Mitte April, als in Europa noch täglich steigende Zahlen zur Entwicklung des Coronavirus verkündet wurden, sah es in Israel ganz anders aus: Die Zahl derjenigen, die eine Virusinfektion überstanden hatten, lag über der Zahl der Neuinfektionen, die Zahl derjenigen, die auf intensivmedizinische Versorgung angewiesen waren, sank ebenfalls. Am 27. April meldete die regierungskritische "Haaretz": "Israelische Krankenhäuser beginnen damit, ihre Coronavirus-Stationen zu schließen." Israel, so schien es, hatte das Virus im Griff.
Gut neun Wochen später ist die Lage dramatisch schlimmer. Am Freitag hatte die Zahl der Neuinfektionen binnen 24 Stunden erstmals die Marke von 1000 überschritten – in Deutschland waren es am selben Tag 446 neue Ansteckungen. Welche Dimension diese Zahlen haben, macht ein Blick auf die Bevölkerungszahlen der beiden Staaten klar: In Deutschland leben gut 83 Millionen Menschen – in Israel sind es nur rund 9 Millionen.
In Zeiten, in denen in Deutschland über das Ende der Maskenpflicht diskutiert wird, die von manchen offenbar als nicht mehr nötige Zumutung betrachtet wird, muss die Entwicklung in Israel eine Warnung für uns sein. Vor allem, weil Israel ähnlich wie Deutschland lange als erfolgreich im Kampf gegen Corona galt.
Regierungschef Benjamin Netanjahu sprach nun am Sonntag von einer Notstandslage. Er sagte: "Wenn wir die Ausbreitung des Coronavirus nicht stoppen, werden wir weder Gesundheit noch Wirtschaft haben und es wird viele Bürger des Staates Israel ihr Leben kosten."
Professor Eli Waxman vom Weizmann-Institut für Naturwissenschaften, einer der Chefberater der israelischen Regierung in Sachen Coronavirus, sprach am selben Tag in einem TV-Interview von einem "Kontrollverlust" und warnte:
Die unabhängige Tageszeitung "Times of Israel" schrieb am Montag gar von einem "Covid-Chaos", dass das Land heimsuche.
Was ist schiefgelaufen in Israel? "Haaretz" macht in einer umfangreichen Analyse mehrere Fehler aus:
"Haaretz" führt in ihrer Analyse noch weitere Fehler an, die vor allem im Umgang der Regierung mit dem Virus liegen. So fehle es an Informationen und Transparenz, Daten würden nicht in ausreichendem Umfang gesammelt und zugänglich gemacht, es fehle an Austausch zwischen den einzelnen Ministerien.
Dazu komme, dass das Krisenmanagement in Israel viel zu zentralisiert laufe – die Entscheidungsfindung würde nur "von einer Handvoll von Experten" beeinflusst und liege ausschließlich beim Gesundheitsministerium.
Professor Waxman sagt, es fehle eine "effiziente und funktionierende Ermittlungseinheit". Eine solche könne die Fähigkeiten herstellen, "Daten zu sammeln und Infektionsketten schnell zu unterbrechen". Er empfahl, dafür das israelische Militär hinzuzuziehen. "Das wird nur in effizienter Art und Weise funktionieren, wenn die Armee innerhalb des Gesundheitsministeriums wieder die Kontrolle übernimmt." Zudem forderte Waxman, sofort zum Social Distancing zurückzukehren. "Wir müssen alle Versammlungen von mehr als 20 Menschen unterbinden, dazu sämtliche Sozialen- und Freizeitaktivitäten.
Mehr Tests, mehr Social Distancing, Einhalten von Corona-Verhaltensregeln – diese Forderungen teilt Heiko Becher, Abteilungsleiter der Epidemiologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.
Im Gespräch mit watson sagte Becher mit Blick auf die Lage in Israel: "Auf jeden Fall ist zu empfehlen, viel zu testen, und die allgemeinen Verhaltensregeln, etwa das Tragen von Masken in öffentlichen Innenräumen, sollten beibehalten werden."
Ob ein Szenario wie das aus Israel auch Deutschland droht, lässt sich Becher zufolge noch nicht abschätzen. Er sei zwar aktuell optimistisch, "dass sich die Mehrheit der Deutschen weiter verantwortungsvoll verhält", sodass die Zahlen in nächster Zeit nicht wieder ansteigen und möglicherweise weiter zurückgehen.
"Aber wie es im Herbst sein wird, wenn sich die Bevölkerung aufgrund des Klimas wieder mehr in Innenräumen aufhält, wo die Übertragungswahrscheinlichkeit höher ist, das kann man nicht voraussagen", so Becher zu watson.
Damit der Herbst das Virus nicht zurückbringt, müssen die Bundesländer in Deutschland Fehler, wie sie in Israel gemacht worden sind, vermeiden.
Nimmt man etwa die Notwendigkeit zur schnellen Kontaktverfolgung, hat sich in den Ländern einiges getan – dank Corona-Warnapp ist die Bundesrepublik hier besser aufgestellt, als das noch zu Beginn der Pandemie der Fall war. Charité-Virologe Christian Drosten sieht in der App ein wichtiges Werkzeug. In der 50. Folge seines "Coronavirus Update"-Podcasts sagte Drosten: "Je besser wir das (Kontaktverfolgen, d. Red.) hinbekommen, desto länger können wir den aktuellen Zustand aufrechterhalten, und eine Tracking-App ist hierbei ein entscheidendes Werkzeug."
Eine Studie im Auftrag der Expertengruppe "Exemplars in Global Health", an der das Robert-Koch-Institut mitgearbeitet hat, heißt es zu dem Punkt: "Die größte Baustelle im Bereich der Kontaktverfolgung liegt bei der Mitarbeiterzahl in den lokalen Gesundheitseinrichtungen." Entsprechend müsste Deutschland, will es ein Szenario wie das in Israel vermeiden, hier aufstocken. Aktuell wird dies zwar geleistet über spezielle ausgebildete Medizinstudenten und Soldaten der Bundeswehr – bis zum Herbst sollten hier die Kapazitäten weiter erhöht werden.
In Sachen Schulschließungen hat zuletzt der Fall Tönnies gezeigt, dass die Landesregierungen zu schmerzhaften Entscheidungen in der Lage sind. Nach dem Ausbruch in einer Schlachtfabrik schloss NRW die Schulen im Kreis Gütersloh am 18. Juni für den Rest des Schuljahres. Im ebenfalls in NRW gelegenen Wuppertal war der Unterricht an ein zwei Grundschulen nur wenige Tage nach Rückkehr zum Regelbetrieb wieder vorbei. Die Stadt schloss die Einrichtungen, nach dem Schüler positiv auf das Virus getestet worden waren.
Virologe Christian Drosten hatte mit Blick auf Schulöffnungen angemahnt, die Politik müsse sich Gedanken machen, wie eine zweite Welle im Herbst verhindert werden kann. Die beste Option sei hier ausgiebiges Testen.