Seit Wochen kocht die Gerüchteküche über eine große Gegenoffensive der Ukraine. Vor allem in den sozialen Medien wird das Thema heiß diskutiert. Videos und Fotos von unzähligen marschierenden Soldaten, Bau von Schützengräben, Waffenlieferungen – all diese Aufnahmen heizen die Gerüchte weiter an. Ihre Echtheit kann oftmals nicht unabhängig geprüft werden.
Laut Medienberichten ist es keine Frage mehr, ob der große Gegenangriff kommt, sondern wann und wo er stattfinden wird.
Auch Konfliktbeobachter Nikita Gerasimov von der Freien Universität Berlin ist sich sicher: "Die ukrainische Frühlingsoffensive kommt. Das gilt auf allen Seiten der Front weitgehend als sicher." Auf watson-Anfrage sagt er, dass gerade in der Ukraine die Erwartungen für die Gegenoffensive extrem hoch seien.
Laut Gerasimov wurde die ukrainische Bevölkerung von Medien und Politik auf eine erfolgreiche Gegenoffensive so kompromisslos eingestimmt, dass es für die Regierung eigentlich keine andere Chance gibt, als diese zu starten.
Ihm zufolge wird auch im Westen die ukrainische Gegenoffensive in diesem Frühling weitgehend als ein "Muss" betrachtet. Der Konfliktbeobachter führt aus, dass schon mehrfach ukrainische Vertreter:innen, darunter etwa der Geheimdienstchef Kyrylo Budanov, erklärt haben, dass man gegenüber dem Westen eine Offensive de facto "schuldet".
Aber warum?
Gerasimov zufolge waren die Rüstungslieferungen in der vergangenen Zeit so immens, dass ein Ausbleiben der Offensive zu hohe Vertrauensschäden bedeuten könnte. Er sagt dazu:
Aber auch Russland beobachtet die Entwicklung auf ukrainischem Boden wohl haargenau.
Laut Gerasimov rechnen die Russen ebenfalls mit einer Gegenoffensive. "Sie bereiten sich dementsprechend mit der Errichtung von Befestigungsanlagen darauf vor", erklärt er. Zudem warnte kürzlich "Wagner"-Chef Jewgeni Prigoschin vor einer Gegenoffensive der ukrainischen Armee. Auch sorgte er für Wirbel, als er in einem Blogeintrag für ein Kriegsende plädierte.
Ukrainische Medien verwiesen auf den Blogeintrag des 61-Jährigen, in dem es heißt: "Für die Staatsmacht und für die Gesellschaft ist es heute notwendig, irgendeinen dicken Punkt hinter die militärische Spezial-Operation zu setzen." Laut "The Sun" fürchtet sich Prigoschin offenbar vor der Gegenoffensive.
Im Bericht heißt es, dass Prigoschin davor warnt, dass die Gegenoffensive die russischen Linien durchbrechen könnte. Die Ukraine hat laut Prigoschin eine Reserve von 200.000 Mann aufgebaut. Laut "The Sun" fügt er hinzu:
Auf der anderen Seite führt Prigoschin in seinem Blogeintrag aus, dass die ukrainischen Truppen nach und nach schwächer würden, je öfter die Selenskyj-Regierung die Offensive verschiebt. Er zieht das Handeln der Ukraine sogar ins Lächerliche und schreibt: "Wie man so schön sagt, 'ein Esel, der im Schatten gestanden hat, wird in der Sonne nicht funktionieren'."
Gerasimov weist daraufhin, dass es mittlerweile aus allen Ecken des russischen Mediensegments tönt, dass eine große, vielleicht sogar entscheidende, Offensive der Ukraine demnächst bevorsteht. Die Frage sei aber, wann sie eintritt. Dem Experten zufolge kam es auf ukrainischer Seite diesbezüglich zu widersprüchlichen Angaben.
"Mal hieß es, man sei dafür noch nicht bereit und werde es erst im Sommer machen können. Nur wenige Tage später hieß es, man werde die Offensive 'in Kürze' starten", erklärt Gerasimov. In Russland betrachte man dieses Hin-und-Her als einen Teil der ukrainischen (Des-)Informationskampagne, um den wahren Zeitpunkt der Offensive maximal zu verschleiern.
Zuletzt veröffentlichten US-Medien die Einschätzung, dass die Offensive am 30. April startet. "Mit solchen taggenauen Einschätzungen sollte man immer vorsichtig sein, so ganz unwahrscheinlich scheint dieses Datum aber nicht", meint der Experte.
Einige Kriegsreporter:innen schätzen laut ihm, dass die ukrainische Offensive bis zum 9. Mai starten müsste. "Auch aus meiner Sicht spricht dafür vieles, allen voran der symbolpolitische Aspekt. Am 9. Mai feiert Russland den 'Tag des Sieges', einen der wichtigsten Nationalfeiertage", betont Gerasimov.
Für Kiew wäre es der absolute "symbolpolitische Jackpot", bis zum 9. Mai massiv zuzuschlagen, meint der Experte. Dies wurde ihm zufolge zuletzt auch unmissverständlich von ukrainischen Vertreter:innen so kommuniziert. Brisant: Wladimir Putin sagt teilweise das Siegestag-Event in Moskau ab.
Ob die ukrainische Großoffensive aber tatsächlich an diesem Tag startet, hängt Gerasimov zufolge von vielen – teils banalen – Faktoren ab, wie etwa vom Wetter. "Auch ob die Böden im Donbass bis dahin einigermaßen trocken und für schwere Technik befahrbar sind. Im Moment sind weite Territorien nur Matsch und Schlammbrühe", sagt der Konfliktbeobachter. Doch die ukrainischen Soldat:innen sind offenbar bereit für den großen Gegenschlag.
In den sozialen Medien zeigen sich viele ukrainische Soldat:innen siegessicher – dabei senden sie immer wieder doppeldeutige Botschaften Richtung Russland, welche auf die kommende Gegenoffensive hinweisen könnten. So auch die Soldatin Sarah Ashton-Cirillo.
Auf Twitter teilt sie ihren Alltag aus den ukrainischen Schützengräben. Die US-Amerikanerin hat sich als Kriegssanitäterin den ukrainischen Streitkräften angeschlossen. Dem Anschein nach ist sie sich sicher, dass die Ukraine siegen wird. So twittert sie jüngst: "Natürlich lächle ich. Die Ukraine hat bereits gewonnen."
Kurz darauf postet sie ein Foto von sich mit der Kampfansage: "Wenn wir angreifen, wird die Russische Föderation fallen." Sie berichtet, dass sie nach einem viertätigen intensiven Training nun zurück in Position stehe – bereit für den großen Angriff?
Während sich Ashton-Cirillo optimistisch gibt, hegen die USA offenbar Zweifel am Erfolg der großen Gegenoffensive. Das soll der Pentagon-Daten-Leak zeigen. Laut "Washington Post" glauben die USA, dass Kiew seine Ziele "weit verfehlen" wird.
Grund: kritische Schwächen in der Flugabwehr und erhebliche Mängel bei der Versorgung sowie Truppenaufstellung. Am letzten Punkt arbeitet der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wohl schon.
"Zusammen mit allen unseren Verteidigungs- und Sicherheitskräften kämpfen die Grenzsoldaten an der Front, auch in den schwierigsten Gebieten", sagt Selenskyj in seiner abendlichen Videoansprache.
Weiter heißt es: "Wir bereiten auch neue Einheiten – Grenzschutzeinheiten – darauf vor, sich unseren aktiven Operationen anzuschließen, sich der Bewegung anzuschließen, die wir nach und nach entwickeln."