Aufschrei in der Welt der Journalistinnen und Journalisten: Die Ippen-Investigativ-Redaktion recherchiert monatelang zu möglichem Fehlverhalten des "Bild"-Chefredakteurs Julian Reichelt – und kurz vor der Veröffentlichung stoppt der Großverlag Ippen die Publikation. In dem Bericht, der offenbar am Sonntagabend auf sämtlichen Portalen der Ippen-Verlagsgruppe – dazu zählen auch die "Frankfurter Rundschau" und das Online-Portal "Buzzfeed" – erscheinen sollte, wollten die Journalistinnen und Journalisten neue Details über Reichelts mutmaßlichen Machtmissbrauch veröffentlichen.
Doch so weit kam es nicht. Laut einem öffentlichen Brief der Recherchierenden hat offenbar Mehrheitsgesellschafter Dirk Ippen (81) die Publikation verhindert. Gründe für das Verleger-Veto wurden keine genannt.
Den Journalistinnen und Journalisten zufolge sei die Recherche über Monate hinweg auch von Justitiaren begleitet worden. "Wir haben nach allen Standards der investigativen Recherche gearbeitet und wasserdichte, zur Veröffentlichung geeignete, neue und exklusive Informationen recherchiert", steht in dem Brief der Investigativ-Redaktion.
Obwohl die Recherche nicht veröffentlicht wurde, hat der Medienkonzern Axel Springer auf die neuen Vorwürfe reagiert und "Bild"-Chef Reichelt noch am Montag von seinen Aufgaben entbunden. In einer Pressemitteilung heißt es dazu:
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Pressefreiheit, die im Deutschen Grundgesetz im Artikel 5 verankert ist:
Wie frei ist die freie Presse wirklich? Wo gibt es Abhängigkeiten? Wer nimmt Einfluss?
Dass manche Themen in bestimmten Medien nicht bearbeitet werden, ist kein Geheimnis. Oft werden gewissen Zeitungstiteln gewisse politische Richtungen zugeschrieben. Das zeigt sich dann vornehmlich in der Kommentarspalte. Doch auch die Themenauswahl, die Art der Berichterstattung oder die Themengewichtung lassen häufig politische Ansichten durchschimmern.
Private Medienanbieter, also nicht öffentlich rechtliche, können sich nicht nur auf Einnahmen durch Abonnements verlassen. Sie sind auf das Werbegeschäft angewiesen. Verleger und Anzeigenabteilung könnten also Sorge haben, mögliche Kunden mit negativer Berichterstattung abzuschrecken.
Allerdings sollten sich Journalistinnen und Journalisten genauso wie Medienhäuser im Sinne des Pressekodex verhalten. Ein selbst auferlegtes Regelwerk, sozusagen eine Sammlung journalistisch-ethischer Grundregeln. Hier ist auch der Grundsatz der Trennung von Verlag und Redaktion verankert.
Wie frei sind die Medien in Deutschland wirklich? Das hat watson den Chef des Deutschen Journalisten-Verbands (DJV), Frank Überall, gefragt.
Und dieser sagt, man müsse die Frage nach der freien Presse differenziert betrachten. "Natürlich sind Medienbetriebe, sogenannte Tendenzbetriebe", sagt er. "Wenn ich für die 'taz' schreibe, weiß ich, was mich erwartet. Wenn ich für die 'FAZ' schreibe, weiß ich auch, was mich erwartet. Das sind unterschiedliche Grundeinstellungen und Grundüberzeugungen, die zumindest in der Kommentierung eine große Rolle spielen."
Grundsätzliche professionelle Standards dürften dadurch aber nicht infrage gestellt werden. Überall meint damit auch die Trennung zwischen Anzeigenabteilung und Redaktion. "Da darf man auch auf große Lebensmitteldiscounter keine Rücksicht nehmen und beispielsweise nicht mehr gegen die recherchieren." Kern des Journalismus sei die Glaubwürdigkeit – eine Einflussnahme durch die Anzeigenabteilung oder den Verleger würde diese hochgradig gefährden. "Das ist das Wichtigste, was wir als Journalistinnen und Journalisten zu bieten haben: glaubwürdige Berichterstattung."
Auch auf Twitter veröffentlichte die Journalisten-Gewerkschaft ein Statement zur aktuellen Debatte:
Überall war "sehr erschrocken" über das Verhalten von Dirk Ippen. "Das geht gar nicht", sagt er. Und warum? Hätte es tatsächlich rechtliche Bedenken bei dieser Recherche gegeben, wäre ein Einwand in Ordnung gewesen, so Überall. Aber auch nur, wenn geschaut würde: Wie berichtet man über dieses Thema? Müsste an bestimmter Stelle noch einmal nachrecherchiert werden? "Dass die Frage des Ob überhaupt gestellt wird – das finde ich äußerst problematisch."
Ein Unternehmenssprecher der Ippen-Verlagsgruppe habe allerdings bestätigt, dass es zumindest keine rechtlichen Einwände gegeben habe. "Darunter leidet der Ruf der entsprechenden Medien aus dem Hause. Das ist aber auch dazu geeignet, den Journalismus insgesamt zu beschädigen", sagt Gewerkschaftschef Überall.
Dass in diesem Maße in die redaktionelle Berichterstattung eingegriffen wird, ist laut dem Gewerkschaftschef allerdings ein Einzelfall. Das sehe man allein an der Tatsache, dass es momentan solch eine Empörung über diesen Fall gebe. Er sagt aber auch: "Ich bin heilfroh, dass ich freier Journalist bin, also freiberuflich für verschiedene Redaktionen arbeite. Und natürlich habe ich immer mal wieder Redaktionen, die aus irgendwelchen Gründen oder ohne Begründung Themen ablehnen. Dann biete ich diese eben woanders an."
DJV-Chef Frank Überall betont im watson-Gespräch noch einmal den Mut der Ippen-Journalistinnen und -Journalisten:
Dieser Grundsatz, die Gewinnerzielungsabsicht vom journalistischen Geschäft zu trennen, sei elementar. "Denn sonst ist es ein Werbeblättchen. Wenn man nur noch freundlich berichtet über diejenigen, die Anzeigen schalten, dann hat das nicht mehr viel mit Glaubwürdigkeit zu tun."
Klar gebe es viele Anlässe, um positiv beispielsweise über Unternehmen zu berichten. Aber: "Wir sind alles Menschen und wir machen auch Fehler. Das gilt auch für Unternehmen und das gilt auch für Behörden." Wie Medien letztlich über den Anzeigenverkauf unter Druck gesetzt werden könnten, zeige sich auch in Österreich oder der Türkei, "wo wirklich nur noch Medien, die willfährig berichten, dann entsprechend überhaupt noch Anzeigen bekommen".
Überall sieht die Verantwortung nicht nur bei den Medien selbst: "Das ist auch eine Verantwortung der Unternehmen und Behörden, das nicht als Erpressungsmittel einzusetzen." Verlage und Sender hätten allerdings auch die Verantwortung, sich entsprechend dagegen zu wehren "und dann auch zu sagen: 'Notfalls verzichten wir dann lieber auf eine Anzeige'". In Zeiten, in denen es mit der Refinanzierung journalistischer Produkte nicht so gut stehe, sei aber auch dies "eine enorme Herausforderung".
Gleichzeitig müsse im Zusammenhang mit diesem Vorfall auch der Fokus darauf gerichtet werden, dass "wir eine Medienvielfalt brauchen". "Das haben wir in vielen Kreisen in der Republik nicht mehr." Dass es an vielen Orten keine redaktionelle Konkurrenz mehr gebe, lediglich eine Lokalzeitung vorhanden sei – "das halte ich für eine ganz schwierige Entwicklung".
Misstrauen gegenüber dem Journalismus, Ausdrücke wie "gleichgeschaltete Medien" – nicht nur in rechten Lagern wird darüber heiß diskutiert. Auch Intellektuelle, Politikerinnen und Politiker kritisieren die immer kleiner werdende Vielfalt in der Medienlandschaft. Der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier äußerte sich 2014 zu diesem Thema: