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Russland: Politologe spricht über Ende der Macht von Wladimir Putin

Russian President Vladimir Putin speaks with employees of the Magnitogorsk Iron and Steel Works company in Magnitogorsk, Russia, Wednesday, July 16, 2025. (Alexander Kazakov, Sputnik, Kremlin Pool Pho ...
Die Macht des russischen Präsidenten Wladimir Putin ist anfälliger als sie scheint.Bild: Pool Sputnik Kremlin / Alexander Kazakov
Interview

"Was wird Putin zu Fall bringen?" – ein Politologe zeichnet mögliche Szenarien

Ein Gespräch mit Politikwissenschaftler Marcel Dirsus über Putins Macht, den Mechanismus autoritärer Systeme – und warum Demokratisierung kein Zufallsprodukt ist.
23.07.2025, 18:3523.07.2025, 18:35
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Wer die Weltlage verstehen will, kommt an Wladimir Putin nicht vorbei – und an der Frage, wie lange sich seine Herrschaft noch halten kann. Der renommierte Autor und Experte für autoritäre Regime, Marcel Dirsus, hat dazu ein viel beachtetes Buch ("Wie Diktatoren stürzen") veröffentlicht. Watson hat mit ihm gesprochen – über die Anatomie der Macht, das Spiel mit Angst und Loyalität, und die Hoffnung auf Wandel.

Herr Dirsus, Putin inszeniert sich gern als allmächtiger Diktator. Inwiefern ist das ein Trugschluss?

Marcel Dirsus: Viele stellen sich Putin als autoritären Alleinherrscher vor, der völlig losgelöst von seinem Umfeld Entscheidungen trifft. Aber so funktioniert Macht nie, nicht einmal in einer Diktatur. Auch Putin braucht ein Netzwerk, um sich an der Macht zu halten: Geheimdienstler, Generäle, Berater und zum Teil Oligarchen. Das unterscheidet ihn von demokratischen Machthabern, die sich auf breite gesellschaftliche Unterstützung stützen müssen.

Russian President Vladimir Putin, left, chairs a meeting on education in the country with Deputy Prime Minister Dmitry Chernyshenko, second left, Education Minister Sergei Kravtsov, second right, and  ...
Der innere Kreis im Kreml könnte für Putin zum Problem werden.Bild: Pool Sputnik Kremlin / Mikhail Metzel

Und dieses Netzwerk ist loyal, aber nicht unbedingt ihm persönlich?

Genau. Die Eliten interessieren sich nicht primär für Putin als Person, sondern für das System, das ihnen Reichtum und Macht verschafft. Wenn sie den Eindruck gewinnen, dass er diese Rolle nicht mehr erfüllen kann, wenden sie sich womöglich ab. Putin wird irgendwann stürzen. Wann das passiert, kann ich nicht sagen.

Was wird Putin zu Fall bringen?

Es gibt viele mögliche Szenarien. Das wahrscheinlichste ist nicht der große Volksaufstand, sondern ein Bruch im inneren Zirkel. Dafür könnte schon reichen, dass Putin eine ernsthafte Herzkrankheit bekommt und das öffentlich würde.

Die größte Bedrohung für Diktatoren geht also nicht von außen aus, sondern von innen?

In den meisten Fällen. Die größte Gefahr für Diktatoren geht von den Leuten aus, die sie im Palast anlächeln. Der Apparat funktioniert, solange alle glauben, dass der Diktator alternativlos ist. Sobald aber der Eindruck entsteht, dass er fallen könnte, fällt er oft sehr schnell. Dann werfen sogar vermeintlich loyale Soldaten ihre Uniformen weg, wie wir es in Syrien gesehen haben. Und diese Bedrohung lässt sich nie ganz eliminieren, nur verschieben.

Wie genau funktioniert diese Verschiebung?

Diktatoren strukturieren ihre Sicherheitsapparate so, dass sich niemand sicher genug fühlt, um einen Putsch zu wagen. Statt nur einem starken Militär gibt es konkurrierende Milizen, Geheimdienste oder personalisierte Elitetruppen. Der Zweck ist nicht militärische Schlagkraft – sondern Machterhalt. Der russische Sicherheitsapparat ist primär gebaut, um Putin an der Macht zu halten.

Deshalb war Putins Armee zu Beginn des Ukraine-Kriegs womöglich auch so ineffektiv. Hat der Krieg seine Machtbasis geschwächt oder gestärkt?

Beides. Zu Beginn, als die Ukrainer militärische Erfolge erzielten, stand Putin wohl tatsächlich unter Druck. Es gibt historische Belege dafür, dass Diktatoren ihre Macht verlieren, wenn sie Kriege verlieren. Das war der Moment, in dem man im Westen nervös wurde: Was passiert, wenn Putin glaubt, alles zu verlieren? Würde er eskalieren?

19.05.2022, Ukraine, ---: Ein ukrainischer Soldat steht am 18.05.2022 in einem Haus in der Region Charkiw in der Ostukraine. Die St�dte am Stadtrand von Charkiw wurden befreit, nachdem die ukrainische ...
Innerhalb weniger Tage wollte Putin die Ukraine einnehmen, doch der Krieg dauert an. Bild: dpa / -

War es also politisches Kalkül, die Ukraine nicht militärisch gewinnen zu lassen?

Ich glaube, das war tatsächlich ein relevanter Faktor für einige Akteure. In Berlin etwa versuchte man anscheinend, einen Mittelweg zu finden. Denn wenn ein Diktator realisiert, dass ihm der Machtverlust droht, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er weiter eskaliert. Diese Sorge hat die westliche Unterstützung mitgeprägt. Die Ukraine wurde immer nur so weit unterstützt, dass sie nicht verliert – aber eben auch nicht so weit, dass Putin ernsthaft um seine Macht fürchten muss.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Diktatoren täglich Zielkonflikte ausbalancieren müssen.

Ja, Diktatoren stehen oft vor der Wahl zwischen Pest und Cholera. Sie haben selten gute Optionen – nur die am wenigsten schlechten. Das macht autoritäres Regieren zur Mischung aus Wissenschaft und Kunst.

Sie beschreiben Putin als jemanden, der verschiedene Machtzentren geschickt gegeneinander ausspielt. Können Sie das an einem aktuellen Beispiel zeigen?

Ein gutes Beispiel ist der Prigoschin-Aufstand. Putin hat erkannt, dass die Situation für ihn gefährlich ist – und hat nicht auf maximale Gewalt gesetzt, sondern versucht, die Krise kontrolliert zu entschärfen. Danach aber hat er ein klares Signal gesendet: So etwas wird nicht toleriert. Er verteilt Belohnung und Strafe, je nachdem, wie nützlich jemand fürs System ist.

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Prigoschin ist zwei Monate nach seiner Meuterei ums Leben gekommen.Bild: dpa / Ulf Mauder

Inwiefern hilft Putin das, was Sie als "Theater der Demokratie" bezeichnen?

Das russische Regime tut so, als gäbe es politische Konkurrenz, als gäbe es freie Medien. Aber das alles ist inszeniert. Eine simulierte Demokratie – nicht, um Menschen zu überzeugen, sondern um sie ruhig zu halten. Denn je mehr das System nach außen wie eine Demokratie aussieht, desto weniger Repression ist nötig. Das bedeutet weniger Kosten, weniger Risiko.

"Niemand geht auf die Straße, wenn die Konsequenz ein sibirisches Straflager sein kann."
Marcel Dirsus

Aber viele Russ:innen wissen doch, dass das alles nur Show ist.

Trotzdem funktioniert es. Denn man muss nicht alle überzeugen – man muss es nur so glaubhaft inszenieren, dass genug Menschen wegschauen. Das reicht oft.

Wir haben diese romantische Vorstellung: Wenn alle gleichzeitig aufstehen, kann das Regime nicht alle verhaften.

Friedliche Proteste sind die effektivste Art, eine Diktatur zu beenden. Der Vorteil: Man kann viele Menschen mobilisieren – auch Rentner oder Teenager. Kaum jemand geht auf die Straße, wenn die Konsequenz ein sibirisches Straflager sein kann.

ARCHIV - 28.01.2018, Russland, Moskau: Der russische Oppositionelle Alexej Nawalny nimmt an einem Protest gegen seinen Ausschluss von der Pr�sidentenwahl teil. Der russische Oppositionspolitiker Alexe ...
Alexej Nawalny gehörte zu den lautesten Stimmen gegen Putin in Russland.Bild: AP / Evgeny Feldman

Was würde passieren, wenn es doch gelingt?

Dann gerät das Regime in eine Zwickmühle: Es muss Gewalt anwenden, um die Straßen zu räumen. Das bringt oft noch mehr Menschen auf die Straße. Wenn sich Sicherheitskräfte dann weigern, die Befehle auszuführen, kollabieren Regime oft unter dem Gewicht ihrer eigenen Repression.

Könnte das auch in Russland passieren?

Theoretisch ja. Aber aktuell fehlt es an Organisation, Kommunikationskanälen und der Mobilisierungsstruktur. Außerdem gibt es in Teilen der Bevölkerung durchaus Unterstützung für den Krieg. Die größte Chance liegt wohl darin, dass der wirtschaftliche Druck steigt und die Lebensrealität der Menschen schlechter wird.

Und dennoch: Die wirklich entscheidende Front verläuft im Zirkel um Putin?

Absolut. Wer Putins System destabilisieren will, muss die Eliten treffen – zum Beispiel, indem man Russlands Einnahmen drastisch reduziert. Denn mit dem Geld kauft Putin Loyalität. Wenn er weniger davon verteilen kann, wird er verwundbar.

Angenommen, Putin fällt – was dann?

Dann kann im Grunde alles passieren, auch das liegt in der Natur von Autokratien. Eine florierende Demokratie ist aber eher unwahrscheinlich. Wenn personalistische Diktatoren wie Putin gestürzt werden, folgt meist eine neue Autokratie. Denn die Eliten, die unter dem alten Regime profitiert haben, wollen ihren Einfluss behalten – und sie haben kein Interesse daran, sich von unabhängigen Institutionen kontrollieren oder gar strafrechtlich verfolgen zu lassen.

Ein neues Russland – mit altem System?

Ja. Und das ist wichtig zu verstehen: Ein Machtwechsel bedeutet nicht automatisch Fortschritt. Aber selbst ein weniger aggressiver Autokrat könnte im Vergleich zum Status quo ein Gewinn sein.

Russian President Vladimir Putin, fifth right, gestures while speakin with Kyrgyz President Sadyr Japarov, fifth left, during their meeting at the Grand Kremlin Palace at the Kremlin in Moscow, Russia ...
Putin wirkt mächtig. Doch das System ist fragiler als es scheint.Bild: Pool Reuters / Maxim Shemetov

Wäre ein Putin-Nachfolger auch ohne demokratische Ambitionen ein Fortschritt für Europa, wenn er wenigstens den Krieg beendet?

Richtig. Unser zentrales sicherheitspolitisches Interesse ist nicht zwingend Demokratisierung – sondern ein Russland, das keinen Angriffskrieg mehr führt. Damit könnte man leben.

Autokratische Tendenzen nehmen aktuell scheinbar zu. Wie passt das mit Ihrer optimistischen Analyse zusammen?

Weil man den historischen Maßstab nicht aus den Augen verlieren darf. Vor 200 Jahren lebte praktisch niemand in einer Demokratie. Heute wissen Milliarden Menschen, wie Freiheit aussieht – und wie sie sich anfühlt. Diese Erfahrung verschwindet nicht einfach. Außerdem haben Demokratien einen strukturellen Vorteil: Ihre Regierungen müssen liefern. Weil sie sonst abgewählt werden. Diktatoren hingegen können die Bevölkerung anteilig ignorieren bzw. sogar auch gegen deren Bedürfnisse regieren. Auf lange Sicht ist das ein Nachteil. Der Trend zur Demokratie ist kein gerader Weg – aber er geht in die richtige Richtung.

Also überwiegt trotz aller Krisen langfristig die Hoffnung?

Ja. Menschen wollen frei sein. Sie wollen Einfluss darauf haben, wie sie regiert werden. Und das lässt sich nicht auf Dauer unterdrücken.

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