Als die ersten Hochrechnungen um 18 Uhr auf den Fluren im Stuttgarter Landtag über den Bildschirm flimmern, erklingen "Jawohl"-Rufe unter den FFP2-Masken, stoßen sie einander an den Ellenbogen: Es ist coronakonformes Jubeln. Mit 31 Prozent bleibt die Partei zwar etwas hinter den Ergebnissen der letzten Umfragen zurück. Trotzdem ist es ein Erfolg: Die Grünen können ihre Macht im Land ausbauen. Vor den Fraktionsräumen tummeln sich Dutzende Journalisten und Fotografen, deutlich mehr als bei den anderen Parteien. Pandemie-Abstandsregeln scheinen hier zeitweise ausgesetzt.
Bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg zeichnet sich eine klare Bestätigung des grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann ab – und ein Desaster für die CDU, die das Land jahrzehntelang politisch dominiert hatte. Laut den ersten Hochrechnungen kommen die Grünen auf 32,4 Prozent, die CDU nur noch auf etwas über 23. Die Grünen würden damit ihr Ergebnis der vergangenen Landtagswahl von 2016 bestätigen und sich um etwa zwei Prozentpunkte verbessern. Für die Christdemokraten ist es wohl das mit Abstand schlechteste Resultat der Geschichte im Bundesland mit der drittgrößten Bevölkerung. Sie verschlechtern sich im Vergleich zur bisherigen Tiefstmarke von 2016 noch einmal über drei Prozentpunkte.
Grünen-Landesparteichefin Sandra Detzer spricht in einem ersten Statement vom "stärksten Ergebnis der Grünen überhaupt", auch Landtagspräsidentin Muhterem Aras und Fraktionschef Andreas Schwarz wirken gelöst. Detzer vermeidet es zunächst, sich auf mögliche Koalitionen festzulegen. Das muss sie auch nicht. Die Grünen haben die CDU auf ganze acht Prozentpunkte distanziert und halten im Hinblick auf mögliche Koalitionsverhandlungen alle Trümpfe in der Hand.
Bei der CDU beginnen mit Bekanntwerden der ersten Prognose die Erklärungsversuche. Fest steht: Kultusministerin Susanne Eisenmann ist als Spitzenkandidatin gescheitert. Guido Wolf, Justizminister unter Grün-Schwarz und 2016 selbst Spitzenkandidat der CDU und Wahlverlierer gegen Kretschmann, spricht gegenüber t-online und watson von einem "schwierigen Wahlkampf, von Anfang an." Man habe aus der Bundespolitik "massiv Gegenwind" bekommen, durch die Maskenaffäre in der Unionsfraktion im Bundestag – aber auch durch die Fehler der Bundesregierung in der Corona-Politik: Wolf nennt das "Impfchaos", die "unsäglichen Debatten" über die Teststrategie – und der ständige Lockdown, der die Menschen zermürbe.
Aber es war natürlich auch ein Personalproblem, das wissen sie bei der CDU. Eisenmann hat als Spitzenkandidatin nicht gezündet, offensichtlich. Jemand aus der Landtagsfraktion sagt gegenüber t-online und watson wörtlich:
Kretschmann, der Landesvater, der auch vielen konservativen Schwaben und Badenern zusagt, hat es wieder gerissen. 71 Prozent der Bürger waren laut einer Befragung von infratest dimap mit seiner Arbeit zufrieden – nur 22 mit der von Eisenmann.
Eisenmann selbst will offensichtlich eines nicht: schönreden. Sie nennt das Ergebnis "desaströs". "Selbstverständlich übernehme ich die Verantwortung", sagt die amtierende Kultusministerin – ein Satz, der nach Niederlagen bei Landtagswahlen oft bedeutet, dass jemand seinen Job verliert. Die CDU müsse nun analysieren, "wieso man seit Jahren Schritt für Schritt in Baden-Württemberg schlechter geworden ist".
Die AfD, die aus der Wahl 2016 als stärkste Oppositionsfraktionen herausgegangen war, kann laut Hochrechnungen mit 10,1 Prozent rechnen. Damit liegt die Partei fünf Prozentpunkte unter dem Ergebnis von 2016: Bei der vergangenen Landtagswahl hatten die Rechtspopulisten über 15 Prozent erreicht, ihr bis heute stärkstes Ergebnis in einem westdeutschen Bundesland. Bundessprecher Jörg Meuthen tritt um 18:05 Uhr vor die Kameras. Er bemüht sich, den Dämpfer als "Konsolidierung auf hohem Niveau" darzustellen. Die AfD habe einen Wahlkampf unter schwersten Bedingungen geführt, so Meuthen mit Hinweis auf das Ansinnen des Verfassungsschutzes, die AfD als Verdachtsfall zu führen. Seine Partei sei eine feste Größe in den Landesparlamenten, ergänzt er noch. Fest steht: Der Höhenflug der AfD ist auch in Baden-Württemberg vorbei, auf die Euphorie von 2016 folgt erst einmal Ernüchterung.
Die SPD holt erneut ein schlechtes Ergebnis: 11,6 Prozent laut Hochrechnungen, das wäre noch einmal ein knapper Prozentpunkt weniger als 2016. Auch für die Sozialdemokraten wäre es, wie für die CDU, das schlechteste Ergebnis der Geschichte. Die Volksparteien der alten Bundesrepublik schrumpfen weiter, auch in Baden-Württemberg. Und trotzdem könnte die SPD Teil einer wichtigen Wendung in Baden-Württemberg sein – die zumindest manche Sozialdemokraten glücklich macht.
Denn von Baden-Württemberg könnte in den Stunden und Tagen nach der Wahl ein Signal für eine Ampelkoalition ausgehen, für ein Bündnis aus Grünen, FDP und SPD. In Rheinland-Pfalz regieren die drei Parteien ja schon seit 2016 zusammen, es klappt dort recht gut. Wäre das auch etwas für den Bund? Man kann SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil und den Kanzlerkandidaten Olaf Scholz so verstehen, wenn man ihre Statements am Wahlabend anhört. Klingbeil sagt, die SPD stehe in Baden-Württemberg bereit für eine Regierung. Und Scholz sagt in der ARD: "Es ist ein guter Tag, weil er auch zeigt, dass Regierungsbildung ohne die CDU möglich ist in Deutschland."
Die FDP verbessert sich laut der Prognose auf 10,4 Prozent und legt damit zwei Prozentpunkte zu. Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke sieht darin einen Regierungsauftrag, wie er auf dem Flur des Landtags sagt. "Wir sind die Partei, die am meisten hinzugewonnen hat." Man sei bereit, zu regieren. Die Grünen seien klarer Wahlsieger. "Wenn ein Gesprächsangebot kommt, wollen wir das ausloten", sagt Rülke. Vor fünf Jahren hatte er eine Regierungsbeteiligung unter den Grünen ausgeschlossen. Warum die Kehrtwende? "Die Grünen haben sich bei wesentlichen Punkten bewegt, so etwa beim Verbrennungsmotor", lässt der Fraktionschef wissen. Das habe man wohlwollend zur Kenntnis genommen. An der FDP dürfte eine Koalition mit den Grünen und ohne die CDU wohl nicht scheitern.
Die CDU in Baden-Württemberg will das verhindern, auch das hört man an diesem Abend in Stuttgart sehr deutlich. Der ehemalige Spitzenkandidat Wolf meint gegenüber t-online und watson: "Der Ball liegt jetzt bei Herrn Kretschmann." Er sagt das zweimal. Ein prominenter CDU-Abgeordneter meint gegenüber Journalisten in Richtung des Ministerpräsidenten: "Warum soll er in eine Dreierkoalition gehen, wenn er eine Zweierkoalition haben kann?" Er ergänzt: "Klimaschutz ist doch mit uns kein Problem." Es klingt wie eine laute Bitte an den Regierungschef. Und das in dem Bundesland, das die CDU zwei Jahrzehnte lang mit absoluter Mehrheit regiert hat.