Janine Wissler (links) strahlt, Susanne Hennig-Wellsow lächelt: Mit ihrem Gesichtsausdruck kommentieren die beiden neuen Parteichefinnen ihr Wahlergebnis. Bild: ap / Bernd von Jutrczenka
Analyse
Der Streit bleibt offen, Rot-Rot-Grün wird weniger wahrscheinlich: Fünf Erkenntnisse aus dem Linken-Parteitag
Was die neuen Parteichefinnen Wissler und Hennig-Wellsow wollen, was junge Linken-Politiker jetzt fordern – und wie sich Gregor Gysi vor zwei Dragqueens an der Imbissbude gemacht hat.
Die Linken sind mit ihrem digitalen Parteitag in Berlin ins Jahr der Bundestagswahl gestartet – mit einer Premiere in der deutschen Parteiengeschichte und mit einer ersten Botschaft an Grüne und SPD.
Die Premiere war die – von allen Beobachtern erwartete – Wahl von Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow zu den neuen Parteivorsitzenden. Damit ist die Linke die erste im Bundestag vertretene Partei überhaupt, die von zwei Frauen geführt wird.
Die Botschaft an Grüne und Sozialdemokraten steckte in den Ergebnissen, mit denen die Delegierten Wissler und Hennig-Wellsow in ihr Amt gewählt haben. Und in Reden, die die neuen Chefinnen und andere Delegierte auf diesem ersten vollständig digitalen Parteitag der Linken-Geschichte über den Linken-Livestream versendet haben.
Fünf Erkenntnisse, die von diesem Parteitag bleiben.
Wissler bekommt mehr Rückenwind als Hennig-Willsow
Satte 84 Prozent im Rücken: Für eine Linken-Vorsitzende hat Janine Wissler ein ziemlich starkes Ergebnis erhalten. Bild: ap / Tobias Schwarz
Es gibt eine klare Gewinnerin nach der Wahl für beiden Vorsitzendenposten bei der Linkspartei: Janine Wissler. Die 39-jährige Vorsitzende der Linksfraktion im hessischen Landtag wurde am Samstagvormittag mit 84,2 Prozent der abgegebenen Stimmen zur Chefin gewählt. Wissler, die selbst in Hessen 2008 schon einmal an Regierungsverhandlungen mit SPD und Grünen beteiligt war, gilt parteiintern als Rot-Rot-Grün-Skeptikerin: Sie gibt sich als weniger bereit als andere Linken-Politiker, Kompromisse zu machen, um die Partei in eine Bundesregierung zu führen.
In ihrer Bewerbungsrede für den Vorsitz positionierte sich Wissler nicht explizit zu einer Regierungsbeteiligung. Sie ließ aber einige Schlagwörter fallen, die radikal Linken gefallen: "Systemwechsel", "Klassenpolitik" und "Enteignung". Wissler zitierte den Slogan "System Change, not Climate Change", den die Klimaschutzbewegung Fridays for Future (FFF) seit Monaten verwendet. Und sie sprach am Ende ein leicht abgewandeltes Zitat der linksradikalen Sponti-Bewegung aus den 1970er-Jahren aus: "Es geht nicht um ein größeres Stück vom Kuchen, es geht um die Bäckerei. Es geht ums Ganze."
Susanne Hennig-Wellsow im Februar 2020, nachdem sie dem FDP-Politiker Thomas Kemmerich im thüringischen Landtag Blumen vor die Füße geworfen hatte. Bild: reuters / HANNIBAL HANSCHKE
Hennig-Wellsow – die im Februar 2020 bundesweit bekannt wurde, weil sie dem frisch mit Stimmen der AfD gewählten thüringischen Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich einen Blumenstrauß vor die Füße warf – startet dagegen mit einem schwächeren Ergebnis in den Job: Sie bekam nur 70,5 Prozent der Stimmen. Die Linken-Fraktionschefin im Landtag von Thüringen – wo die Partei ja seit 2014 mit dem moderaten Bodo Ramelow den ersten Ministerpräsidenten stellt – hatte zwei Gegenkandidaten. Einer davon, der Rot-Rot-Grün-Skeptiker Reimar Pflanz, bekam fast 20 Prozent der Stimmen.
Hennig-Wellsow hatte sich in ihrer Bewerbung eindeutig für eine Regierungsbeteiligung positioniert. "Lasst uns nicht mehr warten! Die Menschen haben keine Zeit, auf uns zu warten", sagte sie in ihrer Rede, die sie ohne Manuskript und neben dem Rednerpult stehend hielt. Sie warb dafür, CDU und CSU aus der Bundesregierung zu "vertreiben" – und ergänzte: "Ob Schwarz-Grün kommt oder Rot-Rot-Grün, liegt auch an uns."
Rot-Rot-Grün ist eher weniger wahrscheinlich geworden
Wollen wir nach Möglichkeit rein in die Bundesregierung oder eher nicht? Das ist überhaupt eine der zwei wichtigsten Streitfragen, die momentan die Linkspartei bewegen. Sie entzweit nicht nur die beiden neuen Chefinnen, sondern die ganze Partei. Und an diesem Parteitag sind eher die Gegner einer Koalition mit SPD und Grünen stärker geworden.
Das liegt zum einen am deutlich stärkeren Wahlergebnis der Regierungsskeptikerin Wissler. Aber dafür spricht auch, wie viele der aus ihren Küchen, Wohn- und Arbeitszimmern oer Videocall zugeschaltete Delegierten auf diesem digitalen Parteitag radikale Positionen geäußert haben. Da war die Delegierte, die am Freitag die Sicherheitspolitik der Nato-Staaten mit einem mittelalterlichen Kreuzzug verglich. Und mehrere andere Redebeiträge, in denen die USA immer nur als die Bösen vorkamen und Russland, China und Iran als unschuldige Opfer westlicher Aggression. Das sind Statements, die sogar den Linken freundlich gesinnte Sozialdemokraten und Grüne wie Saskia Esken oder Anton Hofreiter abschrecken.
Abschied vor der Videowand: die scheidende Parteichefin Katja Kipping nach ihrer letzten Rede als Linken-Vorsitzende.Bild: ap / Tobias Schwarz
Da war der Bundestagsabgeordnete Tobias Pflüger, der sich lautstark und mit energischen Gesten für den Abzug der Bundeswehr aus allen Auslandseinsätzen aussprach. Pflüger wurde wenig später gegen seinen als Rot-Rot-Grün-Befürworter bekannten Fraktionskollegen Matthias Höhn zum Parteivize gewählt. Höhn hatte sich zuvor für eine deutsche Beteiligung an UNO-Blauhelmeinsätzen ausgesprochen – und dagegen, Menschenrechtsverletzungen in Staaten wie Russland, China oder Venezuela zu verschweigen oder kleinzureden, wie es ein Teil der Mitglieder wie der Abgeordneten der Linken tut.
Und etwas Anderes macht – außerhalb des Parteitags – Rot-Rot-Grün momentan wenig wahrscheinlich: die für die Linken schmerzhaften Umfragewerte. Die Partei liegt zwischen sechs und acht Prozent, deutlich unter den 9,2 Prozent bei der Wahl 2017. Zusammen mit SPD und Grünen würde das nach aktuellem Stand für nur gut 40 Prozent reichen. Das aktuelle ZDF-Politbarometer zeigt außerdem: nur zwei Prozent der Befragten sagen, dass die Linken die richtigen Antworten auf die Corona-Krise haben. Das ist der schlechteste Wert aller im Bundestag vertretenen Parteien.
Der Wind kann sich bis zur Wahl am 26. September aber auch wieder in Richtung Rot-Rot-Grün drehen: Innerhalb der Linken spricht dafür, dass sich auf dem Parteitag prominente Vertreter wie Bundestagsfraktionschef Dietmar Bartsch und die scheidende Parteichefin Katja Kipping leidenschaftlich für eine Regierungsbeteiligung aussprachen. Und besonders eine Personalie lässt die Rot-Rot-Grün-Befürworter hoffen: die Berliner Landesvorsitzende Katina Schubert, die auf dem Parteitag mit 52,5 Prozent zu einer der stellvertretenden Vorsitzenden gewählt worden ist.
Ein junger Linken-Politiker, der für Regierungsbeteiligungen eher offen ist, sagte dazu am Rande des Parteitags gegenüber watson, Schuberts Wahl sei ein "eher gutes" Signal. Sie sei nämlich ein "Aushängeschild" der Linken-Beteiligung an der Berliner Landesregierung.
Um Grünen-Wähler oder AfD-Wähler kämpfen? Der Konflikt bleibt offen
Die zweite Streitfrage, an der die Linken besonders seit 2015 knabbern, dem Jahr, als die Flüchtlingskrise Deutschland voll erreichte: Soll die Partei um Wähler werben, die zur AfD abgewandert sind – oder vor allem den Grünen Konkurrenz machen?
In dem Zwist hatten sich jahrelang Parteichefin Kipping und Sahra Wagenknecht, bis 2019 Fraktionschefin im Bundestag, Sätze wie Giftpfeile entgegengeworfen: Kipping warb für eine Politik der offenen Grenzen für Asylsuchende, Wagenknecht für eine Begrenzung der Migration. Die Kippingler warfen den Wagenknechtlern vor, in der Migrationspolitik rechte Rhetorik zu benutzen und Jugendbewegungen wie Fridays for Future und Black Lives Matter abzustoßen. Die Wagenknecht-Fans beschuldigten die Kipping-Fraktion, nur auf urbane Hipster und wohlhabende Linksliberale zu schauen – und Arbeiter, prekär Beschäftigte und allgemein Menschen auf dem Land und in Kleinstädten zu vergessen.
Der Konflikt bleibt nach dem Parteitag offen. Zum einen bekannte sich die Parteitagsregie ebenso wie die neue Co-Parteichefin Wissler zu Fridays for Future. In einer Pause während der Abstimmung für den Parteivorsitz wurde eine freundliche wie kämpferische Video-Grußbotschaft der Fridays-for-Future-Aktivisten Maximilian Reimers und Line Niedeggen (die im Dezember im watson-Interview die Grünen attackiert hatte) ausgestrahlt. FFF-Sprecherin Niedeggen rief die Linken-Delegierten auf, gemeinsam den "fossilen Kapitalismus" zu überwinden.
Amira Mohamed Ali, Fraktionschefin der Linken im Bundestag, bei ihrer Rede auf dem Parteitag. Bild: www.imago-images.de / Sepp Spiegl
Zum anderen warnte Amira Mohamed Ali – Wagenknechts Nachfolgerin und Dietmar Bartschs Kollegin als Fraktionsschefin im Bundestag – in ihrer Rede davor, Menschen, die in prekären Verhältnissen leben, zu vernachlässigen. Mohamed Ali sagte, der Daumen dieser Menschen gehe für die Linken "eher nicht nach oben, wenn wir uns pauschal gegen Autos positionieren".
Und Sahra Wagenknecht, die seit Wochen (unter anderem in einem watson-Interview) gegen Fridays for Future stichelt und für eine striktere Migrationspolitik wirbt, bleibt populär, innerhalb der Partei wie außerhalb.
Die Linksjugend fordert einen Mitgliederentscheid über Regierungsbeteiligung
Die Linksjugend, die von der Partei anerkannte Jugendorganisation, hatte vor dem Parteitag gegenüber watson kritisiert, dass in der Partei zu wenige junge Menschen zur Bundestagswahl antreten. Am Rande des Parteitags forderte jetzt Maximilian Schulz, einer von acht Linksjugend-Bundessprechern, dass die Partei möglichst bald klärt, wie sie zu Rot-Rot-Grün im Bund steht.
Maximilian Schulz, Bundessprecher der Linksjugend. foto: Nino Mujic ARTS
Wörtlich meinte Schulz:
"Als Linksjugend freuen wir uns über die relativ junge und vor allem erste weibliche Doppelspitze unserer Geschichte. Susanne und Janine haben in ihren Reden deutlich gemacht, dass wir für die kommende Zeit unsere Kräfte bündeln und Verantwortung übernehmen müssen. Ob diese Verantwortung in einer möglichen Regierungsbeteiligung verwirklicht gehört, sollte aus unserer Sicht nach Mitgliederentscheid und internen Debatten entschieden werden. So oder so: Wir erwarten von den neuen Vorsitzenden, dass sie den Laden auf einen konstruktiven Kurs bringen. Die Zeit für Selbstbespaßung ist vorbei."
Die Linke ist besonders lebendig – und manchmal kurios
Die Linke mit ihren (Stand Ende 2020) über 60.000 Mitgliedern ist eine besonders streitlustige, lebendige Partei. Das wurde auch unter den schweren Bedingungen der Corona-Schutzmaßnahmen deutlich.
Klar, manche der per Videokonferenz-Tool ausgesprochenen Anträge und Statements auf dem Parteitag kamen wegen langsamer Internetverbindungen ins Stocken. Dadurch wirkte die Inszenierung viel weniger glatt inszeniert als beim digitalen CDU-Parteitag im Januar. Aber andererseits kamen auch deutlich mehr Linken-Mitglieder aus den heimischen Wohnungen zu Wort: Sie trugen kleine Referate über "rebellisches Regieren" oder den "sozialökologischen Umbau" vor – und katapultierten unablässig "GO-Anträge" nach Berlin, Anträge zur Änderung der Geschäftsordnung.
Seine ironische Frustration darüber brachte ein Twitter-Nutzer am Sonntag in diesem Tweet zum Ausdruck:
Am Freitagabend, Bundestagsfraktionschef Dietmar Bartsch hatte gerade geredet, schwenkte die Parteitagsregie dann auf Bartschs Vorgänger Gregor Gysi, der vor einer Imbissbude in dem Berliner Kongresszentrum stand, in dem der Parteitag abgehalten wurde. An der Bude bedienten zwei Dragqueens. Davor Gysi, der minutenlang über den neuen US-Präsidenten Joe Biden redete, die deutsch-russische Erdgaspipeline Nordstream 2 verteidigte und sagte: "Wollen wir jetzt wirklich einen Krieg mit Russland, oder was?" Das war dann noch ein bisschen kurioser als alle Video-Statements aus dem Home-Office.
Gregor Gysi im Parteitags-Talk an der Imbissbude. bild: screenshot youtube
Ukraine-Krieg: Russland droht wegen Kriegskosten Rezession
Seit mehr als zwei Jahren führt Russland einen Großangriff gegen die Ukraine aus. Die westlichen Sanktionen gegen den Kreml wurden immer wieder als "nutzlos" kritisiert. Kreml-Chef Wladimir Putin stellte das Land auf Kriegswirtschaft um, damit konnte er die Sanktionen weitgehend abfedern.