb er auf Telegram.

Auch das ISW sieht die Evakuierung als Vorwand für die massenhafte Zwangsumsiedlung von Zivilisten. In einem Update schrieb der Think-Tank:

"Russland scheint keinen wirtschaftlichen Nutzen aus der Umsiedlung Zehntausender unwilliger Ukrainer nach Russland zu ziehen. Das deutet darauf hin, dass der Zweck solcher Abschiebungen einerseits darin besteht, die langfristige wirtschaftliche Erholung der Ukraine bei der Rückeroberung ihres Territoriums zu beeinträchtigen. Andererseits – was noch wichtiger ist – Russlands ethnische Säuberungskampagne zu unterstützen, mit der versucht wird, die ukrainische Ethnie und Kultur auszurotten."

False-Flag-Angriff auf großes Wasserkraftwerk

Während russische Streitkräfte sich überhastet aus Cherson zurückziehen, wird es in der ganzen Ukraine dunkel. Russland überzieht die Ukraine seit anderthalb Wochen mit großflächigen Angriffen und zielt dabei insbesondere auf die kritische Infrastruktur des Nachbarlandes. Nach jüngsten Angaben der Regierung in Kiew sind durch Raketen und Drohnen mittlerweile rund 40 Prozent der ukrainischen Energie-Infrastruktur beschädigt.

Am Donnerstag kam es deswegen zu Stromabschaltungen im ganzen Land. Die gesamte Bevölkerung wurde aufgefordert, zwischen 7 und 22 Uhr möglichst wenig Strom zu verbrauchen. Zugleich gab es Appelle, Powerbanks, Batterien und Taschenlampen bereitzuhalten.

Ein weiterer Schlag gegen die Energie-Infrastruktur könnte in Form einer False-Flag-Attacke kommen. Der Oberkommandierende der russischen Truppen im Ukraine-Krieg, General Surowikin, sprach am Dienstag von einem vermeintlichen ukrainischen Angriff auf das Wasserkraftwerk Kakhowka. Dieses liegt wenige Kilometer östlich von Cherson am Dnipro. Surowikin beschuldigte Kiew, den Damm des Wasserkraftwerks Kakhowka angreifen zu wollen. Dies würde zu zerstörerischen Überschwemmungen in der Oblast Cherson führen.

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Das Wasserkraftwerk Kakhowka in der Nähe von Cherson.Bild: www.imago-images.de / imago images

Westliche Akteure sehen darin eine Aktion unter falscher Flagge. Mit den Warnungen könnten russische Streitkräfte den Staudamm beschädigen und dies anschließend den Ukrainern in die Schuhe schieben. Die Russen könnten die Überschwemmungen nutzen, um Zeit zu gewinnen und ihren eigenen Rückzug gen Süden weiter zu legitimieren.

Putin ruft den Kriegszustand aus

Russlands Präsident Wladimir Putin versucht derweil mit allen Mitteln, seine Macht in den besetzten Gebieten der Ukraine zu sichern. In der Nacht auf Donnerstag sind zwei Dekrete Putins in Kraft getreten. Seither gilt in den ukrainischen Gebieten Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson das Kriegsrecht. In Russland gilt hingegen eine Art "Kriegsrecht light", ein ominöser Zustand der Alarmbereitschaft, der in Abstufungen in ganz Russland gelten soll.

Das russische Kriegsrecht erlaubt eine Reihe massiver Eingriffe in die persönliche Freiheit. So gelten etwa eine Sperrstunde und Militärzensur: Es werden Kontrollpunkte eingerichtet und Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt. Möglich sind auch Festnahmen von bis zu 30 Tagen, die Beschlagnahmung von Eigentum, die Internierung von Ausländern, Zwangsumsiedlung in andere Gebiete sowie Reisebeschränkungen für russische Staatsbürger ins Ausland.

"Putin will eine Rechtsgrundlage für eine allgemeine Mobilmachung in diesen annektierten Regionen schaffen", begründet Sicherheitsexperte Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck diesen Schritt. Die russische Armee stehe unter großem Druck, Verluste in den eigenen Reihen auffüllen zu müssen. "Russland braucht dringend Manpower."

Ob die Zwangsrekrutierung ukrainischer Männer reichen wird, um die nächste große Niederlage in Cherson abzuwenden, ist anzuzweifeln. Der Rückzug der russischen Armee deutet darauf hin, dass man im Kreml selbst daran zweifelt.

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